9. Oktober 2023

Geschichte(n) vom „blutrünstigen“ Balkan: Marie-Janine Calics Band „Geschichte des Balkans. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“

Keine Frage: Es sind schon viele Werke zur Geschichte des Balkans geschrieben worden. Meist sind dies dicke „Wälzer“ von mindestens 500 Seiten Umfang. Die renommierte Professorin für ost- und südosteuropäische Geschichte an der Universität München und Autorin mehrerer Standardwerke Marie-Janine Calic hat nun in der Reihe „Beck Wissen“ einen Band im Taschenbuchformat vorgelegt, der mit 128 Seiten auskommt und dabei alle wichtigen Informationen bietet.
Der geschichts- wie konfliktträchtige Raum Europas zwischen den slowenischen Alpen, dem Schwarzen Meer und der Ägäis ist durch eine einzigartige ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt geprägt. Calic führt in die ebenso faszinierende wie wechselhafte Geschichte der Region ein und erklärt, was man wissen muss, um Vergangenheit und Gegenwart des Balkans bis in die jüngste Zeit zu verstehen. Die Autorin vermag es, ihre historische Darstellung und die Interpretation der (Hinter)Gründe historischer und politischer Entwicklungen in eine ausgewogene und gut verständliche Form und Synthese zu bringen.

Calic macht grundsätzliche Problemkonstellationen der Region deutlich, wenn sie etwa festhält: „Für die Balkanvölker wurde jahrhundertelange Fremdherrschaft zum Schicksal.“ (S. 8) Der Balkan selbst wurde zum „Synonym für Rückständigkeit, Irrationalität und Ethnogewalt“, der Terminus „Balkanisierung“ zur Metapher für „zerfallende innere Ordnung und Kleinstaaterei“ (S. 11). Die Autorin nimmt die historisch jene Region so sehr prägenden Großreiche des Römischen, Byzantinischen, Osmanischen und Habsburgischen Reiches genauso in den Blick wie für das 20. Jahrhundert die besondere Rolle der Sowjetunion. Aus ihrer Darstellung wird zudem deutlich, wie Gewaltexzesse gerade vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege und der Jugoslawienkriege am Ende des 20. Jahrhunderts den Ruf der Region als blutrünstig festigten.

Prägnant referiert Calic die sich wandelnden Forschungstraditionen im Blick auf den Balkan seit der ersten Professur für Südosteuropäische Geschichte 1904 in Czernowitz. Zur Begrifflichkeit „Balkan“ oder „Südosteuropa“ verweist sie auf die heute meist synonyme Verwendung. Auch die Neuausrichtung bzw. Erweiterung der Südosteuropaforschung im 20. Jahrhundert thematisiert sie: „Während sich die Südosteuropa-Historiker in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch stark auf die Ereignisgeschichte konzentrierten, gewann ab Ende der 1960er Jahre die (historische) Sozialforschung größeren Einfluss im Fach.“ Wobei „die Rückständigkeit (…) zum überzeitlichen Strukturmerkmal der Region erklärt“ wurde (S. 19f.).

Die Autorin betont, dass der Balkan die einzige Geschichtsregion im östlichen Europa ist, die von der griechisch-römischen Antike geprägt wurde. Als Folge der jahrhundertelangen Herrschaft des Imperium Romanum verbreiteten sich die lateinische Sprache und römische Kultur auch auf dem Balkan. Diese „Romanisierung“ ging von Militärlagern und Städten aus.

Nach dieser Grundlegung in der Antike erörtert Calic in fünf Kapiteln die historische und politische Entwicklung bis zur Gegenwart. Diese Abschnitte orientieren sich sinnvoll an den großen Epochen der Geschichte und bilden präzise auch geistesgeschichtlich relevante Strömungen ab. Dies reicht zunächst von der besonderen Wechselwirkung zwischen Herrschaft und Religion im Mittelalter (7. bis 15. Jahrhundert) über die Phasen der Fremdherrschaft (15. bis 18. Jahrhundert) bis zur aufkeimenden Nationalbewegung, die zur Emanzipation der Völker von den Habsburgern und den Osmanen und den neuen Staatengründungen führte (Ende des 18. bis Anfang des 20. Jahrhunderts). Das 20. Jahrhundert gerät als Ära der beiden Weltkriege in den Blick (1912/13-1945), bevor die sozialistische Epoche geschildert wird (1944/45-1989/90). Ein Ausblick auf den Balkan in der neuesten Zeit beschließt den verdienstvollen Band.

Die renommierte Südosteuropaforscherin vermittelt in ihrer Darstellung in gekonnter wie souveräner Konzentration Geschichte – und manchmal auch „Geschichten“ – vom „blutrünstigen“ Balkan, dessen Völker in ihren Freiheits-, Demokratie- und Emanzipationsbestrebungen genauso in den Blick kommen wie in manchen völkisch-nationalistischen Appetenzen und Irrwegen. Die Geschichte Rumäniens besonders seit dem 19. Jahrhundert findet dabei breite Berücksichtigung. Etwas mehr Aufmerksamkeit hätten die antikommunistischen Volksaufstände von 1953 (DDR), 1956 (Ungarn) und der Prager Frühling 1968 als doch markante Daten europäischen Freiheitsstrebens verdient. Auch der türkische Genozid an den Armeniern 1915 hätte als erster Genozid des 20. Jahrhunderts explizite Erwähnung verdient. Nichtsdestotrotz gilt: Wer sich kurz und bündig über die Geschichte Südosteuropas informieren und diese verstehen will, wird hier bestens bedient.

Jürgen Henkel

Marie-Janine Calic: „Geschichte des Balkans. Von den Anfängen bis zur Gegenwart“. C.H. Beck Verlag, München, 2023, 128 Seiten, drei Karten, 12 Euro, ISBN 978-3-406-80674-2.

Schlagwörter: Geschichte, Südosteuropa, Buchvorstellung

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