8. Juli 2012

Der Spitzel als moralisches Problem

Der Fall des Dichters Oskar Pastior sorgt nachhaltig für Diskussionen. Seit bekannt wurde, dass auch er als IM für den rumänischen Geheimdienst Securitate tätig war, steht die heikle Frage im Raum, ob nicht bestimmte Spitzel nachsichtiger beurteilt werden müssten als andere. Eine Tagung der Pastior-Stiftung im Literaturhaus Berlin am 23. Juni (diese Zeitung berichtete) gab Dr. Sabina Kienlechner Anlass, sich dem Spitzelwesen von moralphilosophischer Seite zu nähern. Ihr Vortrag wird gekürzt wiedergegeben.
Tatsächlich kann es für Spitzel gar kein anderes Urteil geben als ein moralisches. Denn wir haben es mit einem „Delikt“ zu tun, das im rechtlichen Sinn keines ist: geheimdienstliche Mitarbeit ist ja keineswegs verboten. Dementsprechend kann es dafür auch keine Gerichtsurteile geben. In den allermeisten Prozessen, die mit Spitzelangelegenheiten befasst sind, werden nur Persönlichkeitsrechte verhandelt; das Unrecht, das Täter getan und Opfer erlitten haben, kommt in ihnen nicht vor.

Das Spitzeln ruft bei den meisten Menschen ein Gefühl der Empörung hervor, das wir spontan als gerecht empfinden. Aber es ist gar nicht leicht, objektive Gründe für diese gerechte Empörung zu finden. Der nächstliegende Grund für die Verurteilung eines Spitzels ist, dass er seinen Opfern schadet. Wie in gerichtlichen gilt aber auch in moralischen Urteilen, dass der Schaden im Detail nachgewiesen werden muss. Spitzel in aller Welt pflegen im Nachhinein zu beteuern, sie seien stets darauf bedacht gewesen, nur harmloses, nichtssagendes Zeug zu berichten: und obwohl das Gegenteil evident ist, können sie in den meisten Fällen darauf bauen, dass niemand es ihnen nachweisen kann.

Ein weiteres Argument, das wir gegen Spitzel vorbringen, ist mangelnde Solidarität. Sie ist in der Tat ein moralisches Vergehen, aber sie wird nicht sehr streng geahndet. In den seltenen Fällen, in denen ein ehemaliger Spitzel sich selbst outet (wie z.B. im Jahr 2009 der ebenfalls rumäniendeutsche Dichter Werner Söllner), kann er eigentlich damit rechnen, gelobt, bewundert, ja umarmt zu werden. Denn unsere Gesellschaft schätzt offenbar einen bereuenden Spitzel moralisch höher ein als einen, der nie ein Spitzel und stets solidarisch war. Gleichwohl lehrt die Erfahrung, dass mildernde Umstände selbst dort, wo sie berechtigterweise eingebracht werden (wie vielleicht bei Oskar Pastior), noch keinen dauerhaft vor dem Odium des Verräters bewahren konnten.

Werner Söllner gab zu seiner Entschuldigung an, er sei „zu schwach“ gewesen, um sich gegen die Securitate zur Wehr zu setzen. Schwäche wird in der Regel mit Nachsicht behandelt. Die Nachsicht hört jedoch auf, wenn hinter der Schwäche ein handfestes Eigeninteresse vermutet wird. Handelt der Spitzel aus Eigennutz – um sich z.B. Vorteile für die eigene Karriere zu verschaffen –, wird dies als charakterlos und niederträchtig bezeichnet. Aber es ist doch bemerkenswert: nur in einem totalitären System bzw. einer Diktatur verurteilen wir ein solches Handeln. In der freien Marktwirtschaft ist Eigennutz ein positiver Faktor, der grundsätzlich ins Kalkül miteinbezogen wird, und die Niedertracht entfällt. Natürlich kommt es stets auf die Umstände an – aber wir müssen doch immer erst erklären, weshalb der Eigennutz in dem einen Fall verwerflich ist und im anderen nicht. Das machen sich viele Spitzel zunutze: sie berufen sich gerade auf die besonderen Umstände und finden in jedem Fall ein paar gute Gründe für ihr taktisches Verhalten.

Kurz: obwohl jeder der Vorwürfe ein wichtiges Moment bezeichnet, reicht doch keiner hin, um eine moralische Verurteilung der Spitzel zu begründen. Denn es gibt immer Gegenargumente, die nur schwer oder gar nicht widerlegt werden können. Aber die genannten Vorwürfe weisen doch auf das entscheidende Prinzip hin, das von den Spitzeln nachhaltig verletzt wird: nämlich das Prinzip der Gleichheit. Gemeint ist nicht (wie von den Egalitarismus-Gegnern oft fälschlicherweise vermutet) die Gleichheit des Besitzes und der Güterverteilung – diese ist ein besonderes Problem –, sondern vielmehr das Prinzip, dass alle Menschen ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit hinsichtlich ihrer Grundrechte gleich sind.

Die Gleichheit ist Voraussetzung für jede menschliche Praxis. Daß wir die Gleichheit bezüglich unserer Rechte im alltäglichen Umgang miteinander ständig einfordern und voraussetzen, läßt sich an vielen Dingen zeigen: nirgends aber so deutlich wie am Beispiel des Wissens. Gleichheit bedeutet auch Gleichheit des Wissens. Nicht Wissen im Sinne von Bildung (auch das ist ein besonderes Problem), sondern im Sinne von Information, oder besser noch: von Bescheid wissen. Dieses wiederum ist Voraussetzung für das vielleicht wichtigste Grundrecht des einzelnen, nämlich für sich urteilen und entscheiden zu können. Kein Mensch kann es ertragen, wenn andere um ihn herum etwas wissen, wovon er ausgeschlossen ist. Es ist ein höchst beunruhigender Zustand, der sofort Mißtrauen schafft. Der vom Wissen Ausgeschlossene ist in seinen Handlungen blockiert. Schlimmer noch ist es, wenn er gar nicht weiß, daß ihm etwas Wichtiges verschwiegen wird; dann handelt er unter falschen Voraussetzungen, und es ist vorhersehbar, dass er früher oder später in die Irre läuft.

Gleichheit ist nicht ein erstrebenswertes, letztlich „unerreichbares“ Ideal, wie es manchmal heißt, sie ist vielmehr die Normalität. Nicht um sie einzuhalten, sondern um von ihr abzuweichen, bedarf es der Anstrengung. Wo die Gleichheit verletzt wird, macht sich das sofort bemerkbar, sie drängt sich dann förmlich ins Bewusstsein; während sie meist unbemerkt bleibt, solange wir sie selbstverständlich walten lassen. Deshalb glauben wir jenen IMs kein Wort, die heute behaupten, sie hätten damals ihren Opfern nicht geschadet. Selbst wenn es so wäre, bedeutet doch jedes Verschweigen von wichtigen Informationen eine Erniedrigung und beraubt die Opfer ihrer Rechte. Nichts Geringeres ist den Spitzeln von damals vorzuwerfen. Sie haben nicht nur „beigetragen“ und der Diktatur geholfen, die Opfer zu entrechten, sondern sie haben sie ganz persönlich entrechtet und in ihrer Freiheit beschnitten.

Es ist ohne weiteres möglich, dass Menschen auch privat sich ihrer Grundrechte berauben, das ist nicht ein Vorrecht von Behörden. Es geschieht immer dann, wenn das Interesse an Macht und Willkür die Gleichheit zerstört. Jemand Informationen willentlich vorzuenthalten, ist sicherlich die subtilste und effektivste Methode, um ihn meiner Willkür zu unterwerfen. Solange ich jemand vor mir habe, der ebenso viel weiß wie ich, ist es schwer, ihn zu entrechten, ich muss dann schon zu grober Gewalt und offener Brutalität greifen. Wenn ich ihn dagegen im Dunkeln lasse über etwas, das ihn und sein Leben angeht, steht er von vorn herein auf eine lautlose Weise in meiner Macht.

Wenn aber einer eine Weile in Unkenntnis über die wahren Sachverhalte leben musste, so wird er das nicht mehr los. Die unschlüssige, zweifelhafte Spanne in seinem Leben ist auch Jahrzehnte später noch unvermindert spürbar wie ein finsterer Knoten, ein Widerstand, der danach drängt, wahrheitsgemäß aufgelöst zu werden. Wahrheitsgemäss heißt: den Fakten entsprechend. Dieser Aspekt gerät im Eifer der politischen und literarischen Diskussionen leicht ins Hintertreffen: dass es nicht nur darum geht, Täter und Opfer zu sondieren, sondern fast mehr noch darum, die Unklarheiten der Biographien endlich zu beseitigen.

Die faktische Wirklichkeit aber muss erst durchgesetzt werden, sie ist nicht selbstverständlich. Wir haben uns in der westlichen Gesellschaft vor Zeiten eine hypertrophe Kultur der Innerlichkeit und Subjektivität angewöhnt, die uns glauben macht, dass das, was wir innerlich fühlen und erleben, entscheidender sei als das Faktische, Äußere – also so wie die „gefühlte“ Kälte wichtiger ist als die tatsächlich gemessene, so ist die „gefühlte“ Misshandlung schon ausreichend, um misshandelt zu sein, die „gefühlte“ Folter, um gefoltert zu sein, die „gefühlte“ Securitate usw. Aber das ist ein großer Irrtum. Es ist vielmehr für jede Kommunikation unabdingbar, dass wir uns unmissverständlich auf etwas beziehen können. Die Gespräche müssen keineswegs aufhören, wenn wir Ereignisse unterschiedlich erleben und beurteilen. Aber sie kommen bestimmt zum Erliegen, wenn wir uns nicht darüber einig sind, was wirklich geschehen ist.

Die Rekonstruktion der Wirklichkeit ist wichtiger als das moralische Urteilen. Mit ihrer Hilfe wird sich herausstellen, ob wir noch fähig sind zu unterscheiden zwischen einem für die mediale Verbreitung eingeübten Auftrumpfen – und einer der Aufklärung dienlichen praktischen Vernunft.

Sabina Kienlechner


Die Langfassung des Vortrags erscheint im November 2012 in einem Sonderband der Zeitschrift „Text + Kritik“, der die Pastior-Tagung vom 23. Juni 2012 dokumentiert.

Schlagwörter: Vortrag, Oskar Pastior, Securitate, Tagung

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