17. März 2023

Ihre Windrose hat Wurzeln im Südosten: Ilse Hehns neues Buch "Diese Tage ohne Datum"

Bestrechung des Buches Ilse Hehn: „Diese Tage ohne Datum“. Prosa. Mit 45 bildnerischen Arbeiten der Autorin. Pop Verlag, Ludwigsburg, 2022, 320 Seiten, 23 Euro, ISBN 978-3-86356-454-0
„Ihre Windrose hat Wurzeln im Südosten“, notiert der Banater Schriftsteller Franz Heinz in einem Covertext des Buches. Ilse Hehn, deutsche Schriftstellerin, bildende Künstlerin und Kunstdozentin, geboren im Banat, lebte viele Jahre unter der kommunistischen Diktatur in Rumänien, wo sie nach dem Gymnasium und dem Studium für Kunst und Kunstgeschichte in Temeswar als Gymnasiallehrerin in Mediasch arbeitete und mehrere Lyrikbände und zwei Kinderbücher publizierte. Durch ihren Kontakt mit der Europäischen Autorenvereinigung „Die Kogge“ geriet sie ins Fadenkreuz der Securitate. 1992 übersiedelte sie in die Bundesrepublik, wo sie in Ulm lebt und arbeitet. Ihre künstlerische Doppelbegabung realisiert Ilse Hehn in vielen Publikationen: bisher 21 Bücher (Lyrik und Prosa) und eine Fülle von Anthologie- oder Zeitschriftenbeiträgen, dazu sieben unikale Kunstbücher.

Der neueste Band "Diese Tage ohne Datum" schließt an den Titel „Roms Flair in flagranti“ (2020) an, doch ist er thematisch wie formal umfassender und vielgestaltiger. Weit gespannt ist der Kreis der Orte, Inseln, Städte und Länder, die in diesem Kaleidoskop aus vielfarbigem Licht und Schatten erscheinen. Räume, Landschaften, Inseln, Städte, Begegnungen mit Menschen und Tieren, mit Natur, Kunst und Kulturgeschichte zeugen von aufmerksamer Wahrnehmung und tiefer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Die Kapitel sind von unterschiedlicher Länge und Form. Es gibt ausführliche Berichte wie die Schilderung in Tagebuchform der abenteuerlichen Fahrt der Autorin in Lappland mit dem von ihr selbst gesteuerten Hundeschlitten, der von Huskys im Winter über die „weiße Haut der Erde“ gezogen wird. Es faszinieren das weite Land, die unberührte Natur. Nach Umfang und Sprachstil stehen im Gegensatz dazu kurze Notate, zum Beispiel das Kapitel Bodensee. „Insel Mainau“ bietet ein Stimmungsbild: Sinneseindrücke in heller Tönung, synästhetisch, knappe Deutungen: ,,Die Heiterkeit der Blumen so gegenwärtig, dass dieser Garten Menschen kaum nötig hätte. Farben brennen mit hörbarer Flamme, in ihnen das Getöse des Sommers. Die Samtheit der Rosenblätter, der leicht faulige Geruch ihres Verwelkens (der gleiche Geschmack einer überreifen Frucht) als Inbegriff von Sterben. Wir atmen ihren schweren Duft.“ (S. 276)

Immer wieder gibt es charakteristische Landschaftsporträts, so im Kapitel Frankreich die faszinierenden Schilderungen der Küste von Bretagne und Normandie. Bei Mont-Saint-Michel heißt es: ,,In dem weit ausholenden Bogen der Landschaft die Spur der Möwen im Sand, vergänglich. Zärtlich beieinander Dimensionen: das Große, das Kleine.“ (S. 43) Da spiegelt sich das Glück des erfüllten Augenblicks, der „Tage ohne Datum“. In dem Kapitel über Schottland zeigt sich die Verbindung einer nebel- und regenreichen Landschaft aus Felsen, Moor und Heide mit den oft dunklen, bizarren Wechselfällen der Geschichte wie die Reminiszenz an das mörderische Gemetzel von rebellischen Clans im Jahre 1629: ,,Glen Coe“. (S. 144) Die sensible Wahrnehmung der Malerin und Fotografin sowie die Reflexion und Sprachkunst der Schriftstellerin verbinden und verstärken sich zur Vergegenwärtigung des Erlebten. Es geht dabei um Fülle und Tiefe, das Helle und Dunkle der Wirklichkeit, auch die naturgegebenen, historischen oder sozialen Verwerfungen. Ein drastisches Beispiel, wie die realen Eindrücke der Reisenden von den Klischees der Tourismuswerbung abweichen, bieten die Florenz-Gedichte. In „Marmor/Florenz I“ wirkt die steinerne Pracht ambivalent: „Löwenköpfig die Stadt, ein Sarg aus pietra dura./ Liebende aus echtem Marmor, ohne die Gnade der Wärme,/ des Bettlers abgewetztes Fell,/ an den Brüchen spielt das Licht mit verirrten Hautflüglern.“ (S. 151)

Die Dialektik von Leben und Tod, Vergänglichkeit und Unsterblichkeit wird für die Autorin besonders fühlbar in Rom. Sie erinnert sich an den inzwischen verstorbenen Freund, mit dem sie vormals in Rom gewesen war und auch viele der hier geschilderten Reisen zusammen erlebt hatte: „Ich trage in mir den Tag, als wir die Ruinen der Caracalla-Thermen besuchten. Wir durchstreiften dieses römische Sensorium im Radius von Hand und Fuß, wir, so klein, bei frisch fallendem Schnee, frei unter weißem Segel, gesetzt für die Ausfahrt der Seele. Ich trage in mir vergänglich Helles auf dunklem Stein, lose Flocken auf Abulie der Geschichte.“ (S. 279) In dem Rom-Kapitel besucht sie, nunmehr allein, den Tempel des Antonius und der Faustino, der gerade restauriert wird; sie legt den Säulen ihre „Finger in die Wunden“ und zieht den Schluss: „Er lebt also – auch der Marmor lebt! Was aus ihm herausbirst, ist Ewigkeit.“ Und was zunächst paradox wirkt, klingt letztlich versöhnt im Hinblick auf das universelle Schicksal alles Geschaffenen: „Die verdammte Ewigkeit, die er abstößt. Auch er hat ein Recht auf den Tod.“ (S. 280)

Eine Fülle an kunst- und kulturhistorischem Wissen wird dank der profunden Bildung der Autorin ausgebreitet, oft nicht ohne ironische Seitenblicke, etwa im Kapitel Griechenland, bei der Schilderung von Apoll, Dionysos oder Zeus. Auch sozialkritische Blicke auf das heutige Leben in den kulturgeschichtlich großartigen Ländern rund um das Mittelmeer fehlen nicht. In Luxor und Palermo tritt neben den historischen Denkmälern auch das alltägliche Leben der heutigen Bevölkerung ins Blickfeld.

Über das ganze Werk sind in den laufenden Text viele prägnant formulierte Gedichte eingefügt, auch zahlreiche Zeugnisse der bildenden Künstlerin: farbintensive oder pastelltonige Bilder, Collagen, Monotypien, oft übermalte oder in vitaler Schrift überschriebene Fotografien – eine einzigartige Mixtur von Text und Bild!

„,Diese Tage ohne Datum‘ – ein Gesamtkunstwerk, das die Vielfalt von Reiseerfahrungen in all ihren sinnlichen, gedanklichen und ästhetischen Facetten erfasst und in welchem kongenial die bildende und die Sprachkünstlerin Ilse Hehn zu Wort kommt“, kommentiert Herbert Bockel im rückwärtigen Covertext des Buches. Den Spuren dieses außergewöhnlichen Buchs lesend und betrachtend zu folgen, verspricht vielfältigen Gewinn.

Helga Unger



Schlagwörter: Rezension, Ilse Hehn, Literatur, Banat

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