18. Oktober 2023

Leserecho: Materialistische Bedürfnisbefriedigung

Zum Aufruf des Bundesvorsitzenden Rainer Lehni „Wohin geht unsere Gemeinschaft“ zur Identität der Siebenbürger Sachsen in Folge 8 vom 22. Mai 2023, Seite 1 und 4 (sie auch SbZ Online vom 26. Mai 2023).
Beim Nachdenken über diese Themen – ich bin weder Anthropologe, noch Historiker – fallen mir einige, mir als wichtig erscheinende Betrachtungen ein, die in der Diskussion berücksichtigt werden sollten. Zum einen sollte betrachtet werden, aus welchen Gründen die Siebenbürger Sachsen als geschlossene Minderheit über viele Jahrhunderte Bestand hatten.

Zum anderen sollte berücksichtigt werden, dass die meisten Menschen, auch die Siebenbürger Sachsen, Materialisten sind. Die Idealisten sind in allen Gesellschaften in der Minderheit. Diese Binsenweisheit spielt jedoch eine große Rolle bei der Identitätsfrage. Diese ist immer mit einem erwarteten Eigennutz verbunden, sei er materiell oder auch ideell. Hinzu kommt noch der beschleunigte Wandel der Gesellschaftsordnungen und damit der politischen Lage, in der wir uns jeweils befunden haben oder soeben befinden.

Soviel ich weiß, begann die Geschichte der Siebenbürger Sachsen mit dem Erhalten von Privilegien, wie Landeigentum, Freiheit (keine Leibeigenschaft), Eigenverwaltung, eigener Gerichtsbarkeit und nicht zuletzt Teilhabe bei der Regierung in Budapest. Die damit verbundene Verpflichtung zum Grenzschutz war sehr wohl vom Königshaus einkalkuliert, denn die Sachsen würden ihre Privilegien schon aus Eigennutz verteidigen. Zusätzlich zu den Privilegien verfügten die Siedler auch über modernere Kenntnisse über gute Infrastruktur, Handwerk, Verwaltung und gesellschaftliche Organisation, wie z.B. Fränkische Hofordnung, Zünfte, Vereine, Nachbarschaften. Dadurch und durch die nicht abreißende Verbindung zu Westeuropa beschleunigte sich ihre wirtschaftliche Entwicklung gegenüber den umgebenden Landesteilen und führte dadurch zu einem Gefühl der Überlegenheit. Man war besser als die Anderen, man hatte materielle Vorteile gegenüber den Nachbarn und die Wohlhabenden konkurrierten mit dem Adel der Ungarn, was den Wohlstand betraf. Insgesamt hatte man etwas davon, dazu zu gehören, schon wegen der Rechtssicherheit, der Infrastruktur und der Verteidigungsfähigkeit der Gemeinschaft gegen Neider aus der Umgebung und Eroberer von außen. Im Lauf der Geschichte gingen die Privilegien zwar verloren, der wirtschaftliche Vorsprung blieb jedoch praktisch bis zum Zweiten Weltkrieg erhalten.

Worauf meine Argumentation zielt, ist die Tatsache, dass Vereinsmitglieder in der Regel eine ideelle oder sogar eine materielle Belohnung für ihre Mitgliedschaft erhalten wollen, selbst wenn sie dafür arbeiten und zahlen müssen. Der FC Bayern München z.B. hat rund 300000 Mitglieder, nur weil vor allem dessen Fußballmannschaft oft Spiele gewinnt und oft Landesmeister oder Pokalsieger wird. Das ist das Ziel und Angebot des FC Bayern, und das führt zur ideellen Befriedigung der Mitglieder. Den Mitgliedsbeitrag, die hohen Eintrittspreise in die Stadien und die Reisekosten zu den Auswärtsspielen nehmen sie dafür gern in Kauf. Welchen Schluss ziehen wir daraus? Man will zu den Gewinnern gehören, zur Elite.

Dieser Aspekt ist bei der Mitgliederwerbung aus meiner Sicht sehr wichtig, weil wir Antworten auf die Fragen finden müssen: Warum soll ich Mitglied des Verbandes werden, was habe ich davon, welches erstrebenswerte Ziel steht vor unserem geistigen Auge und wie vermitteln wir es in die Gesellschaft? Zugespitzt könnte man in Anbetracht der angeglichenen Lebensverhältnissen darüber nachdenken, die Mitgliederwerbung so weit zu gestalten, dass auch Menschen ohne siebenbürgischen Hintergrund und ohne besondere wissenschaftliche oder politische Interessen dem Verband beitreten wollen. Dazu bedürfte es eines attraktiven Alleistellungsmerkmals. Auch dies eine Binsenweisheit.

Dass es für die Strategen des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland e.V. sehr schwierig wird, in unserer aktuellen Lage diese Fragen befriedigend zu beantworten, ist mir bewusst. Alle Privilegien gehören der Vergangenheit an und unsere gesellschaftlichen Einrichtungen sind unterdessen überall Allgemeingut. Geblieben sind uns Kulturgüter, Zeugnisse unserer Geschichte und unserer Kultur, die Sorge um deren Bestand und die vielen, allseits bekannten Aktivitäten der existierenden siebenbürgisch-sächsischen Organisationen, die hier nicht aufgelistet werden müssen.

Wahrscheinlich werden einige Personen über meine gewollt drastische Darstellung der Lage empört sein und bemängeln, dass ich keine Lösungsvorschläge präsentiere. Ich habe aber keine, auch keine Erfahrung in der Führung eines Vereins oder des Verbands. Zur Findung von Lösungen gehört aber auch eine möglichst umfängliche Lagebeschreibung. Mein Beitrag soll einen Aspekt der Aufgabe beleuchten. Gegenargumente und andere Stellungnahmen bereichern die Debatte und tragen zur Lösungsfindung bei. Der Verband muss lebendig bleiben. Sich nur auf die Vergangenheit zu beziehen, hilft dabei nicht.

Hatto Scheiner, Münster (Hessen)-Altheim

Schlagwörter: Leserecho, Identitätsdiskussion, Gemeinschaft

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Neueste Kommentare

  • 18.10.2023, 09:45 Uhr von alfred.theil: Sehr geehrter Herr Scheiner, ich finde Ihren Artikel sehr gut. Aus meiner Sicht hat siebenbürgisch ... [weiter]

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