23. November 2021

Radsportbegeistert bis ins Rentenalter

„Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an“ sang einst Udo Jürgens und wollte mit seinem Lied Mut machen, auch im Rentenalter Neues mutig und kraftvoll anzupacken. Getreu diesem Motto machten sich zwei ehemalige Schulkameraden aus Großscheuern, Michael Gräff aus Gaimersheim bei Ingolstadt und Christian Fuss aus Herzogenaurach, auf den Weg nach Bremen, um einen weiteren Schulkameraden, Christian Müller, zu besuchen. Um es gleich vorwegzunehmen: Die zwei bewältigten die 800 km lange Strecke Herzogenaurach bis Bremen in sechs Tagen, Michael Gräff mit einem E-Bike und Christian Fuss konventionell mit einem Treckingrad. Die Begeisterung für den Radsport wurde bereits in der Jugend geweckt und hat sie bis heute nicht mehr losgelassen.
Diese drei Männer gehörten mit sechs anderen Großscheuerner Jugendlichen 1970 zu einem Team, das an einem Radwettbewerb auf Hermannstädter Kreisebene („Floarea prieteniei“) teilgenommen hatte und von fünf Teilnehmergruppen als Sieger heimkehrte. Der Sportwettbewerb „Blume der Freundschaft“ wurde vom Pionierhaus („Casa pionierilor“) in Hermannstadt initiiert, die Information darüber kam über den damaligen sehr engagierten Sportlehrer Traian Popidan in die Großscheuerner Schule. Voraussetzung zur Teilnahme war die Benutzung eines Stadtrades (bicicletă de oraș) ohne Gangschaltung. Manche der neun jungen Burschen der Jahrgänge 1955/1956 mussten sich Räder ausleihen, da es in dieser Zeit nicht selbstverständlich war, dass man ein Rad besaß. Ebenso gab es für diese Unternehmung keine Spezialkleidung (Sport- und Regensachen). Was es aber in großem Maße gab, war die Begeisterung für den Radsport und den Willen, als Team zu siegen. Nach mehreren Probefahrten des Teams startete die Aktion in Hermannstadt am Montag, den 14. März 1970, und dauerte bis Freitag, den 19. März 1970. In fünf Tagesetappen zu ca. 50 km durchfuhren sie den Kreis Hermannstadt bergauf und bergab, begleitet von einer Sicherheitstruppe auf Motorrädern und von einem Bus, der die Erschöpften unterwegs einsammelte. Das Großscheuerner Team kehrte am letzten Tag als Sieger zurück, die Wertung fand auf einer Anhöhe vor der Großscheuerner Ortsgrenze statt, so dass die glorreichen Sieger geschlossen unter dem Jubel der Fangemeinde stolz durch den Ort radeln konnten bis nach Hermannstadt, wo sich alle Teilnehmergruppen einfanden, und wo am nächsten Tag die Siegerehrung stattfand. Die ersten Sieger durften dann beim Wettbewerb auf Landesebene teilnehmen, der im Banat stattfand, von Temeswar ausgehend. Hier errang das Großscheuerner Team den dritten Platz. Der Siegerpreis – eine Reise nach Jugoslawien - für die ersten drei Siegergruppen, den man in Aussicht gestellt hatte, wurde ihnen jedoch vorenthalten. Stattdessen gab es als schwachen Trost und Entschädigung ein Radtrikot, verschiedene Wimpel usw.

Hermannstädter Zeitung Nr. 120 vom 17. April 1970 ...
Hermannstädter Zeitung Nr. 120 vom 17. April 1970
Was aber über all Jahre und Jahrzehnte geblieben ist, ist die Freude am Radfahren als sportliche Herausforderung. Zunächst folgten aber für alle die Ausbildung, Familiengründung, Auswanderung nach Deutschland und hier Neubeginn, der zunächst andere Anstrengungen erforderte. Alle haben diese Aufgaben erfolgreich gemeistert, fanden eine neue Heimat in Gaimersheim (Michael Gräff), in Herzogenaurach (Christian Fuss) und in Bremen (Christian Müller).

Das Radfahren trat wieder verstärkt in den Vordergrund, als sie sich dem Rentenalter näherten bzw. schon Rentner waren und sich dadurch mehr Zeit und Muße für dieses Hobby nehmen konnten. Der Wunsch, den Schulfreund Christian Müller in Bremen zu besuchen, entstand auf dem letzten Großscheuerner Treffen im November 2019 in Ingolstadt. Michael Gräff, schon seit einigen Jahren im Vorruhestand, legte sich 2017 ein E-Bike zu, hat damit schon größere Touren (Großglockner, Donauradweg, Südtirol, Karwendelgebirge) unternommen und hat auch für die Zukunft noch einiges geplant. Christian Fuss hat das Radfahren in den letzten Jahren zu seinem Hobby Nr. 1 gemacht. Es war ihm ein Ausgleich zu seinen beruflichen Herausforderungen, denen er sich bis zum gesetzlichen Eintritt ins Rentenalter im Februar 2021 gestellt hat. Ob in China, wo er die letzten fünf Jahre vor seinem Renteneintritt tätig war, oder zu Hause als Mitglied zweier Rennrad-Gruppen oder vor ein paar Jahren die Teilnahme am BEMER Cyclassics, einem der größten Radsportfestivals in Europa – auch er war sportlich in Topform. Christian Müller aus Bremen hat auf dem Drahtesel in mehreren größeren Touren seine norddeutsche Heimat erkundet.

Nun war es Michael Gräff, der die Initiative ergriff und Christian Fuss spontan animierte, die Fahrt nach Norden anzutreten. Viel Überzeugungsarbeit musste er nicht leisten, lediglich der Termin musste für alle Beteiligten passend gelegt werden. Der gemeinsame Start war am Samstag, den 19. Juni, in Herzogenaurach. In sechs Etappen, im Schnitt täglich 131 km zurücklegend, näherten sich die Sportsfreunde ihrem Ziel Bremen. Der Weg führte sie vorwiegend durch die Flusstäler, zunächst am Rhein-Main-Donau-Kanal entlang über die Domstadt Bamberg bis Schweinfurt, dem Ort der ersten Übernachtung.

Gleich am zweiten Tag dieser Tour folgte die größte sportliche Herausforderung auf diesem Weg und die einzige Bergstrecke: die Durchquerung der Hohen Rhön. Von der bayerischen Seite steigt der Weg steil bergan, hier mussten die Räder streckenweise geschoben werden bis zum Kamm, auf dem die Grenze zwischen Bayern und Hessen verläuft. Danach ging es steil bergab und hier kamen die Bremsen der Fahrräder zum vollen Einsatz – bis Gersfeld, wo der Weg ins gemächliche Tal der Fulda einmündete. In der zweiten Unterkunft mit Biergarten, in Fulda, konnten die beiden die Strapazen der Hohen Rhön auskurieren.

Die Tagesetappen und die Fahrtzeiten hatte Michael Gräff im Vorfeld genau geplant, die Unterkünfte suchten sie jeweils spontan ab 16 Uhr. Das war ein weiteres „Abenteuer“ dieses Unternehmens, das mühelos bewältigt werden konnte.

Der Weg am dritten Tag führte von der alten Domstadt Fulda, am gleichnamigen Fluss entlang, gemütlich durch eine wunderschöne Landschaft bei herrlichem Wetter über Bad Hersfeld nach Melsungen, dem Etappenziel dieses Tages. Bei der gesamten Tour stand die sportliche Herausforderung im Vordergrund, im Klartext hieß das mehr Natur als Kultur.

Die Route des vierten Tages führte von Melsungen zunächst an der Fulda entlang bis Hannoversch Münden im südlichen Niedersachsen. Der Radweg führte die beiden Freunde nun entlang der Oberweser durch den bergigen Süden in Niedersachsen bis Beverungen, dem Etappenziel des vierten Tages. Am fünften Tag starteten sie, wie auch an den vorhergehenden Tagen um 8 Uhr, Richtung Minden. Bis zu ihrem gemeinsamen Endziel Bremen sollte das Flusstal der Weser ihre Route bestimmen. Eine erste wichtige Stadt an diesem Tag war Hameln, als Rattenfänger-Stadt bekannt. Laut dem Märchen der Gebrüder Grimm befreite dieser die Stadt zuerst von der Ratten- und Mäuseplage, indem er auf seiner Flöte eine Melodie spielte und diese ihm daraufhin alle willenlos in die Weser folgten und ertranken. Als der Stadtrat ihm den versprochenen Lohn verweigerte, kehrte er zurück und entführte mit den Zauberklängen seiner Flöte alle Kinder der Stadt in den Untergrund. Sie sollen „im fernen Siebenbürgen“ wieder ans Tageslicht gekommen sein. Soweit das Märchen, das damit einen gedanklichen Bogen in unsere Heimat Siebenbürgen schlägt. Schnell wurde ein Foto vor der Rattenfänger-Halle gemacht und dann ging es weiter nach Minden. Auf dem Weg dahin ging es durch den Weserdurchbruch vorbei an der Porta Westfalica, vorbei am Kaiser-Wilhelm-Denkmal, einem Nationaldenkmal, das 1896 errichtet wurde und die deutsche Einigung feiert. Es markiert den Übergang vom Weserbergland in die norddeutsche Tiefebene. Nun änderte sich auch die Landschaft, das Tal wurde breit, sattgrüne Auen, auf denen Tiere weideten, Wiesen und Felder säumten den Weg. In Gedanken fiel den beiden die Liedzeile ein, die haargenau auf ihre Stimmung und Situation passte: „Wiesen, Felder und Auen, leuchtendes Ährengold, ich möchte so gerne noch schauen, aber das Rad, das rollt.“

Ja, das Rad musste rollen, denn der Zeitplan sollte eingehalten werden und es waren noch über 200 km bis Bremen. Nach 141 zurückgelegten ­Kilometern an diesem Tag war Minden erreicht. Nach der schon routinierten Bezugnahme des nunmehr letzten Quartiers gegen wurde sich geduscht, kurz ausgeruht und dann ein wohlverdientes Abendessen eingenommen.

Am sechsten Tag ging es dann in die letzte und längste Etappe: 175 km mussten von Minden bis Bremen bewältigt werden. Zwar war der Weg eben und dadurch schon fast ein wenig langweilig, aber er führte auch immer wieder weg vom Flussufer durch landwirtschaftlich bebaute Flächen, wo der Radweg plötzlich gesperrt und teilweise nicht gut markiert war. Kein Hindernis, ob Holzzaun, Elektrozaun oder Stacheldrahtzaun, konnte die beiden jedoch in ihrem Drang, am gleichen Tag nach Bremen zu kommen, bremsen. Tatsächlich erreichten sie das Stadtzentrum wie geplant und trafen beim Denkmal der Bremer Stadtmusikanten Christian Müller, der sie dort bereits erwartete. Zu dritt radelten sie die letzten 10 km bis zum Hause des Freundes, wo sie eine Überraschung erwartete: die Verleihung der Medaillen.
Siegerehrung in Bremen: die radsportbegeisterten ...
Siegerehrung in Bremen: die radsportbegeisterten 66-Jährigen (von links) Christian Müller, Michael Gräff und Christian Fuss. Foto: K. Müller
Auf das oberste Treppchen mit der Goldmedaille auf der Brust wurde Christian Fuss platziert, weil er auch beim früheren Wettbewerb „Floarea prieteniei“ an allen fünf Tagen immer Tagessieger war. Auf dem zweiten Treppchen stand – auch in Anerkennung seiner Verdienste bei der Planung und Initiierung der jetzigen Fahrt – Michael Gräff mit der Silbermedaille geehrt. Die Bronzemedaille wurde dem Gastgeber Christian Müller verliehen.

Verantwortlich für diesen schönen Abschluss der gemeinsamen Radtour waren Katharina Müller, die Ehefrau von Christian Müller, und ihre Schwägerin Maria Späck. Für Christian Fuss endete die Radtour hiermit, nicht aber für Michael Gräff. Für diesen hatte die Tour bereits in Gaimersheim bei Ingolstadt begonnen und führte ihn am übernächsten Tag weiter bis Bremerhaven. Damit hatte er stolze 1132 km mit dem Rad zurückgelegt. Wie sang Udo Jürgens? „Mit 66 Jahren …“ Diese Sportkameraden haben den Beweis erbracht, dass mit 66 Jahren noch lang noch nicht Schluss ist.

Susanne Mai, HOG Großscheuern

Schlagwörter: Fahrrad, Reise, Siebenbürgen, Hermannstadt, Großscheuern, Müller, Fuss, Gräff

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