1. April 2005

Birgit Schultz

Am 23. Dezember 2004 bucht die in Hermannstadt geborene Wahlstuttgarterin Birgit Schultz eine dreieinhalbwöchige Urlaubsreise nach Thailand. Abflugtermin ist der 4. Januar, von Frankfurt aus. Am 26. Dezember dann die Flutkatastrophe in Südasien. Ein Erdbeben der Stärke 9,0 auf der Richterskala im Indischen Ozean löst eine Flutwelle aus. Die Küstenregionen zahlreicher Länder in Südasien und Ostafrika sind verwüstet. Etwa 300 000 Menschen fielen dem Tsunami zum
Opfer. Rund um die Uhr berichten Medien weltweit. Eine beispiellose Spendenbereitschaft setzt ein. Allein die Bundesregierung stellt Hilfe in Höhe von 500 Millionen Euro bereit. Bei einem Staatsakt am 20. Januar im Deutschen Bundestag würdigt Bundespräsident Horst Köhler die Spendenbereitschaft der Deutschen. Ausdrücklich dankt das Staatsoberhaupt den vielen deutschen Helfern vor Ort.
Einer dieser Helfer ist Birgit Schultz. Seit vier Jahren arbeitet die 36-jährige Diplom-Betriebswirtin (FH) in Stuttgart als selbstständige Projektmanagerin für Marketingmaßnahmen. In Chiang Mai, tausend Kilometer entfernt vom Tsunami-Gebiet, wohnt sie Mitte Januar in einem Gästehaus, dessen Besitzerin drei Jahre zuvor ein Waisenhaus, die "Schule des Lebens", eingerichtet hat. Ob die Schule 50 Kinder, Tsunami-Opfer, aufnehmen könnte, will ein Anrufer aus Phuket wissen. Man beschließt im Süden eine zweite "Schule des Lebens" aufzubauen, um die Kinder in ihrem vertrauten Umfeld zu belassen. "Als ich fragte, ob ich was helfen kann, bekam ich zur Antwort: ‚Kannst du morgen mit nach Phuket fliegen?' - Ich wollte und konnte nicht Nein sagen", schildert Schultz im Gespräch, das Christian Schoger führte, den Hintergrund ihres einwöchigen Arbeitsaufenthalts im Katastrophengebiet.
Bunte Kinderzeichnungen - Versuche, das erlebte ...
Bunte Kinderzeichnungen - Versuche, das erlebte Grauen zu verarbeiten.

Frau Schultz, am 17. Februar sind Sie nach sechs Wochen Thailand wieder in Frankfurt gelandet. Ihre Entscheidung, sich in unmittelbares Katastrophengebiet zu begeben, haben Sie bewusst und risikobereit getroffen?

Ich würde mich nicht als besonders risikofreudig bezeichnen, aber ich bin neugierig und interessiere mich schon immer dafür, wie andere Menschen leben und die Welt betrachten. Ich war zu keiner Zeit selbst in akuter Gefahr. Eine neue Welle war nicht zu erwarten und auch Seuchengefahr bestand in Thailand niemals, da die Regierung und das Militär die Lage sehr schnell unter Kontrolle gebracht haben, alle Menschen mit Wasser, Lebensmitteln und Zelten versorgt haben und die Aufräumarbeiten sehr zügig durchgeführt wurden.

Diese Erdregion war Ihnen nicht fremd. Vor zwei Jahren haben Sie bereits Sri Lanka bereist.

Ja, darum hat mich die Katastrophe auch sehr mitgenommen. Ein paar Tage vor meinem Abflug habe ich auch erfahren, dass die Schwester eines sehr guten Freundes aus Sri Lanka umgekommen ist. Während der Telefonate mit den Freunden in Sri Lanka hatte ich fast das Gefühl, als ob es mir schlechter geht als ihnen. Sie haben alle Kraft zusammen genommen, um nach vorne zu schauen. Und ich bin immer noch vorm Fernseher gesessen, wie gelähmt.

Dann aber haben Sie angepackt, im Fischerdorf Namkem. Was taten Sie dort?

Namkem ist knapp 20 Autominuten nördlich von Khao Lak entfernt. Der Ort ist sehr schwer von der Flutwelle getroffen, kein Stein steht mehr auf dem anderen. In Namkem haben wir zunächst die örtliche Schule besucht, die von den Behörden vor Ort provisorisch in Lagergebäuden untergebracht wurde. Danach haben wir mit den Menschen in den Auffanglagern gesprochen und versucht herauszufinden, was die nächsten sinnvollen Schritte sind. Mit den Kindern gab es in dieser Zeit täglich gemeinsame Spiele und Aktivitäten.

Haben Sie mit Überlebenden der Katastrophe gesprochen, mit traumatisierten Kindern?

Ja, wir haben direkt mit betroffenen Erwachsenen und Kindern gesprochen, die uns ihre persönliche Geschichte erzählt haben. Die Katastrophe war zu dem Zeitpunkt etwa drei Wochen her, so dass der erste Schock meist schon überwunden war. Der Umgang mit der Katastrophe ist sehr individuell. Manchmal ist es einfach eine Sprachlosigkeit; Jugendliche, die den Moment vorübergehend aus der Erinnerung gelöscht haben; oder ein Familienvater, der sich mit Schuldgefühlen quält, nicht richtig gehandelt zu haben und schuld am Tod seiner Familie zu sein. Die Kinder werden in den meisten Fällen von Familienangehörigen aufgefangen. Den meisten ist aber, aus unseren Augen betrachtet, beinahe nichts anzusehen.

Wie erklären Sie sich das?

Thailänder tragen ihre Trauer im Allgemeinen nicht so nach außen, wie wir das gewohnt sind. Dabei ist es für uns schon sehr unheimlich zu erleben, wie beispielsweise ein junges Ehepaar ganz ruhig davon erzählt, dass seine zwei kleinen Töchter umgekommen sind, und uns dabei fast schon verlegen anlächelt. Aber wir können nicht wissen, wie es in ihrem Inneren aussieht.

Sie waren Teil eines zwölfköpfigen Teams, das - Chaos und Verwüstung zum Trotz - recht planmäßig vorging.

Unser Ziel war es vor allem, den Start für ein langfristiges Projekt zu legen, in das sowohl Erwachsene als auch Kinder eingebunden werden können und das darauf ausgerichtet ist, sich irgendwann selbst zu tragen. Uns war es wichtig, nicht nur eine schnelle und kurzfristige Hilfe zu schaffen. Dazu gab es viele andere Hilfsorganisationen vor Ort. Wir wollten der Bevölkerung helfen, auch langfristig ihre Situation weit in die Zukunft zu sichern.

Die "Schule des Lebens", an deren ersten "Fundamenten" Sie mitgebaut haben, ist demnach nicht nur Kindern vorbehalten?

Auch die Erwachsenen sollen hier eine wichtige Rolle einnehmen. Eingestellt werden eben auch betroffene Erwachsene, die Experten in ihrem Fach sind und jetzt ihre Arbeit verloren haben, wie z.B. Fischer, Farmer, Köchinnen, Lehrer etc. Sie werden sich einerseits sowohl um die Kinder kümmern, sind aber auch wichtig, um mit ihnen gemeinsam einen Ort für sensitiven Tourismus aufzubauen, der den Einheimischen wieder zu einem eigenen Einkommen verhilft - aber unter umwelt- und sozialverträglichen Bedingungen.

Sicher konnten Sie bei Ihrer Hilfstätigkeit vor Ort von Ihrer Berufserfahrung als Projektmanagerin profitieren.

Um in einem solchen Krisengebiet helfen zu können, benötigt man zunächst nichts als einen gesunden Menschenverstand. In den ersten Tagen unseres Aufenthaltes in Namkem haben wir mit den Kindern und den Erwachsenen nur geredet und ihnen zugehört. Wir haben versucht, ihnen ein wenig Hoffnung und Lebensfreude zu geben. Jeder einzelne Helfer, den wir dort getroffen haben, konnte irgendetwas Sinnvolles tun - egal welchen beruflichen Hintergrund er hatte oder welche Sprache er gesprochen hat. Erst später kamen meine eigentlichen beruflichen Fähigkeiten als Projektmanagerin zum Einsatz, wie z.B. neue Ideen entwickeln und formulieren, Projekte im Team planen und organisieren, Informationen sammeln und für Präsentationen aufbereiten.

Das geschah auch auf der Farm in Chiang Mai, in dem bereits bestehenden Waisenhaus.

Ja. Nachdem die Berichte und Präsentationen für den Süden fertiggestellt waren, habe ich angefangen, dort ein Informationscenter und einen kleinen Shop einzurichten, in dem die Besucher irgendwann alle notwendigen Informationen bekommen können: einen Plan der Umgebung, Informationen über die Entstehung des Waisenhauses, die Organisation der Schule, die Lehrinhalte, auch die Geschichten der Kinder.

Welche Probleme ergaben sich dabei? Können Sie uns konkrete Beispiele nennen?

Beispielsweise wollte ich anfangs schnell eine Infotafel erstellen, auf der alle Kinder mit Foto zu sehen sind, mit Namen, Alter und Nationalität. Die Fotos der Kinder zu machen ging noch ganz gut. Aber schon bei der Zuordnung der Namen zu den Fotos fingen die Probleme an. Teilweise gab es drei verschiedene Namen oder vier verschiedene Schreibweisen für einen Namen. Da das keine Thai-Namen sind, sondern diese nur nach dem Gehör irgendwie ins Englische übersetzt wurden, gab es noch keine offiziellen Schreibweisen. Außerdem kommen ständig neue Kinder dazu. Von Kindern, die hier einfach vor der Schule ausgesetzt wurden, kennt man manchmal noch nicht mal Namen oder Alter. Beim Alter wird daher manchmal einfach nur das Jahr geschätzt. Nach drei Tagen hatte ich dann wenigstens eine Liste zusammen, die ich als Grundlage für die geplante Infotafel benutzen konnte. Dann das nächste Problem: Die Daten schnell zur Druckerei schicken oder mal eben eine Kopie machen? Geht nicht. Selbst ein Radiergummi oder ein A3-Papier kann zu einer echten Herausforderung werden. Der nächste Laden für solche Sachen ist ca. 40 Kilometer weit weg.

Welche Erfahrungen verbinden Sie heute mit Ihrem Thailand-Aufenthalt? Ihr Fazit.

Es gibt vor allem zwei sehr nachhaltige Eindrücke, die mich seither ständig begleiten. Zum einen ist es die Erfahrung, wie unterschiedlich die Wahrnehmung einer solchen Situation sein kann - je nachdem, ob man selbst dort ist oder ob man alles von weit weg über Bilder und Berichte aus den Medien verfolgt. Und zum anderen ist es die unglaubliche Hilfsbereitschaft der Menschen vor Ort, mit der ich so einfach nicht gerechnet hätte. All diese Menschen zu treffen, die aus der ganzen Welt kommen, um irgendetwas tun zu können. Das war sehr beeindruckend und macht Hoffnung. Ein dritter starker Eindruck, der mich nach jeder langen Reise bewegt, ist, wie klein unsere Welt hier doch ist und wie stark viele Menschen in Ansichten und Vorstellungen gefangen sind. Hin und wieder die Perspektive zu wechseln und unser Leben aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, kann so spannend und so hilfreich sein.

Ist Thailand just nach dieser Katastrophe noch ein empfehlenswertes Urlaubsland?

Thailand ist ein so großes Land, dass es natürlich auch nach wie vor ein sehr schönes Urlaubsland ist - mit Ausnahme einiger weniger Gegenden, in denen Urlaub derzeit sicherlich weder Sinn noch Spaß macht. Die großen Touristenzentren werden sehr schnell wieder aufgebaut sein. Aber es ist zu hoffen, dass dieser Wiederaufbau landschaftsverträglicher erfolgen wird. In manchen Gegenden ist es schon erschreckend, welcher Raubbau an der Natur betrieben wurde. Jeder sollte sich in Zukunft noch genauer überlegen, wo und wie er seinen Urlaub verbringen möchte. Ferienziele, die einen sanften Tourismus fördern, sind nicht nur für die Natur verträglicher, sondern auch für die einheimische Bevölkerung.

Ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch.

Nähere Informationen zur "Schule des Lebens" enthält die Internetseite www.school-for-life.org.

Link: www.school-for-life.org

Schlagwörter: Interview, Wirtschaft

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