6. April 2009

Geschrieben, wie es aus dem Herzen kam

In der Buchreihe „Erzählte Lebensgeschichte“ des niederösterreichischen Verlages „Edition Weinviertel“ ist im Jahr 2008 ein, bezüglich Inhalt und Stil beachtenswertes, Erinnerungsbuch erschienen. Es sind die Erinnerungen der Siebenbürgerin Margarethe Kaiser geb. Bertleff (geb. 1936) aus Klein-Bistritz (Nordsiebenbürgen). Erinnerungen an ihre Kindheit in jenem Dorf und ihr Schicksal und das ihrer Familie nach der Flucht im Jahr 1944 bis zum Eintritt der Erzählerin ins Berufsleben als Dienstmädchen im Jahre 1950 in Linz.
In diesen zeitlichen Rahmen fallen das Fluchtgeschehen im Treck der Gemeinde Klein-Bistritz, deren Rückführung aus dem nördlichen Weinviertel ins kommunistische Rumänien, das Leben in der fremdgewordenen Heimat als geduldete Mittel -und Rechtlose, ein zweiter Fluchtversuch der Großfamilie im Jahre 1946 mit monatelangem Versprengtsein zweier Kinder (elf und neun Jahre), deren neuerliche Rückführung nach Klein-Bistritz, ihr Leben dort im Schutz von Zigeunerfamilien und schließlich ein neuerlicher Fluchtversuch der Kinder „zum Vater“.

Nach dem zufälligen Zusammenfinden der Familie folgt die Fortsetzung der Flucht. Durch erfolgreiche illegale Grenzübertritte nach Ungarn und Österreich kommt es zu einem kurzen Verbleib im Burgenland (1947). Nach einem weiteren illegalen Überschreiten der US-Zonengrenze (1948) findet der geografische Leidensweg der Familie Bertleff (Dorfname Senndrefer) mit dem Eintreffen beim – aus dem Militärdienst nach Oberösterreich entlassenen – Vater endlich sein Ende und es beginnt ein neuer Lebensabschnitt des leidgeprüften Flüchtlingsmädchens.

In diesem, für viele Nordsiebenbürger Sachsen jener Generation typischen und in den Heimatbüchern ihrer Gemeinden eingehend dokumentierten, historischen Rahmen führt die in Ich-Form erzählende Hauptperson den Leser über 220 Seiten lang detailreich durch die an Dramatik und Tragik kaum zu überbietenden Geschehnisse ihres Lebens und dem ihrer Großfamilie (elf Personen in drei Generationen). Sie lässt ihn teilhaben an der Vorstellungs-, Empfindungs- und Leidenswelt eines sächsischen Dorfkindes. Wie rote Fäden ziehen sich die Beziehungen des Kindes zu den Eltern, Groß -und Urgroßeltern, dessen steter Dialog mit Gott, das Gebet um seine (oft ausbleibende) Hilfe, die Sehnsucht des Kindes Liebe zu geben und zu empfangen, die Suche nach Geborgenheit sowie die Verantwortung für den um zwei Jahre jüngeren Bruder durch die Erzählung. Sie verleihen dem Buch eine ganz besondere Note. Als eigene durchgängige Erzählungslinie ist die gedankliche Annäherung der Tochter an den, wegen des Militärdienstes bei der Waffen-SS, abwesenden Vater erkennbar. Zu diesem hat sich 1946 der noch lebende Teil der Großfamilie aufgemacht und sich damit auf einen leidensvollen Weg nach Westen begeben.

Kindliche Erklärungsversuche für das Kriegsgeschehen (z.B. Tieffliegerangriffe auf den Treck) und die erlittenen kollektiven Erniedrigungen und Beschimpfungen im Heimatdorf sowie die gedanklichen Auseinandersetzungen des kleinen Mädchens mit den gängigen Begriffen jener Zeit wie: „Krieg“, „Front“, „Schuld“, „Hitler“, „Führer“, „Faschist“ oder „Flüchtlingsgesindel“ vermitteln eine unerwartete Tiefe.

Beim Lesen der aufrichtigen Beschreibung von Gefühlen, von Freude und Liebe, Schmerz und Enttäuschung, Angst, Hunger und Entbehrung kann man sich der dichterischen Kraft des Textes nicht entziehen. Man fragt sich als Leser unwillkürlich, woher diese leidgeprüften Menschen die Kraft nahmen, unter Hunger und Lebensangst hunderte von Kilometern zu Fuß zurückzulegen und, trotz Verletzungen und Erniedrigungen, zu Lebensbejahung und Seelenfrieden zu finden. Das Flüchtlingsmädchen antwortet darauf, indem es den Glauben an Gott, die Liebe und den Familienzusammenhalt in den Mittelpunkt seines Lebens stellt.

Der Verlag ist mit diesem authentischen, „aus dem Herzen geschriebenen“ Text und seinem vielschichtigen Inhalt sorgsam umgegangen. Unter Beibehaltung der zwei Originalniederschriften des von Frau Kaiser in ihrem sechsten Lebensjahrzehnt begonnenen Manuskriptes wird die chronologische, emotionelle Fassung (160 Seiten) mit erklärenden Detailschilderungen einzelner Geschehnisse (82 Seiten) verknüpft. Fotos und sachliche Aussagen über den Heimatort und die Flucht sind unter Quellenangabe dem „Heimatbuch Klein-Bistritz“ von Johann und Michael Brandscher (Nürnberg 1994, Schriftenreihe der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung, Band 11) entnommen (S. 15). Eine verdichtete historische Information unterrichtet den Leser über Siebenbürgen (S. 14). (Bei der Angabe der „Zahl der Siebenbürger Sachsen heute“ sollte es hier allerdings richtig „rund 15 000“ statt 150 000 heißen).

In seinem Vorwort weist der Verlagsleiter auf die im Lebensweg der Autorin anfallenden Sinnfragen über Gewalt, Vernichtung, Zerstörung, Schuld, Mitschuld und Schuldlosigkeit hin und stellt dadurch die Erinnerungen an Krieg -und Nachkriegszeit in einen größeren, aktuellen Zusammenhang. Ich wünsche dem lehrreichen Buch einen großen Leserkreis.

Dr. Fritz Frank

Margaretha Kaiser: „Nur ein Flüchtlingsmädchen...“ Die Geschichte unserer Vertreibung aus Siebenbürgen, Verlag „Edition Weinviertel“, 2008, Reihe: Erzählte Lebensgeschichte, 222 Seiten, Preis: 15,00 Euro, ISBN 978-3-901616-75-4.- Zu beziehen über den Buchhandel oder direkt beim Verlag „Edition Weinviertel“, Hauptstraße 47, A-3482 Gösing, Telefon und Fax: (+43) 2738-8760; E-Mail: office [ät] edition-weinviertel.at.

Schlagwörter: Rezension, Flucht und Vertreibung, Nordsiebenbürgen

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