21. November 2021

Die Dialektik ist der Pfeffer und das Salz in der Dichtung

Der neue Gedichtband „Clipe. Augenblicke. Clins d’oeil“, den Edith Ottschofski dreisprachig im Verlag Casa de pariuri literare in Bukarest veröffentlicht hat (Rumänisch, Deutsch, Französisch), ist für die bedeutende rumänische Schriftstellerin Nora Iuga „eine wahrhaftige Überraschung“. Sie hat das Buch nicht nur übersetzt, sondern bespricht es im Folgenden auch für die Siebenbürgische Zeitung. Die französische Fassung unterzeichnet Alain Jadot.
Edith Ottschofski (links) sowie die Dichterin und ...
Edith Ottschofski (links) sowie die Dichterin und Übersetzerin Nora Iuga stellten den neuen Gedichtband „Clipe. Augenblicke. Clins d’oeil“ am 27. August 2021 bei den Reschitzaer Literaturtagen vor. Fotos: Louise Ottschofski (links) und DFBB
Obwohl die Gedichte, was deren Auffassung und Sprache anbelangt, von Kopf bis Fuß dem Minimalismus treu bleiben, einer Strömung, die schon seit über einem Jahrzehnt die Bühne der Poesie in Besitz genommen hat, wirkt der neue Band „Clipe. Augenblicke. Clins d’oeil“ auf den Leser äußerst originell, da die Personen, die im Buch auftauchen, durch die Fremdsprachen, in denen sie vorgestellt werden, visuell und auditiv neue Valenzen erhalten. Wir befinden uns also in einem Panoptikum oder, genauer gesagt, in einem Kinosaal. Vielleicht bin ich sehr subjektiv, wie jeder Dichter, aber wenn ich Literaturkritik betreiben möchte, dann kann ich wegen meines poetischen Subjektivismus oft fehlschlagen.

Ich habe Edith Ottschofskis Band nicht nur durchblättert – der Übersetzer ist der zweite Autor eines Textes –, folglich habe ich mir den Band wie eine Theaterbühne vorgestellt, die aus zwei Räumen besteht. In einem Raum tauchen nur die Gäste auf, in dem anderen nur das lyrische Ich. Das heißt, hier der Autor, dort die Schauspieler.

Der erste Teil trägt den Titel flüchtige begegnungen. Nach französisch angehaucht ist der nächste größere Teil ein Auszug aus Edith Ottschofskis Band im wohlklang unverhohlen. Mit pastiche endet der Band. Das letzte Gedicht ist ein skeptischer Text, ein Pastiche nach Ernst Jandl mit dem Titel oder wer, der zwischen Ja und Nein pendelt.

Im ersten Teil flüchtige begegnungen, der sich uns als eine Fotoausstellung darstellt, beginnen plötzlich die Menschen aus den Porträts, meist sind es Frauen, wie auf einer Modeparade auf dem Bildschirm zu defilieren. Doch die meisten Modelle sind hier unterwegs, immer beschäftigt, immer mit Gepäck, in der Tram, in der S-Bahn, oder weiß der liebe Gott in welchem Verkehrsmittel. Das Leben pulsiert in diesen Porträts … der Leser ist hier nicht der bloße Betrachter einer Fotoausstellung oder einer Modeparade, er ist vielmehr der Begleiter dieser Frauen auf ihren täglichen Fahrten. Zunächst werden uns die Frauen, die das Bild beleben, vorgestellt: Haare, Augen, Schmuck, Kleidung, Handtasche oder Gepäck. Der Fotoapparat reicht nicht bis in die Gedankenwelt dieser Personen. Die Oberfläche ist das, was man sieht. Die Fläche darunter ist unsichtbar und stets im Gegenlicht. Nur zum Schluss, wenn das Auge des Betrachters alle physiognomischen Einzelheiten des Porträts wahrgenommen hat, kommt das ungesagte, ungeahnte, nicht gezeigte Antlitz des Fotomodells zum Vorschein – dieses Antlitz, das meist die Schattenseite des Modells entlarvt.

Eine gewisse Dialektik, eine strenge Regel, leitet die Welt und daher auch jede einzelne Person. Deshalb sind wir nicht, was wir zu sein scheinen oder sein wollen, sondern das Gegenteil davon. Die meisten Gedichte im Zyklus flüchtige begegnungen wirken daher am Anfang auf uns wie ein Köder und zum Schluss offenbart sich uns die Wahrheit, dass alles verkehrt ist. Die Dame mit Dauerwellen und Goldkreolen liest eifrig „einen Schundroman“ oder „sie schwirren in die späte tram/ eine handvoll mädchen/ setzen sich eine auf den schoß der anderen … chatten, twittern, texten“ und am Ende sind sie in langen Röcken eingekleidet: „den kopf auch keusch/ betucht“ oder „die haare streng gekämmt ... die jeanshose ist nur/ an beiden knien eingeritzt/ petite liberté“. Äußerst interessant finde ich den Schlussakkord in jedem Gedicht, der immer das ungeschminkte Gesicht des Schauspielers zeigt.

Die zweite Hälfte des Bandes habe ich als Zuhause der Autorin empfunden. Dort ist sie bald in Deutschland, bald in Temeswar, der Stadt ihrer Kindheit. Dort lebt Frau Schmidt, wahrscheinlich eine Nachbarin, die das Hendl tranchiert, während die Freundin sich fein macht für den Kirchgang. Dort ist die Rede von einer schlaflosen Nacht … die Notre-Dame brennt oder aber „in der hängematte unter einem anderen nussbaum/ … das kind spielt im garten/ die mutter fegt den hof … heimelig, trautfremd/ wo jetzt mein zuhause ist“. Jedes Bild kann man auf der Vorderseite oder auf der Kehrseite wahrnehmen. Alles zeigt sich hier positiv oder negativ, oder beides gleichzeitig. Und wieder gibt es das Pendeln zwischen dem Hier und einem anderen Hier „du „kuschelst dich in/ deine wahnwelt ein/ jetzt/ willst du gott sein/ … jetzt/ schießen dich die russen tot/ jetzt/ o hybris/ gibt es kein/ beseligtes zurück“.

Die Alltagssprache, die eher für die Prosa geeignet ist, erweckt das Interesse des Publikums. Man hat den Eindruck, dass jedes Gedicht auf einem Bildschirm wie ein Film abläuft, die Szenen laufen mit. Neugierde und Erwartung wachsen. Der Leser will sehen, der Leser will verstehen, der Leser hat keine Zeit mehr für’s Verstecken-Spielen. Das ist das Geheimnis der gegenwärtigen Poesie, die Edith Ottschofski wunderbar beherrscht …, doch der Dichter hat auch in diesem Fall seine Geheimnisse. Letzten Endes verrät jedes Gedicht seine Botschaft ..., denn seine Botschaft ist seine Pflicht.

Ich könnte noch viel mehr über die Vielfalt einer solchen Poesie, die auf den ersten Blick einfach scheint, erzählen. Der Dichter bleibt hier weiterhin die Hauptfigur. Die innere Musik, die ohne Hilfe des Reims oder des Rhythmus‘, nur durch das zufällige Aufeinandertreffen wahlverwandter Silben plötzlich entsteht „und wenn ich dein augenblau blick‘/ bläust du es mir/ ein“ oder das Farbenspiel zwischen Augengrün, Augenblau und Augenbraun … die Farben wechseln und spielen miteinander im selben Gedicht. Am liebsten schließe ich mit einem Zitat aus dem kurzen Pastiche nach Ernst Jandl, das wie ein Selbstporträt der Dichterin Edith Ottschofski auf uns wirkt: „ich bin nicht gerne, wer ich bin/ ich wäre nicht gerne, wer ich nicht bin/ ach, wäre ich gerne, wer ich nicht bin/ wäre vielleicht ich lieber, wer ich bin.“

Die rumänische Übersetzung dieses Gedichtbandes war mir ein Volksfest, um mit meinem zu früh verstorbenen Chef der Zeitschrift Volk und Kultur, Franz Storch, zu sprechen … Ich empfehle allen Poesieliebhabern die Gedichte der Edith Ottschofski, sie sind tatsächlich ein Leckerbissen!

Nora Iuga


Edith Ottschofski: „Clipe. Augenblicke. Clins d’oeil“, rumänische Übersetzung: Nora Iuga, französische Übersetzung: Alain Jadot, Casa de pariuri literare, Bukarest, 2021, 28 Seiten, ISBN 978-606-990-291-2, Preis: 25,00 Lei (5,06 Euro), zuzüglich Versandkosten, zu bestellen über contact[ät]cdpl.ro.

Schlagwörter: Lyrik, Gedichtband, Ottschofski, Iuga, Temeswar, Buchvorstellung

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