16. Februar 2017

Urzelnlauf in Agnetheln

Es war ein besonderer Urzelnlauf in diesem Jahr in Agnetheln: Zur Feier des zehnjährigen ­Jubiläums des rumänischen Vereins „Breasla lolelor“ sind auch die sächsischen Zunftgenossen aus Deutschland wieder angereist. 2006 war der sächsische Brauch, der 1990 nach der Auswanderungswelle zum Erliegen gekommen war, von einer kleinen Gruppe Agnethler Schüler unter Anleitung ihres Lehrers Bogdan Pătru wiederbelebt worden. Zur Überraschung aller war die „Fuga lolelor“ 2007 zusammen mit vielen Urzeln aus Deutschland ein Riesenerfolg, so dass Ende des Jahres 2007 die Urzelnzunft „Breasla lolelor“ in Agnetheln gegründet wurde.
Über 300 zottelige Wesen zogen am 29. Januar peitschenknallend gemeinsam in Richtung Zentrum. Warum jede Urzel eine Nummer trägt, erklärt Doris Hutter, Stellvertretende Bundesvorsitzende und Kulturreferentin der HOG Agnetheln, die mit 40 Urzeln aus Deutschland, mehrheitlich aus Sachsenheim (Baden-Württemberg), und Nürnberg angereist war: damit der Urheber identifizierbar ist, falls doch jemand einen Hieb abbekommt. Denn nur von innen kann man durch die bemalten Drahtmasken sehen – von außen ist das Gesicht nicht erkennbar. Der Anzug mit schwarzen Filzzotteln besetzt, dazu ein ebensolches Tuch, ein bodenlanger Hanfzopf, eine riesige Kuhschelle, in der einen Hand eine lederne Geißel, die andere Hand streckt Kindern die Quetsche hin, in der Krapfen stecken: So präsentiert sich ein Urzel, ob Mann, Frau oder Kind. Das Besondere aber ist die Maske, umrahmt vom Fell eines Tieres, oft noch mit Schwanz, Pfötchen oder Kopf daran, manchmal auch mit Hörnern verziert.
„Hirräii!“ Beim diesjährigen Urzelnlauf („Fuga ...
„Hirräii!“ Beim diesjährigen Urzelnlauf („Fuga lolelor“) in Agnetheln feierte die Urzelnzunft „Breasla lolelor“ ihr zehnjähriges Bestehen. Foto: George Dumitriu
Während die Sachsen ihre traditionell bemalten Masken tragen, lassen sich Rumänen zunehmend von Figuren aus Film und Fernsehen inspirieren, beobachtet Doris Hutter. Peitschen knallen, Rätschen schnarren ohrenbetäubend zum unermüdlichen Schellen. Dann und wann zerreißt ein kraftvolles „Hirräii!“ die Luft: Fort mit dem Winter! Weg mit der Kälte! Ab mit den bösen Geistern!

Einst Beschützer der Zunftlade

Der Urzelnlauf zum Winter- und Geisteraustreiben kennt auch die Legende der tapferen Ursula, die im Mittelalter die wochenlange Belagerung der Kirchenburg Agnetheln durch die Türken beendet haben soll. Grässlich verkleidet und peitschenknallend soll sie aus der Kirchenburg hinausgestürmt sein – man hielt sie in den Reihen der Belagerer für den Leibhaftigen und floh entsetzt. Historisch ist der sächsische Brauch jedoch mit dem Zunftwesen in Verbindung zu bringen: 1689 wird der Mummenschanz der Zünfte in Agnetheln erstmals erwähnt. Die Urzeln beschützten die Zunftlade der Gesellenbruderschaften, die vom alten auf den neu gewählten Gesellenvater, auch „junger Zunftmeister“ genannt, in einer feierlichen Parade übergeben wurde. Ab 1911 gab es eine Parade mehrerer Zünfte, wo das Forttragen der Lade durch Symbolfiguren der Zünfte ergänzt wurde: Der Reifenschwinger steht dabei für die Fassbinder, das Rössel mit dem kleinen Reiter für die Riemner, das Schneiderrössl mit Mummerl für die Schneider, die Krone mit ausgestopften Füchsen und Mardern sowie der Bär mit seinem Treiber für die Kürschner. Die Erinnerung an diesen Zunftbrauch ist auch nach dessen Auflösung erhalten geblieben. Auch der weltweit älteste Fastnachtszug in Nürnberg, seit 1397 urkundlich belegt, geht auf die Zünfte zurück.

Längst sind die Urzeln aus Agnetheln fester Bestandteil auch des Faschingstreibens in Deutschland, freut sich Urzeldame Doris Hutter. 1965 hatten ausgewanderte Agnethler erstmals den Urzelnlauf in Sachsenheim gezeigt. Heute sind sie Mitglied der Schwäbisch-Alemannischen Narrenzunft. Inzwischen reisen auch immer mehr aus Agnetheln stammende Sachsen nach Sachsenheim zum Urzelnlauf an. Oder gründen selbst Urzeln-Hochburgen, die eigene Umzüge organisieren: Traunreut, Geretsried, Herzogenaurach, Nürnberg, Weisendorf, Bonn und Heidenheim.
Die Urzelnzunft Sachsenheim bereicherte durch ...
Die Urzelnzunft Sachsenheim bereicherte durch ihre Teilnahme den Urzelnlauf in Agnetheln. Foto: George Dumitriu
Vor dem Rathaus in Agnetheln wird Halt gemacht für die Ansprachen, die Aufführung von Kunststücken, das gemeinsame Singen des Siebenbürgenliedes, dessen Text sich die rumänischen Urzeln auf die Quetsche geklebt haben. Doris Hutter bringt in ihrer Ansprache – auf Rumänisch und in Gedichtform – treffend auf den Punkt: „Was unsere Vorfahren mit Lärm ausdrücken wollten, was man austreiben muss: böse Geister. Wir treiben heute, mit euch an eurem Jubiläum, alle möglichen Geister aus! Damit uns ein freundschaftlicher Geist verbindet, der die gemeinsame Pflege dieses Brauches noch mehr festigt. – Von so etwas lebt Europa.“

Urzelnlauf auch in Großschenk – erstmals nach 25 Jahren

Am Samstag, den 28. Januar, einen Tag vor dem Umzug in Agnetheln, liefen die Urzeln erstmals seit 25 Jahren auch in Großschenk wieder. Organisiert von Michael Gottschling und Martin Mertensacker versetzten etwa 50 Zottelgestalten den Ort in Ausnahmezustand. Von einem zum Festwagen umgestalteten Traktor aus wurde das Narrengericht abgehalten. Dabei erinnerte man an Fehler, Missgeschicke und Peinlichkeiten, die Wochen vorher unter strengster Geheimhaltung gesammelt und in Gedichtform lustig verpackt wurden. Die Masken der Großschenker Urzeln hatte Uwe Boghean in seiner Heimwerkstatt gefertigt. Auch Kostüme nähte er aus Altkleidern - „andere fanden sie auf den Dachböden ihrer Häuser, zurückgelassen von den Sachsen“, erzählt er. Seine Mutter Marietta Boghean kann sich noch an den Brauch von früher erinnern: „Damals durften wir Kinder nicht auf die Gasse, wegen der Peitsche. Außerdem hatten wir Angst vor den Urzeln!“, gesteht sie. „Wir haben ihnen die Krapfen nur aus dem Fenster gereicht.“ Anders als in Agnetheln verteilen die Urzeln in Großschenk keine Krapfen, sondern erhalten selbst welche. Auch Eier werden gegeben und in der Zunftlade gebunkert. Am Nachmittag versammelte man sich auf dem Platz vor dem Kulturhaus, wo die Zunftgenossen aus Deutschland auf dem Weg von Hermannstadt nach Agnetheln Station machten und eine Aufführung darboten.

Nina May

Schlagwörter: Urzeln, Urzelnlauf, Agnetheln, Urzelnzunft Sachsenheim, Doris Hutter

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