16. Januar 2024

800 Jahre Andreanum: Seminar in Bad Kissingen über den Goldenen Freibrief und die Siebenbürger Sachsen

Der 1224 von König Andreas II. von Ungarn verliehene „Goldene Freibrief“ (das Andreanum) gilt als das umfassendste Privileg, das westlichen Gastsiedlern im südöstlichen Mitteleuropa verliehen wurde, und galt für die Siebenbürger Sachsen als Grundgesetz bis ins 19. Jahrhundert hinein. Das 800-jährige Jubiläum der Urkunde wird daher mit einer Reihe von Veranstaltungen begangen. Den Auftakt machte das Wochenendseminar vom 1. bis 3. Dezember 2023 im „Heiligenhof“ in Bad Kissingen. Hochkarätige Referentinnen und Referenten beleuchteten an diesem Wochenende die historischen Zusammenhänge zum Andreanischen Freibrief von 1224 und dessen nachhaltige Bedeutung für die Siebenbürger Sachsen, sowohl politischer und ökonomischer als auch kultureller Art.
Durch die Vermählung des ungarischen Prinzen ...
Durch die Vermählung des ungarischen Prinzen Stephan mit der bayerischen Prinzessin Gisela wurde die Umwandlung Ungarns zu einem christlichen Königreich besiegelt, das, dem Wunsch des im Jahr 1000 gekrönten Königs Stephan I. der Heilige entsprechend, ein „Gastland“ für westliche Siedler wie die Siebenbürger Sachsen wurde. Gisela und Stephan, Standbild von József Ispánky auf der Burg von Veszprém, der Europäischen Kulturhauptstadt 2023. Foto: Wikipedia Commons
Zum sehr gut besuchten Seminar fanden sich neben vielen historisch interessierten Teilnehmern aus Deutschland auch Studentinnen und Studenten der Germanistik aus Budapest, Klausenburg und Veszprém, in Begleitung einiger Dozenten, ein.

Nach kurzer Einführung in das Seminarthema durch den Studienleiter der Bildungsstätte Heiligenhof, Gustav Binder, stimmte Astrid Ziegler, Historikerin und Stadtführerin aus München, die Anwesenden schon am Vorabend mit ihrem Vortrag „Dynastische Beziehungen im Mittelalter: Die bayerische Prinzessin Gisela und König Stephan von Ungarn“ ein. Sie beleuchtete die Zeit, die über 200 Jahre vor dem Goldenen Freibrief lag, in der durch die Gründung des christlichen Königreichs Ungarn im Jahr 1000 die Voraussetzungen dafür geschaffen wurden und welche Rolle Gisela dabei zuteilwurde. Im Jahr 995 wurde die Schwester des späteren römisch-deutschen Kaisers Heinrich II., die zehnjährige Gisela, samt Hofstaat donauabwärts geschickt. Die aus bestem Hause stammende Herzogstochter war mit den wichtigsten Dynastien des römisch-deutschen Reiches verwandt. Nach der Thronbesteigung Stephans erfolgte eine Neuorientierung seines Herrschaftsgebiets nach dem Vorbild der christlichen europäischen Monarchien.

Es geht, wie im Verlauf des Vortrags gezeigt wurde, um ein bedeutendes Netzwerk, das hinter dem zukünftigen Königspaar stand. Gisela spiele bei der Entstehung des christlichen Königreichs Ungarn eine wichtige Rolle. Mit ihr setzte auch eine erste Einwanderungswelle aus Bayern, aber auch aus anderen Gegenden des Reiches nach Ungarn, ein. Dabei wurde untersucht, inwieweit sie kulturellen Austausch brachte und auch zur Konsolidierung des neuen Königreichs beitrug. In der Geschichte Ungarns ist nämlich die bayerische Gisela heute eine fixe Größe. Als Statue verewigt, wurde sie unter anderem in Szeged, Nagymaros und nicht zuletzt in Veszprém, der „Europäischen Kulturhauptstadt“ 2023. In diesem Sinne ist es wichtig, sich an eine Zeit zu erinnern, in der Ungarn auch und vor allem dank einer Prinzessin aus Bayern den Anschluss an Europa fand, ohne seine eigene Identität aufzugeben.

Ausgehend von den historischen Aspekten um die erste Jahrtausendwende im neuen Königreich Ungarn, die Astrid Ziegler hier ausführlich darlegte, sollten dann ab Samstag eine Reihe von Vorträgen rund um die Gründe für den Goldenen Freibrief, den Inhalt und dessen Auswirkungen folgen.
Bestätigung des „Goldenen Freibriefs“ von Andreas ...
Bestätigung des „Goldenen Freibriefs“ von Andreas II. (1224) durch König Karl I. Robert (1317). Quelle: Staatsarchiv Hermannstadt www.arhivamedievala.ro)
„Zur Herkunftsfrage und Datierung der Auswanderung der nachmaligen Siebenbürger Sachsen“ referierte Hon.-Prof. Dr. Konrad Gündisch, Historiker aus München. Zunächst schilderte er die allgemeine politische Lage in Ungarn im 12. Jahrhundert und die Notwendigkeit, „Gäste“ ins Königreich zu rufen, um die Wirtschaft zu entwickeln und die Landesverteidigung zu gewährleisten. Diese vom Staatsgründer Stephan I. der Heilige initiierte Politik setzte insbesondere Geisa/Géza II. (1141-1162) um, indem er dem König gehörende Gebiete in der Zips (heute in der Slowakei) und in Siebenbürgen (heute in Rumänien) an westliche Siedler vergab und ihnen verschiedene Privilegien versprach, die dann von Andreas II. (1205-1235) in dem „Goldenen Freibrief der Siebenbürger Sachsen“ bestätigt worden sind. Dieser sei wegen seiner großen Bedeutung für die künftige Entwicklung dieser Gruppe Goldes wert gewesen, die Urkunde selber sei aber mit dem üblichen roten Wachssiegel des Königs, nicht mit einer Goldenen Bulle, authentifiziert worden.

Der Referent sprach danach die Frage der Herkunft der Siedler an, zu deren Klärung wegen fehlender Quellen die Historiker, Archäologen, Kirchenhistoriker, Sprachwissenschaftler und Siedlungsforscher nicht mit unumstößlichen Ergebnissen beitragen konnten. Sicher sei nur, dass sie aus unterschiedlichen Gebieten des damals sehr ausgedehnten Heiligen Römischen Reichs gekommen sind, viele aus dem Rhein-Moselgebiet, und zwar Deutsche, Wallonen und Flamen, die in der neuen Heimat aufgrund ihrer Rechtslage zur Gruppe der Siebenbürger Sachsen zusammengewachsen sind. Kurz ging Gündisch auf ältere Thesen zur Herkunft der Siebenbürger Sachsen ein, so auf die Goten-Geten-Daken-Theorie, die auf Philipp Melanchthon zurückgeht und von Albert Huet, Johannes Tröster, Lorenz Töppelt und anderen aufgegriffen und verbreitet wurde.

Dem nächsten Thema „Die Jubiläen 1991 und 2024. Was können wir feiern?“ widmete sich ebenfalls Gündisch. Einführend wies er auf die berühmte Festrede hin, die Prof. Dr. Harald Zimmermann anlässlich der 850-Jahr-Feier der Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen 1991 in der Frankfurter Paulskirche mit der provozierenden Feststellung eingeleitet hatte: „Vielleicht feiern wir falsch, in falscher Art, zu falscher Zeit, am falschen Ort!“ Gündisch bekräftigte die Feststellung Zimmermanns, man habe damals richtig gefeiert, denn 1141, im Jahr des Regierungsantritts von Geisa II., seien die politischen Bedingungen für eine Ansiedlung von Siedlern aus dem Römisch-Deutschen Reich günstig gewesen. Allerdings kämen auch die Jahre 1148 oder 1158 in Frage. Zur Datierung des „Andreanums“ wies Gündisch darauf hin, dass man die 800. Wiederkehr der Privilegierung aufgrund der Angaben in der Urkunde „Gegeben im 1224. Jahr nach der Menschwerdung des Herrn, im 21. Jahr unseres Königtums“ präzisieren könne, da Andreas II. seine Regierungszeit ab dem 30. November 1204 zählte, sein 21. Herrscherjahr ab dem 30. November 1224, und dass das Neue Jahr im Mittelalter mit dem Weihnachtstag begann, dass demnach der „Goldene Freibrief“ vermutlich zwischen dem 30. November und dem 24. Dezember 1224 ausgestellt wurde. Die Bedeutung dieser Urkunde sei unstrittig: Bereits der Göttinger Gelehrte August Ludwig Schlözer habe am Ende des 18. Jahrhunderts geurteilt, die Siebenbürger Sachsen hätten „diesem alten Pergament ihr ganzes politisches Daseyn, und ihr ganzes ökonomisches Wolseyn, zu danken.“ Ähnlich habe der bedeutende Wissenschaftler Karl Kurt Klein festgestellt: „Aus dem Andreanum ist das siebenbürgisch-deutsche Volk erwachsen.“ Der Referent schlussfolgerte, man feiere auch die 800 Jahre „Andreanum“ richtig und stellte abschließend fest: „An der Art und Weise, wie ihre im „Andreanum” bestätigten Freiheiten geachtet wurden, maßen die Siebenbürger Sachsen ihre Regierenden. Die völlige Missachtung der Freiheit in der Zeit der kommunistischen Diktatur löste die Bande zu dem Staat und den Wunsch aus, ihre Freiheit woanders zu suchen und zu finden.“
Die Verwaltungsgliederung Siebenbürgens im ...
Die Verwaltungsgliederung Siebenbürgens im Mittelalter und in der Neuzeit. Gelb markiert: die Gebiete, in denen das Andreanum bis 1876 gültig war. Quelle: Wikipedia Commons
Ein weiteres Jubiläum war noch im Gedächtnis. Zum „Deutschen Orden – ein international tätiger geistlicher Ritterorden“, der 2011 eingehend gewürdigt wurde („800 Jahre Deutscher Orden im Burzenland“ – auf der Jahrestagung des Landeskundevereins, beim Sachsentreffen in Kronstadt, mit einer Ausstellung in Dinkelsbühl) referierte der Historiker und Archivar Dr. Martin Armgart aus Speyer. Die nach 14 Jahren beendete Anwesenheit des Deutschen Ordens im Burzenland ist bis heute im allgemeinen Gedenken präsent: der Deutsche Orden als Anlass für den ungarischen König, die sächsischen Siedler durch großzügige Privilegien auf seiner Seite zu halten. Der von Konrad Gündisch herausgegebene Tagungsband ist als „Generalprobe Burzenland“ betitelt.

Anderswo, im zweiten Anlauf, wurde dann verwirklicht, was den Deutschen Orden in der allgemeinen Geschichtsschreibung präsent gemacht hat, was sich auch heute in bundesdeutschen Schulbüchern findet: die Ausbildung eines „Ordensstaates“ im späteren Ost- und Westpreußen ab 1230, bald danach in „Livland“, in den heutigen baltischen Staaten Lettland und Estland. Hocheffizient in Wirtschaft und Verwaltung, verfügte der Orden dank seiner militärischen Kraft im 14. Jahrhundert über eine regionale Vormacht im Ostseeraum. Im 16. Jahrhundert entstanden daraus evangelisch geprägte Territorien. Doch war der Ordensstaat an der Ostsee (und seine Generalprobe im Burzenland) nur eines von mehreren parallelen Tätigkeitsfeldern des international tätigen Ritterordens. Gegründet wurde er 1190 auf dem Dritten Kreuzzug, von deutschen Kreuzfahrern, die mit Friedrich Barbarossa aufgebrochen waren. Zunächst war er ein Hospitalorden, versorgte deutschsprachige Kranke und Pilger. Bereits 1197 nahm er zusätzlich Ritterbrüder auf, ähnlich dem älteren geistlichen Ritterorden der Johanniter. Bis zum allgemeinen Verlust des Heiligen Landes 1291 (lange nach dem Ende im Burzenland) blieb der Orden dort aktiv. Daneben baute er ein Netz von Ordenshäusern insbesondere in den staufisch geprägten Ländern auf, als Wirtschafts- und Rekrutierungsraum, durch Zuwendungen für den Ordenszweck. Nördlich der Alpen hatte er über hundert Ordenshäuser (Kommenden), viele ursprünglich durch seine karitative Tätigkeit. So erhielt er die Burg Horneck oberhalb von Gundelsheim als Dank für die Versorgung und wundersame Heilung des lahmen Sohns des Burgherrn; im Rathaus der Stadt Gundelsheim erinnert die Kopie einer Altartafel (Tryptichon) daran. Der Deutsche Orden übernahm das Spital der heiligen Elisabeth in Marburg. Auf ihn zurück gehen auch das Deutsche Eck in Koblenz, das Deutschhaus in Mainz, heute Tagungsort des rheinland-pfälzischen Landtages, das Schloss auf der Insel Mainau oder die große Schlossanlage in Bad Mergentheim, die Residenz des frühneuzeitlichen Hoch- und Deutschmeisters. All dieses wurde 1801/06 von Napoleon zugunsten den neuen Landesherren enteignet (säkularisiert). Der Deutsche Orden konnte in den habsburgischen Ländern fortbestehen. Sein Haupthaus befindet sich nun in Wien, nahe beim Stephansdom. Ritterbrüder wurden nach 1919 nicht mehr aufgenommen. Heute besteht der Deutsche Orden aus Priesterbrüdern, Ordensschwestern und dem Orden verbundenen Laien (Familiaren), nach 1945 auch wieder in Deutschland. International tätig ist er insbesondere in Südtirol, Österreich, Tschechien und Deutschland. Aus Deutschland stammt auch der gegenwärtige Hochmeister, der Saarländer Frank Bayard.

Nach dem gemeinsamen Mittagessen rückte der Goldene Freibrief des Königs Andreas II., dessen älteste Bestätigung in Originalschrift von 1317 durch König Karl I. vorliegt, konkreter in den Fokus. Der Literaturwissenschaftler Kende Varga (Pannonische Universität, Veszprém) nahm in seinem Vortrag „Was steht im Andreanum?“ den Inhalt des Freibriefes und seine Folgen aus unterschiedlichen Perspektiven detailliert unter die Lupe, darüber hinaus wurden einige wesentliche Textstellen hervorgehoben und erklärt. Einleitend thematisierte der Referent die Vorgeschichte des „Andreanum“: Die wichtigsten Ereignisse im 12. bzw. 13. Jahrhundert, die bei der Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen identitätsstiftend erschienen, wie z.B. die Gründung der Hermannstädter Propstei oder die Tätigkeit der sog. Gräven (Grafen) in der Gerichtsbarkeit. Anschließend wurden ausgewählte Passagen (z.B. Bezüge auf die Handelsverkehr-/ Zollfreiheit, sowie auf die freie Wahl der Richter oder die Bestimmung des Geltungsbereiches des Goldenen Freibriefs) in Form eines „Close Readings“ mit Einbezug der anwesenden Studierenden und der Teilnehmenden behandelt. Zudem wurden anhand des Textes einige charakteristische Merkmale der damaligen sächsischen Gesellschaft herausgehoben.

Aufgrund extremer winterlicher Witterungsverhältnisse und einer dadurch kaum möglichen Anreise aus Ungarn erfolgte der nachfolgende Vortrag online. Prof. Dr. Attila Verók, Historiker aus Erlau/Eger, ging der Frage auf den Grund: „Ist alles Gold, was glänzt? Die Bedeutung des Goldenen Freibriefs für die Kultur der Siebenbürger Sachsen“. Zum Andreanischen Freibrief, der bis ins 19. Jahrhundert die rechtliche Unabhängigkeit, wirtschaftliche und politische Stabilität der Siebenbürger Sachsen, also ausgewogene Bedingungen für ihre Entwicklung geschaffen hatte, präsentierte Verók eine summarische wissenschaftlich-literarische Inventur vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Kultur im Allgemeinen nur bei Stabilität gedeiht. Der Goldene Freibrief sicherte den Sachsen jahrhundertelang den Nährboden für Kultur, der sich ab 1486 mit der Nationsuniversität voll entfaltete und bis 1876 bestand, ferner bis 1937 als Stiftung weiter fungierte. Man kann daher behaupten, dass die rund 650/715 Jahre lang bestehende Selbstverwaltung und die kollektiven Privilegien nicht nur die Entstehung der reichen und weit entwickelten Siedlungen Siebenbürgens förderten, sondern auch für das lange goldene Zeitalter der siebenbürgisch-sächsischen Kultur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sorgten.

Auf die im Titel des Vortrags gestellte Frage, ob alles Gold ist, was glänzt, gab der Vortragende die zusammenfassende Antwort: Die erste ethnische und/oder öffentlich-rechtliche Autonomie der Welt, die die Sachsen in Siebenbürgen in vielerlei Hinsicht am längsten und in vollem Maße genossen haben, glänzt wie Gold in der Geschichte der europäischen Kultur. Die Sachsen beschenkten die europäische, vor allem aber die Kultur im Donau-Karpatenraum mit vielen besonderen und wertvollen materiellen und immateriellen Produkten, deren symbolischer Schmelztiegel die von Samuel von Brukenthal (1721-1803) Anfang des 19. Jahrhunderts gegründete siebenbürgisch-sächsische Kunstsammlung und Bibliothek ist, als dieser Kulturprozess seinen Höhepunkt erreichte. Dem Gubernator Siebenbürgens (1777-1787) sei gedankt für die Schaffung des „Samuelianums“, das als geistiges Erbe des „Andreanum“ zu betrachten ist, und welches noch heute an die heroische Epoche der siebenbürgisch-sächsischen Kultur erinnert.

Bedeutsame Auswirkungen des Freibriefes kamen im Vortrag „Landesausbau, Städte und Privilegien im Königreich Ungarn zur Zeit des Andreanums“ der Rechtshistorikerin Dr. iur. habil. Katalin Gönczi (Frankfurt) zum Ausdruck. Methodisch stützte sie sich dabei auf die soziologische Stadttypologie nach Max Weber und den rechtshistorischen Stadtbegriff, nach denen die Stadtfreiheit bzw. die autonome Rechtsstellung ein zentrales Merkmal der mittelalterlichen Stadt war. Im Vortrag wurde die Frage diskutiert, ab wann diese Merkmale in der Siedlungsentwicklung im Königreich Ungarn nachweisbar sind. Dafür wurden zwei Epochen der Siedlungsentwicklung im Donau- und Karpatenraum untersucht: die Phase der frühstädtischen Entwicklung und die Umbruchphase der Siedlungsentwicklung. Zwischen diesen zwei Epochen lag als zeitliche Grenze die Mitte des 12. Jahrhunderts, als sich das Land in Zusammenhang mit den Kreuzzügen in Richtung des okzidentalen Europas öffnete. Zu dieser Zeit fand der Landesausbau, also der wirtschaftliche Vorgang statt, der die Umgestaltung der Siedlungsstruktur des Landes auslöste. In diese Zeit fiel auch die Intensivierung der Zuwanderung westeuropäischer Siedler in den Donau- und Karpatenraum. Sie standen unter dem Schutz der Landesherren, damals des Königs Géza II., der den Siedlergemeinden einen privilegierten Status einräumte. Als Folge des Landesausbaus entstand in Siebenbürgen eine große Siedlungseinheit deutschsprachiger Bauern, Ritter und Bergleute mit Selbstverwaltungsrechten, die durch das „Privilegium Andreanum“ vom König bestätigt wurden. Damit wurde den Siebenbürger Sachsen eine autonome Rechtsstellung eingeräumt, die bis in die Neuzeit Grundlage einer „politischen Gemeinschaft“ bildete. Folglich betrifft die Autonomie, ein Merkmal der okzidentalen Stadt, die ganze Siedlungseinheit der Siebenbürger Sachsen.

Damit endete der historisch tief fundierte Teil des Seminars. Da in der Bildungsstätte an diesem ersten Adventswochenende das traditionelle Heiligenhofer Adventssingen stattfand, folgten etliche Seminarteilnehmer am Samstagabend der Einladung, daran teilzunehmen. Es war ein besonderes Erlebnis, zumal das Adventssingen diesmal zum 60. Mal stattfand und somit dem Anlass entsprechend begangen wurde.

Am Sonntag folgten zwei weitere Vorträge, die sich jedoch von der Thematik „Andreanum“ distanzierten. In dem ersten Vortrag, zu dem auch ein Video gehörte, nahm Astrid Ziegler die Seminargäste auf unterhaltsame Weise mit auf die Burg Schoimosch, einen Schauplatz des „Ungarischen Thronstreits ab 1526 zwischen König Ferdinand I. und dem Fürsten von Siebenbürgischen János Zápolya“, heute eine Ruine am Fuß der Westkarpaten, auf einer Anhöhe am nördlichen Ufer der Marosch. Wie eine Kirsche auf der Torte thronte die einst mächtige Burg Schoimosch 252 m hoch auf felsigem Gestein und überwachte scheinbar uneinnehmbar das ganze Marosch-Tal, das von jeher einen wichtigen Verbindungsweg nach Siebenbürgen darstellte. Zu den Besitzern der Burg gehörten seit ihrer Errichtung im 13. Jahrhundert die prominentesten und mächtigsten Herrscher des mittelalterlichen Ungarn, wie z. B. Karl Robert von Anjou (ab 1315), König Wladislaus von Polen und Ungarn (1440-1444), Johannes Hunyadi (ab 1446) oder sein Sohn Matthias Corvinus. Die Geschichte, die einem Historienkrimi gleichkommt, mit rivalisierenden Königen, verschmähter Liebe, Verrat und sogar Meuchelmord, verlegte Astrid Ziegler in ihrem Video auf ein Schachbrett, wo die verschiedenen Akteure, als Figuren des Spiels der Könige, auf einem weiten Terrain platziert sind, das von Spanien bis ins heutige Rumänien und auf den Balkan reicht.

Keiner Schachfiguren bediente sich der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. András F. Balogh (Universitäten Budapest und Klausenburg), jedoch eines umfassenden deutschen Literaturrepertoires, das vom Mittelalter bis in die Neuzeit reichte, um über die einzige literarische Gestalt aus dem Mittelalter, den „Zauberer und Minnesänger Klingsor – Mythos und Nachleben“ zu referieren. Klingsor von Ungerland, der Zauberer und Wahrsager, trat in mehreren, völlig unterschiedlichen Kontexten auf: In Wolfram von Eschenbachs „Parzival“ ist er ein Kastrierter aus Sizilien, in der Elisabethlegende baut er mit seiner Prophezeiung über die Geburt der Heiligen aus dem Arpadenhaus einen Mythos auf. Als Literaturgestalt fungierte Klingsor als Schiedsrichter am Sängerwettbewerb auf der Wartburg um 1200. Dieses Moment wurde in der großen Heidelberger Liederhandschrift festgehalten. Diese hervorgehobene Position im Literaturleben des 13. Jahrhunderts – die sich später als pure Fiktion entlarvte – inspirierte die Generation von Adolf Meschendörfer und Heinrich Zillich, und sie benannten ihre Kunstzeitschrift nach dieser Gestalt. Die Zeitschrift Klingsor brachte hervorragende Literatur in der Zwischenkriegszeit und wurde zum repräsentativen Organ der Periode. Zwar hatte die Literaturwissenschaft bewiesen, dass Klingsor keine reale, sondern eine Phantasiefigur ist, dennoch ist diese Person – betonte der Referent Balogh – zum Requisitum der siebenbürgisch-deutschen Literatur geworden: Franz Hodjak, Eginald Schlattner und Iris Wolff bauten ihn in ihren epischen Texten ein. Im Roman „Sängerstreit“ von Hodjak dreht sich die Geschichte sogar um ihn, wobei der Hauptstrang des Textes die Auswanderung der Siebenbürger Sachsen thematisiert. Balogh verdeutlichte, wie ein fiktionales Motiv aus dem Mittelalter immer wieder neue Formen aufgenommen hat.

Ein sehr intensives Wochenendseminar ging am ersten Adventssonntag mit dem gemeinsamen Mittagessen zu Ende, mit vielen interessanten Beiträgen rund um den Goldenen Freibrief der Siebenbürger Sachsen, der bis in die Gegenwart für unsere Landsleute identitätsstiftend ist. Dabei kam auch der informelle Austausch der Seminarteilnehmer nicht zu kurz. Ein großer Dank gilt allen Vortragenden für die gründliche Aufbereitung der Inhalte, die sich trotz ihrer Komplexität während den Vorträgen wunderbar ergänzten, nicht zuletzt jedoch auch dem Team vom Heiligenhof, das mit vollem Einsatz und unter der Federführung von Gustav Binder zum Gelingen der Tagung beigetragen hat.

Agathe Wolff

Schlagwörter: Goldener Freibrief, Seminar, Ungarn, Bad Kissingen

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