18. März 2022

Humanist und Königsrichter von Hermannstadt: Historische Dokumentation der Tagebuchaufzeichnungen von Johannes Lutsch

Die gefühlte und gelebte Verwurzelung mit der Heimat zieht sich wie ein wertvolles Band durch die ganze Geschichte der Siebenbürger Sachsen, verbindet zeitübergreifend Generationen und sollte deshalb in ihrem geschichtlichen Zusammenhang anerkannt und geachtet werden. In diesem Sinn lohnt es sich jederzeit, einen Blick auf die Vergangenheit mit ihren übermittelten Werten zu werfen, die Menschen anerkennend, die sie erfolgreich gestaltet und geprägt haben. Die unermüdlichen Historiker verbreiten wertvolles Zeitwissen, ohne es für eine Bereicherung durch die Entdeckung immer neuer Quellen einzugrenzen. Niemals können menschliche Erfahrungen so wirklichkeitsgetreu verstanden und nachempfunden werden wie aus der Lektüre eines Tagebuchs, der ehrlichsten aller Niederschriften, ein in chronologischer Abfolge verfasstes Selbstzeugnis einer erlebten Zeit mit Offenlegung ihrer subjektiv empfundenen Höhen und Tiefen.
Die imposante Persönlichkeit von Johannes Lutsch (1607-1661), dem einstmaligen Stadtrat und Bürgermeister von Hermannstadt, Königsrichter und Graf der sächsischen Nation, als heimatverbundenen Hermannstädter anhand seines hinterlassenen Diariums hier vorzustellen ist ein geschichtlich bedeutendes Anliegen, das durch die Historiker Cristina und Costin Feneșan anhand ihrer Veröffentlichung „Johannes Lutsch – Tagebuch seiner Gefangenschaft in Istanbul (1658-1661)“ ins Scheinwerferlicht gerückt wurde, umso mehr, da dieses geschichtlich-literarische Kleinod durch seine im Band enthaltene deutsch-rumänische Übersetzung und umfangreiche, akkurate und verzweigte historische Dokumentation dem Leser einen genauen Einblick in das Leben und Wirken des großen Humanisten Johannes Lutsch und in die dramatische Erfahrung seiner Gefangenschaft in Istanbul bietet.

Cristina und Costin Feneșan zeichnen durch ihre „Einleitende Studie“ (bisher leider nur in rumänischer Sprache) den ganzheitlichen geschichtlichen Zusammenhang jener Zeit, erinnern an die Spannungen der damaligen siebenbürgischen Zerrissenheit zwischen den Machtstreitigkeiten des ungarischen Kaiserreichs und der Hohen Türkischen Pforte, dokumentarisch belegt durch historische und Tagebuchaufzeichnungen der damaligen Chronisten. Dabei wird vor allem auf deren Einflussnahme in die siebenbürgisch-sächsischen Lebensbereiche und gesell- schaftlichen Abhängigkeiten ein Akzent gesetzt. Geschehnisse wie Kriege, Hungersnot und Epidemien prägten das damalige Leben auf äußerst dramatische Weise und bereiten einen verständnisvollen Rahmen für die auf diesen Buchteil folgenden Aufzeichnungen des Hermannstädter Gefangenen in der Türkei. Laut Cristina und Costin Feneșan stellen die vielen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestehenden Tagebuchaufzeichnungen eine Symbiose zwischen den Beobachtungen und Meinungen ihrer Autoren und den von Zeitzeugen und aus mündlicher Überlieferung erhaltenen Nachrichten dar. Die höhere Bildung, die auch Georg Kraus, der Notar von Schäßburg und Zeitgenosse von Lutsch, genießen konnte, war eine unumgängliche Voraussetzung für den gesellschaftlichen und politischen Aufstieg in die höheren Ränge der politischen sächsischen Autoritäten, wurde jedoch – wie im Weiteren des Buches verständlich wird – Johannes Lutsch zum Verhängnis. Es stellt sich auch heraus, dass die lückenhaften Einträge seines Tagebuchs, der unterschiedlich dichten Berichterstattung darin, dank der Chronik von Georg Kraus aufgefüllt und in einen glaubhaften logischen Zusammenhang gebracht werden konnten.

Unterstützend für das Verständnis des überlieferten Zeitdokuments ist auf jeden Fall der sehr ausführlich dokumentierte biographische Teil des Buches, der Johannes Lutsch als bedeutenden Repräsentanten sowohl seiner Heimat als auch der Siebenbürgisch-Sächsischen Universität vorstellt. Dabei fällt die Betonung der Autoren auf ihn als einen, der „nicht nur mit Ehrenhaftigkeit und tiefem Glauben der ethnischen Gemeinschaft und Hermannstadt, sondern auch seinem Land, dem Fürstentum Transsylvanien, diente“. Man lernt Johannes Lutsch auf seinem Bildungsweg und seinen akademischen Wanderungen kreuz und quer durch die damaligen kulturellen Hochburgen Europas, von Wien, Tübingen, Marburg, Regensburg bis Straßburg und Augsburg, kennen und ihn als hohen Würdenträger seiner Heimat, der ein ehrenhaftes und tiefgläubiges Leben führt, bewundern. Außer seiner Verbannung in die türkische Gefangenschaft durch den Fürsten Barcsay, wohin er zuerst als einer von drei Boten gesandt war, hat ihm das Leben auch familiär durch den Verlust zweier Ehefrauen und zweier Söhne viel Leid auferlegt. Die politischen Unruhen jener Zeit, die das Leben Siebenbürgens und seiner sächsischen Bevölkerung auf harte Proben stellten und durch die Machtkämpfe des Fürsten Rakoczy und seine Belagerung Hermannstadts im Januar 1660 einen tragischen Höhepunkt erreichten, bilden durch ihre gesamtheitliche Einbindung in die Biographie von Johannes Lutsch einen Empathie weckenden Hintergrund, vor dem sich dann die im Tagebuch mit überwältigender Anschaulichkeit, Genauigkeit und Gefühlstiefe festgehaltene Gefangenschaftserfahrung im Laufe der mal mehr, mal weniger ereignis- und gefahrenreichen Zeit zwischen 1658 und 1661 abspielen wird. Diese Zeitspanne umschließt im Kern die leidvolle Erfahrung von Johannes Lutsch in seinem von Geiselhaft zu Gefangenschaft wechselnden Aufenthalt unter türkischer Herrschaft, ein Schicksal, dem er aufgrund der nicht eingehaltenen Strafgeldzahlung seiner Landesväter zur Befreiung Siebenbürgens von der Herrschaft der Türken zum Opfer fiel und vor seiner Befreiung von der Pest dahingerafft wurde. Seine Zuversicht und sein Vertrauen in die Sachsenführer seiner 21 Jahre lang treu gedienten Heimatstadt, die er auf seinem selbst gewählten Botengang mit Würde und Verhandlungsgeschick vor den Feinden verteidigen wollte, scheitern unumgänglich an der zunehmenden Erschwernis seiner aufgezwungenen Lebenslage in der Fremde, wo Besorgnis, Angst und Zweifel an einem guten Ausgang immer häufiger seine Einträge verdüstern und seine Anspannung mit großer Ausdruckskraft wiedergeben.

Cristina und Costin Feneșans Wertschätzung für den uneingeschränkten persönlichen Einsatz und die Hervorhebung der vollständigen Identifikation von Johannes Lutsch mit den Interessen und Schwierigkeiten der sächsischen Nation verleihen seiner im Vorspann mit zeitgeschichtlichen Verknüpfungen bereicherten und in damalige Gegebenheiten gebetteten Biographie das Niveau einer Charakterstudie, die das Interesse für die Lektüre des Tagebuchs aufbaut. Wir lernen ihn hier und in seinem Tagebuch als einen, der es „aufrichtig und redlich gemeinet“ hat, kennen, treu seiner Heimat und sich selbst.

Die Begegnung mit der türkischen Kultur ist für Lutsch ein zwiespältiges Ereignis. Es ist teils geprägt von Hochachtung für die fremden Riten, Bräuche, die er anfangs als gefühlter Gast, später als Gefangener, mit dem Bewusstsein der Gefahr, in der er sich befindet, wahrnimmt, seiner jeweiligen Stimmung entsprechend, und erlebt mit Unverständnis und Abneigung, sogar mit einer für die damalige Zeit typischen religiös motivierten Verachtung für die türkisch-islamische Welt und ihren Glauben. Es wechseln in spannender Darstellung Momente erwähnter Grausamkeiten der Gefangenschaft mit Sinne verwirrenden exotischen Eindrücken. Darum mutet in ­seinen Ausführungen die häufige Widersprüchlichkeit in der detaillierten Beschreibung islamischer Gepflogenheiten etwas befremdend an. Nichtsdestotrotz empfindet er Wertschätzung und Dankbarkeit für die ihm helfenden Menschen jedweder Nation auf seinem Leidensweg in der Fremde, sein Charakter und seine Bildung gebieten ihm ein ehrenhaftes und standhaftes Auftreten und Verhalten in jeder Umgebung. „Die 15. praesentis schencket mir ein Türck eine Pomeranz, so in diesem lauffenden Jahr geblühet, und war schön gelb und reif.“ Mit Lob und Bewunderung werden Bilder und Eindrücke der durchreisten Städte, sei es im Inland (Temeswar, Weißenburg) oder im Ausland (Sofia, Belgrad) in gewählten Worten wiedergegeben.

Es ist das besonders zu schätzende Verdienst von Cristina und Costin Feneșan, durch dieses geschichtlich wertvolle Buch die Bedeutung von Johannes Lutsch, dem Königsrichter von Hermannstadt, der in jahrelanger Gefangenschaft für die Befreiung seiner Heimat gelitten und sein Leben geopfert hat, als prägnante Persönlichkeit für Hermannstadt und Siebenbürgen auch für die rumänische Geschichtsforschung und -schreibung, die untrennbar mit der Geschichte der Siebenbürger Sachsen verflochten sind, zugänglich gemacht zu haben.

Abgesehen von der Verfassung in der damals gebräuchlichen und heute nicht immer verständlichen und regional geprägten Sprache ist das Tagebuch auch vom literarischen Standpunkt auf einem sprachlich hohen Niveau, sowohl durch seine subjektiv emotionale Ausdruckskraft als auch durch die objektiven, fast filmischen Beschreibungen von miterlebten türkischen Zeremonien, dem wertvollen Prunk am Königshof, der vor dem Auge des Lesers eine bunte exotische Welt entstehen lässt. Auch Joachim Wittstock hat u. a. dieser Besonderheit des Tagebuchs in seiner Schrift „Literarische Aspekte“ seine Bewunderung gezollt. Geographische Besonderheiten, Klimaverhältnisse, Erdbebenbetroffenheit, Sonnenfinsternis, Wegbeschreibungen u. v. m. erfahren bildhafte Beschreibung und vermitteln den Eintragungen von Johannes Lutsch einen Wert, der die Eigenschaft eines gewöhnlichen Tagebuchs unabdingbar übertrifft. Wie viel Sensibilität und Poesie liegen in der Beschreibung seines ersten Eindrucks beim Anblick des Meeres in Konstantinopel. Mit überschwänglicher Begeisterung vertraut der Hermannstädter Humanist seinem Tagebuch seine Faszination über das bauliche und künstlerische Darstellungsbild der Hagia Sophia an, wie sie genauer kaum beschrieben werden könnte. Wie beeindruckend sind sein Aufruf und sein Flehen, sowohl in seinem Tagebuch als auch in seinen unbeantworteten Briefen an die Landesväter, die er in Verzweiflung und im wachsenden Bewusstsein der Aussichtslosigkeit seiner Rettung an die nicht greifbare, doch für ihn vielversprechende Kraft Gottes richtet und die zusammen mit wenigen historischen Bildern dieses einzigartige Buch abschließen.

Johannes Lutsch reiht sich mit seinem Leben, Wirken und Opfer mit Sicherheit in die Reihe der nennenswerten Persönlichkeiten der Hermannstädter Geschichte ein. Er war seiner Heimat immer in vorbildlicher Rechtschaffenheit verbunden, hat für sie gelebt, ist für sie gestorben. Er hat alle seine Fähigkeiten für sie eingesetzt und ist der versäumten Erkenntnis historischer Notwendigkeiten durch die Obrigkeiten seiner Zeit zum Opfer gefallen. Es gibt keinen besseren Beweis für seine Heimatverbundenheit als sein mit wenig Glück und viel Leid geschriebenes Tagebuch. Aus obigen Gründen liegt die Empfehlung nahe, ihn auch in das Siebenbürgisch-Sächsische Lexikon aufzunehmen. Der Dank für die Verbreitung dieses wichtigen Wissensbruchteils sowohl aus der Geschichte Hermannstadts als auch jener Siebenbürgens und Rumäniens gebührt den beiden Autoren, den Historikern Cristina und Costin Feneșan.

Brigitte Kräch


Cristina und Costin Feneșan: „Johannes Lutsch – Tagebuch seiner Gefangenschaft in Istanbul (1658-1661)“, Verlag EDITURA DE VEST, Temeswar/Timișoara 2006, 335 Seiten, ISBN (10) 973-36-0423-2. Bei Interesse an diesem Buch bitte sich an Prof. Costin Feneșan, E-Mail: costinfenesan[ät]yahoo.com, zu wenden.

Schlagwörter: Buch, Geschichte, Tagebuch, Hermannstadt, Politik

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