7. Oktober 2006

Zeitfenster: Gedanken auf einer Siebenbürgenreise

Höhepunkt: die untergehende Sonne am Bulea. Über dem See klingt eine einsame Trompete „Af deser ierd doh esz e loahnd, si ihnich wä nichen oander’t…“ Wir sitzen am Hang unter dem Gedenkstein für die Opfer des schrecklichen Lawinenunglücks 1974 und lauschen ergriffen. Einmal war dies „loahnd“ unsere Heimat. Wo sind wir jetzt zuhause?
Alle aus unserem Jahrgang, die wir inzwischen in Deutschland leben, haben sich zu einer gemeinsamen Busfahrt durch Siebenbürgen zusammengefunden und wollen morgen in Hermannstadt mit den anderen Wiedersehen feiern, wir, die Klassen Real und Humanistisch, die wir 1961 Abitur gemacht haben an der Brukenthalschule.

Prof. Marga Schuller-Grau eröffnet in eindrucksvoller Frische eine Klassenstunde in der Aula unserer alten, neu renovierten Schule. Jeder wird nach dem Katalog aufgerufen und erzählt aus seinem Leben. Meine Gedanken schweifen ab. Ist Heimat mein Geburtsland? Ist sie meine Muttersprache? Mein Elternhaus? Oder bin ich erst wirklich beheimatet bei jenen Menschen, bei denen ich mich am wohlsten fühle, bei denen ich ganz ich selbst sein kann, egal woher sie kommen? Soviel weiß ich jedenfalls: Heimat hat für jeden essentiell mit Identität zu tun. Und wird also für jeden etwas anderes sein.

Wir, einer der vielen Jahrgänge von Absolventen, sind im Berufsleben eines Lehrers eine vorübergehende Periode unter vielen. Für jeden von uns jedoch kann die Person eines Lehrers ausschlaggebend sein fürs weitere Leben. Z.B. die Frage nach den Maßstäben, die man als Jugendlicher an alles und jedes anlegen will – und das in einer kommunistischen Diktatur. Was gilt wirklich? Prof. Nikolaus Hubert, den wir alle sehr verehrten, hat uns solch einen wichtigen Maßstab auf unsere Lebensreise mitgegeben: Humanität, Menschlichkeit. Daran kann man alles messen: Systeme, geistliche Lehrwege, Politik, Literatur, Kunst, Weltgeschehen, Freunde. An Prof. Hubert musste ich in Birthälm auf der Burg denken, als ich die Worte aus dem Propheten Daniel, 12:3, eingemeißelt las: „Die Lehrer aber werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die, so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich.“

Diese Reise war zum großen Teil auch eine Reise auf den Spuren der eigenen Identität. Drei Zeitebenen taten sich auf: Unsere Vorfahren, die Siebenbürger Sachsen, haben uns tief drin geprägt. Wie sie sind wir anständige, ordentliche, rechtschaffene und arbeitsame Menschen geworden. Unsere gemeinsame Schulzeit: erzogen, geformt (und oft verformt) durch die Umstände, in die wir hineingeboren wurden. Von einer gemeinsamen Plattform aus hatte jeder drei Brüche zu überwinden. Die Verstrickungen im Elternhaus, aus denen man sich abnabeln musste. Dann die Diaspora einer Minderheit, die umgeben war von einer andersartigen Lebensmentalität. Und schließlich das Eingegrenztsein im kommunistischen Ostblock, hinter einem Vorhang, der mit eisernem Griff jeden Versuch sich geistig, seelisch, wie auch körperlich „abzusetzen“ unmöglich machte. Ein Klima des Misstrauens, das immer zur Vorsicht mahnte. Letzte Zeitebene: unsere heutige Situation. Wir waren für eine gemeinsame Woche lang gebündelt, unterwegs in der alten Heimat. Was war aus jedem geworden? Der berühmte Zahn der Zeit ließ sich nicht leugnen, aber die Augen strahlten wie früher – noch immer ein Tor der Seele - und die Stimme war unverwechselbar geblieben.

Eine ideale Formel: Klassentreffen als gemeinsame Reise, kombiniert mit Siebenbürgen. Gemeinsame Vergangenheit plus jetzt gelebte Gegenwart. Alles bis ins Detail organisiert und doch mit nur leiser Hand geführt, so dass jeder sich zur Gemeinschaft ganz frei verhalten konnte. Resultat: Es war, als ob wir nicht voneinander lassen konnten. Es herrschten Ausgeglichenheit und Frohsinn. Und blickte man sich um, waren alle gesund, vital und beweglich. Ein guter Wein kommt aus guten Trauben – wie die mundige Feteasca Regala, die wir beim Festessen im Römischen Kaiser trinken durften: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“

So groß der Schock für viele war, die Rumänien seit fast 30 Jahren nicht mehr besucht hatten und die ihre westlich verwöhnten Augen über die Verwahrlosung und Tristheit der Ortschaften aufrissen, als wir hinter Arad ins Landesinnere kamen; so störend die vielen Baugerüste und aufgerissenen Straßen in Hermannstadt auch wirkten, doch schlich sich rasch die Gewöhnung ein. Unser Zellgedächtnis hatte nichts vergessen – wir hatten ja mit Provisoraten leben gelernt. Aber auch das Neue schob sich immer mehr in den Vordergrund. Das Land baut sichtbar auf. Selbstbewusste Rumänen bevölkern die Straßen und sind stolz, dass sie bald zur EU gehören werden. Hermannstadt bereitet sich tatkräftig vor, um dem Titel Kulturhauptstadt Europas 2007 gerecht zu werden. Ein neues Selbstwertgefühl weht durchs Land begrüßenswert. Nicht nur äußerlich ist Rumänien im Umbruch, auch das Dienstleistungsgewerbe hat seinen Standard erhöht. Wie es allerdings unter der Haut mit der Mentalität aussieht, wird niemand wirklich beantworten können.

Jeder Anfang hat ein Ende und jedes Ende ist der Anfang von etwas Neuem. Mir bleibt diese Reise wie ein goldenes Medaillon im Herzen, das mir niemand mehr wegnehmen kann. Zwar voller noch unbeantworteter Fragen, aber gerade deshalb als lebendiges Mitbringsel.

Anne-Sabine Pastior

Schlagwörter: Reise, Rumänien und Siebenbürgen

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