23. Januar 2021

Exodus – Zeitzeugen berichten

Das Ende des totalitären Ceaușescu-Regimes markiert einen epochalen Einschnitt in der Geschichte der rumäniendeutschen Minderheit der Siebenbürger Sachsen. Mit den komplexen Prozessen des Exodus hat sich der Historiker Prof. Dr. Hans-Christian Maner in seinem Beitrag „Das Ende der Geschichte? Siebenbürger Sachsen 30 Jahre nach dem Exodus“ auseinandergesetzt. Die Redaktion der Siebenbürgischen Zeitung hat Zeitzeugen dazu aufgerufen, über ihre persönlichen Erfahrungen von Heimatverlust und neuer Existenzgründung zu berichten. Wie bereits in der Siebenbürgischen Zeitung (SbZ) Online vom 23. November 2020 und der SbZ Online vom 23. Dezember 2020 können Sie nachfolgend weitere ausgewählte Zeitzeugenberichte lesen.
Übersiedlung 1990 (aus Tagebuchnotizen)

Pass abheben: Bald hatten fast alle Landsleute aus unserer Gemeinde den Antrag auf Übersiedlung in den Westen bei der Polizei in Kronstadt eingereicht – und auch wir am 22. Januar 1990. Und so kam es zu einer Massenauswanderung der Siebenbürger Sachsen, obwohl die Bundesrepublik Deutschland angeblich mit allen Mitteln versuchte, das Deutschtum in Rumänien zu verankern. Auch andere westeuropäische Länder schickten jede Menge Hilfsgüter und die ev. Kirchengemeinde hatte ihre Mühe, diese zügig und gerecht an alle Bürger zu verteilen (ein Witzbold unserer Gemeinde meinte, er hätte nun so viele Haferflocken, dass er sein Schwein mästen könne). In manchen Gemeinden hatten sich die Siebenbürger Sachsen in landwirtschaftlichen Vereinen zusammengeschlossen, erhielten beispielsweise aus der Schweiz auch landwirtschaftliche Maschinen. Doch so wurden sie bald von ihren Mitbürgern vor allem wegen der Sprachkenntnisse beneidet und gaben ihre Zukunftspläne bald auf. Die meisten sahen somit nur in der Übersiedlung ihre letzte Chance.

Vom Passamt Kronstadt schickte man den Ausreisewilligen zur Verständigung keine Postkarte mehr zu, sondern ein Polizist las jeden Morgen die Namensliste mit den Bewilligungen vor. Es war also zu einem Brauch geworden, dass die Siebenbürger Deutschen aus dem Burzenland, aus dem Repser Ländchen und der Region Fogarasch fast jeden Morgen nach Kronstadt zum Passamt bei der Polizei fuhren (die ehemalige Miliz hieß jetzt Polizei, doch dieselben Leute arbeiteten weiterhin da in ihren Ämtern). Bei diesen Kronstadt-Fahrten wechselte ich mich ab mit Vater. Eines Tages erhielt auch H. mit seiner Familie aus unserer Gemeinde die Bewilligung, allerdings ohne seine alte Mutter. Wir hofften, dass sie die Bewilligung auch bald bekommen würde, damit alle zusammen übersiedelten. Aber es sollte anders kommen ... Am nächsten Tag hörte ich den Polizisten die Namen meiner Eltern – und dann auch meinen vorlesen. Ich kam also mit der guten Nachricht und einem Papier heim, doch meine Eltern waren nicht erfreut, obwohl wir auf diesen Moment schon seit langem ungeduldig gewartet hatten. Mutter meinte sogar, dass wir vor dem Herbst keinesfalls weg könnten.

Dann ging der Papierkrieg erst richtig los. Denn den Pass zur Übersiedlung bekam man erst, wenn man bei allen Ämtern abgeschlossen hatte. Für die Abhebung des Reisepasses musste man also die abgestempelten Unterlagen von allen möglichen Behörden vorzeigen, dass man keine Schulden irgendwo hatte. Wir vereinbarten also mit H., die Akten gemeinsam zu erledigen und zusammen in die BRD zu übersiedeln. Zuerst fuhr ich zusammen mit ihm in die nächste Stadt Reps. Wir gingen als erstes zur Bank wegen der Bestätigung, dass wir da keine Schulden haben. Die Mitarbeiter waren jedoch alle verreist und arbeiteten erst in der folgenden Woche wieder. So ging ich weiter zum Elektrizitätswerk. Eigentlich wollte ich bloß sehen, was man da alles benötigte für die abgestempelte Bestätigung. Schon an der halb offenen Tür stand, dass man vor Eintritt den Stromzähler abgelesen haben muss. Das hatte ich nicht, aber trotzdem steckte ich den Kopf rein, um weitere Infos zu erfahren. Die Kassiererin sah mich und winkte mir zu einzutreten. Als ich ihr sagte, dass ich den Zähler noch nicht abgelesen hätte, meinte sie „kein Problem“, wir könnten trotzdem alles schnell erledigen, denn sie müsse weg. Also schrieb ich schnell zwei Anträge und sie erledigte alles andere. Ich hatte auch die 4000 Lei nicht dabei für den Strom, den wir in den nächsten vier Monaten verbrauchen konnten. Aber ich hatte ein Päckchen Zigaretten und eine gut riechende Seife dabei, was ich ihr gerne gab, weil sie so nett zu mir war, und so bekam ich die Bestätigung. Ein älterer Herr tat mir leid, denn er hatte den Stromverbrauch ohne die Zahl nach dem Komma abgelesen und musste deshalb nächste Woche wieder kommen – und weil die Kassiererin eilig weg musste.

Dann ging ich um die Bestätigung für die Begleichung der Kanalisationskosten, die ich brauchte, obwohl es in unserer Gemeinde keine Kanalisation gab. Darauf musste ich den Schornsteinfeger drei Monate im Voraus bezahlen, obwohl ich seit meiner Kindheit keinen „echten Schornsteinfeger“ gesehen hatte. Er musste wohl bei uns vorbeikommen, doch er hatte es jahrelang „hinausgeschoben“. Das Fräulein, das mir die Bestätigung aushändigen sollte, war verreist, und wenn ich einer Mitarbeiterin da nicht auch eine Seife gegeben hätte, hätte ich wohl nächste Woche wiederkommen müssen. H. wohnte in Miete in einem Haus, das seit der Übersiedlung der Besitzerfamilie dem Rathaus gehörte. Er musste die Miete nun für die nächsten drei Monate im Voraus bezahlen. Er könne noch da wohnen in dieser Zeit, meinte die Kassiererin. H. wollte aber lieber übersiedeln, als da weiter zu wohnen. Dann bekamen wir noch je eine Bestätigung von der Post, dass wir Fernseher und Radio abgemeldet hatten. Vater hatte inzwischen vom Rathaus eine Bestätigung geholt, dass wir da keine Schulden hätten.

Am nächsten Tag fuhr ich wie gewöhnlich morgens mit dem 5-Uhr-Zug in unsere Kreisstadt Kronstadt zum Denkmalamt mit alten Büchern, die man mir abstempeln musste, da sie vor 1952 erschienen waren. Dazu musste ich auch jene abstempeln lassen, die im Ausland erschienen waren, obwohl ich sie in Buchhandlungen unseres Landes gekauft hatte. Jedes Abstempeln kostete vier Lei, bei manchen Büchern fast so viel, wie das Buch selbst. Dann ging ich auch gleich zur Rentenversicherung, um meine Eltern da abzumelden. Doch Vater musste am nächsten Tag persönlich erscheinen, weil ich das genaue Datum der Übersiedlung nicht wusste, da wir noch keine Reisepässe hatten – doch die konnten wir noch nicht bekommen – ein Teufelskreis, den man nur mit einem Trinkgeld oder „Geschenk“ durchbrechen konnte. H. musste mit Vater mit einer Vollmacht seiner alten Mutter wiederkommen, um die Rente für sie abzumelden, obwohl sie nicht mal die Bewilligung des Reisepasses hatte, sonst hätte sie später allein nach Kronstadt fahren müssen – was dann auch der Fall war. Eine weitere „wichtige“ Bestätigung war jene über die Unbedenklichkeit der eigenen Fingerabdrücke. Man munkelte, dass sich unter die Ausreisewilligen auch Geheimdienst-Terroristen mischten, und die wollte man aufspüren. Diese Bestätigung erhielt man jedoch nur von der Polizei der Kreisstadt, in deren Umkreis man geboren war (fast wie in der Weihnachtsgeschichte). Ich war in Schäßburg geboren, also brauchte ich die Bestätigung von Neumarkt. Meine Mutter ebenso, mein Vater brauchte sie von Kronstadt. Meine Eltern erledigten die Abgabe der Fingerabdrücke im nahen Reps und die Unterlagen wurden weitergeschickt. Ich fuhr direkt zur Polizei nach Neumarkt, weil das schneller ging. Nach Erhalt meiner Bestätigung fragte ich nebenbei auch nach Mutters Unterlagen mit den Fingerabdrücken. Und erstaunlicherweise fand der freundliche Polizeioffizier Mutters Unterlagen in einem Stapel Papiere, den jemand auf einem Schrank abgelegt hatte. Er holte dann die abgestempelte Bestätigung von seinem Chef und meinte, ich hätte Glück gehabt. Denn hätte er Mutters Unterlagen nicht da auf dem Schrank gefunden, hätte sie noch mindestens einen Monat warten müssen. Ich gab dem Polizeioffizier darauf ein Päckchen Zigaretten – „nach altem Brauch“, sagte ich. Zu meinem Erstaunen ging er auf meinen Witz ein und nahm lächelnd das Päckchen. Vaters Bestätigung kam nach drei Wochen von der Kronstädter Polizei. Danach brauchte ich noch die Bestätigungen, dass ich keine Schulden am Arbeitsplatz hätte. Und schließlich die von der Bank in Reps, wo ich am Anfang vergebens war.

Endlich hatten wir alle Bestätigungen abgestempelt beisammen, doch ich bekam meinen Reisepass von der Polizei in Kronstadt doch nicht. Denn an meinem Arbeitsplatz hatte man vergessen einzutragen, dass ich da keine Schulden hatte. Also fuhr ich zügig von Kronstadt nach Mediasch die ca. 150 km mit dem Schnellzug. Die Sekretärin unserer Schule, wo ich arbeitete, tippte schnell noch einen Satz auf das Bestätigungspapier – und dann erhielten wir endlich die Reisepässe in Kronstadt.

Michael Schuller, Waiblingen

Festveranstaltung „850 Jahre Siebenbürger ...
Festveranstaltung „850 Jahre Siebenbürger Sachsen“ am 27. Oktober 1991 in der denkwürdigen Frankfurter Paulskirche, wo 1848 bis 1849 die Delegierten der Frankfurter Nationalversammlung, der ersten Volksvertretung für ganz Deutschland, tagten. Foto: Horst Fleischer
Ausreise war goldrichtig

Im Frühjahr 1972 wurde mein Schwiegervater in die Angergasse zur Securitate einbestellt. Nach stundelanger sorgenvoller Wartezeit unsererseits kam er gegen 22 Uhr heim. Vati rief uns zusammen und berichtete das Ansinnen der Genossen Securisten: General B. wolle in das Haus meiner Schwiegereltern einziehen. Als Gegenleistung sollten die sieben Familienmitglieder die Ausreise erhalten. Voraussetzung war die Schenkung des Anwesens an den Staat.

Nach Enteignung, Deportation und den wiederholten Schikanen seitens der Behörden, blieb meinen Schwiegereltern lediglich das Haus mit Garten übrig. Allerdings ein Haus mit Hof, Tiefgarage, Garten, Terrasse mit Rosenbeeten, Obstbäumen, Steingarten, alten Nussbäumen, mit unverbaubarem Blick auf unseren Hausberg „Die Zinne“. Die Schenkung, ohne Ansprüche irgendwelcher Art an den Staat musste vorab geleistet werden. Bei Kenntnis der korrupten Behörden war die Entscheidung, dieses Pfand ohne Rückversicherung dem Staat zu schenken, sehr mutig. Die Schenkung, notariell beglaubigt mit der Eintragung in das Grundbuch, fand statt. Die Notargebühren für die Schenkung mussten niederträchtiger Weise auch von den Schwiegereltern bezahlt werden. Nun ging es recht flott voran. Wir räumten ein Zimmer, das einen Ausgang zur Gartenterrasse hatte. Zwei Mann mit einem weißen Pkw Wolga Kombi brachten eine Liege und bewachten im Wechsel das Objekt ihrer Begierde bis zu unser Abreise. Wir hatten im Vorfeld keinen Ausreiseantrag gestellt. Der Passamtsvertreter besuchte uns und brachte die nötigen Formulare zur Antragstellung mit. Unter seiner Aufsicht füllten wir diese aus.

Kurze Zeit später erhielten wir die Nachricht, die Ausreisegenehmigung liege vor. Nun musste eine Liste mit 27 zu leistenden Unterschriften bei den Behörden abgearbeitet werden. Bei mir waren es 28, da die drei Jahre nach der Entlassung aus dem Militärdienst nicht vorbei waren und ich als Geheimnisträger eingestuft wurde. Das Ganze war eine Lachnummer, da ich bei einer Arbeitseinheit gedient hatte, keine Waffe hatte und auch nie an einer Schießübung teilgenommen hatte. Mit entsprechender Nachhilfe (!) bekam ich die Bestätigung, kein Träger von Staatsgeheimnissen zu sein. Wir erhielten die Pässe mit dem Eintrag, das Land nur über den Flughafen Bukarest verlassen zu dürfen. Die Fluglinie teilte uns mit, es gebe für dieses Jahr keine Tickets mehr. Vati trat wieder den Gang zur Securitate an und General B. beschaffte uns innerhalb von Tagen die Flugtickets. Als Abflugdatum wurde der 25. Juni bestimmt. Wir mussten in drei Wochen das Land verlassen. Einen Haushalt aufzulösen ist eine Sache, aber in so kurzer Zeit einen Drei-Generationen-Haushalt besenrein zu übergeben, eine andere. Die antiken Möbel, Uhren, Schmuck, altes Porzellan und Bilder brachten wir zum Teil bei Verwandten und Freunden unter. Einen Teil versuchten wir zu veräußern. Gartenmöbel, Bücher, Schaukelstuhl, Laufstall usw. verschenkten wir. Schlussendlich öffneten wir das Tor, stellten die restlichen Sachen im Hof ab und die Nachbarn bedienten sich. Die Bibliothek mit wunderbaren Büchern und Lexika blieb im Haus.

Meine Schwiegermutter habe ich damals das erste Mal erschüttert erlebt, als ihr Klavier, das sie als junges Mädchen geschenkt bekommen hatte, verkauft, aus dem Haus geschleppt und abtransportiert wurde.

Für drei Personen wurden uns 60 kg Gepäck zur Mitnahme gestattet. Darunter waren Spielzeug, eine Puppe, Topfi, Windeln, 200 Fotos abgezählt und Kleidung. Wegwerfwindeln gab es zu der Zeit bei uns noch nicht.

Die Verzollung unseres Gepäcks beim Hauptzollamt in Bukarest erledigte mein älterer Bruder. Seiner Aussage nach waren dort selbst die Wachhunde korrupt. Vom Torsteher bis zum Chef hatten alle ihren Preis. Unsere Schildkröte Ludmila, die wie ein russischer Panzer durch den Garten pflügte, und Maxi, der Hund meines Schwagers, ein großer braver Boxer, der seine gute Erziehung nur dann vergaß, wenn der Postträger oder die Zigeuner auftauchten, blieben zurück.

Am 25. Juni hoben wir vom Flughafen Bukarest ab. Wir saßen hinten. Unsere zweieinhalbjährige Tochter lief zwischen uns und den Schwiegereltern, die vorne saßen, auf und ab. Dabei sang sie „O du lieber Augustin, alles ist hin“. Die Entscheidung zwischen Weinen oder Lachen fiel zugunsten des Letzteren aus. Wir landeten in Frankfurt am Main und wurden erwartet. Bereits im Flughafen beeindruckte mich ein Zeitungsspender. In diesem stapelten sich Zeitungen in mehreren Sprachen, bunte Zeitschriften und eine Menge Taschenbücher. Vom erhaltenen Taschengeld kaufte ich mir ein Buch. Mit dem Bus ging es weiter nach Nürnberg. Ich saß vorne in Höhe des Fahrers, schaute hinaus und wartete auf Schlaglöcher im Belag der Autobahn. Zu meiner Verwunderung gab es keine.

Nach Registrierung, Kleiderkammer und einer Übernachtung nahmen mein zweiter Schwager und dessen Ehefrau unsere Tochter nach München mit. Auf Einladung der Otto Benecke Stiftung fuhren meine Frau und ich anschließend nach Gießen. Hier verbrachten wir zwei wundervolle Tage und wurden ausgiebig beraten.

Von Gießen ging es nach Geretsried ins Lager. In einer der Baracken bekamen wir ein Zimmer zugewiesen mit zwei Stockbetten, einem Einzelbett, einem Kohle-Beistellherd, Bettwäsche, zwei Sicherungen und einen Vordruck, um den Stand des Stromzählers einzutragen. Die WCs und Waschtröge mit kaltem Wasser waren auf der anderen Seite des Ganges. Außer dem Kohle-Beistellherd (wir hatten Erdgas daheim) kannte ich alles von unseren Hütten und meinem Aufenthalt beim Militär. Schon zwei Wochen später wurde ich bei einer Stahlbaufirma eingestellt und begann zu arbeiten. Da wir im Oktober unser zweites Kind erwarteten, erhielten wir nach kurzer Zeit eine Zwei-Zimmer-Wohnung im Wohnheim. Unsere Nachbarn dort, Deutsche aus Polen, hatten bereits einen Farbfernseher und wir sahen gemeinsam die Olympiade. Es ging nur noch aufwärts.

Rückblickend war die Entscheidung, alles stehen und liegen zu lassen, goldrichtig. In Freiheit, selbstbestimmt, auf Gletschern skifahren, in Länder reisen, von denen man 28 Jahre geträumt hatte, seine Meinung frei äußern, das können besonders wir schätzen, die dieses Privileg vorher nicht hatten.

Dieter Heldsdörfer, Puchheim



„Es ist die versprochene Heimat, die uns heimatlos macht.“ (Dorothee Sölle)

Über die Menschen und das Land, wo meine Wiege stand, möchte ich kein unpassendes Wort verlieren. Hier habe ich eine wunderbare Kindheit, Ausbildung und Bildung, soweit möglich, sowie Beruf erlebt. Diese Gemeinschaft zu verlassen ist mir schwer gefallen und belastet mich heute noch. Es hat mich viel zu viel Seele gekostet.

Wie habe ich die Ankunft und das Zusammenleben in Westdeutschland erlebt: Zuallererst waren die zwischenmenschlichen Beziehungen anders, sehr anders. Es war keine Familienzusammenführung. Der im Osten stets nachlassende Leistungswille war dann im Westen plötzlich sehr hoch, gleichzeitig wurde der Begriff Heimat bei so manchem präsenter und bedeutungsvoller. Denn in unserer Einzigartigkeit und Originalität, so wie wir uns sehen wollten, sind (waren) wir nur in Siebenbürgen in Gemeinsamkeit mit Rumänen, Ungarn, Sinti und Roma u. a.

Schon vor 1989 schrieb Gregor von Rezzori: Die Siebenbürger Sachsen hatten „einen sicheren Stand in ihrer unanzweifelbaren Identität. Sie waren in erster Linie Siebenbürger Sachsen, deutsch zwar ihrer Herkunft und der Sprache nach, aber gänzlich eigenständig, bodenständig, sie selbst, tiefverwurzelt in einem Land, das seit fast einem Jahrtausend ihr eigenes war... Sie blieben zwar verbunden der deutschen Ursprungswelt, aber ihr nicht hingegebener als etwa die deutschsprachigen Schweizer. Als sie das dann vergaßen...“ (Blumen im Schnee, 1989)

Seit ich in Deutschland bin, bemühe ich mich um Akzeptanz in der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Landschaft, um die Erhaltung der freiheitlichen, demokratischen Werte und hinterfrage fast täglich meine siebenbürgisch-kosmopolitische Verhaltensweise. Ein so emotionsbeladenes Geschehen in all seiner materiellen, geistig-seelischen Vielfalt – kann man so etwas in Wort und Schrift erfassen? Herr Prof. Dr. Hans-Christian Maner hat es versucht. Dafür bin ich ihm dankbar.

Johann Mauer, Freilassing



Ausgesiedelt oder ausgesiedelt worden?

Der Aufruf in der Siebenbürgischen Zeitung an Zeitzeugen zur Schilderung ihrer Erinnerungen an den Exodus und der Artikel „Das Ende der Geschichte? „von Prof. Dr. Maner in der Ausgabe vom 10. November 2020 haben mich nachdenklich gestimmt und dazu bewogen, einige Gedanken zum Exodus meiner Familie niederzuschreiben. Damit mich Leserinnen und Leser einordnen können: Ich bin Jahrgang 1953, habe meine Schulbildung inklusive Hochschulstudium in Rumänien absolviert, war fünfeinhalb Jahre in führender Position in Rumänien tätig und durfte legal mit Frau und Tochter im März 1983 nach Deutschland aussiedeln.

Über die Aussiedlung der Siebenbürger Sachsen ist insbesondere nach 1989 viel geschrieben worden. Eine sehr klare Analyse des Aussiedlungsprozesses stellt aus meiner Sicht der oben genannte Artikel von Prof. Maner dar. Die grundsätzliche Frage, die mich schon immer beschäftigt hat, ist die nach dem Hauptgrund bzw. den Hauptgründen für die Aussiedlung der Mehrheit der Siebenbürger Sachsen. Meine Auffassung hierzu fußt auf eigenen Erfahrungen und vielfachem Gedankenaustausch mit anderen Landsleuten.

Nach meiner Einschätzung umfasst die Migration der Siebenbürger Sachsen aus Rumänien nach Deutschland drei Abschnitte. Der erste Abschnitt ist als unmittelbare Folge des Zweiten Weltkrieges einzustufen, der zweite deckt die Zeit des Sozialismus ab und der dritte die Periode nach dem Fall des Eisernen Vorhanges. Da ich nun selber das Glück oder das Pech hatte, je nachdem wie man es sieht, in der Sozialistischen Ära geboren zu werden und aufzuwachsen, werde ich auch nur diese Zeit als Rahmen für meine Betrachtungen heranziehen. Es war die Zeit, in der die deutsche Minderheit in Rumänien ihre bürgerlichen Rechte wieder zurückbekommen hatte. Die kommunistischen Herrscher führten neue wirtschaftliche Strukturen ein, die sowohl die Minderheiten wie auch die mehrheitliche rumänische Bevölkerung betrafen. Die deutschen Schulen und kulturellen Einrichtungen durften sich weitgehend ungestört entfalten, die Kirche verstärkte wieder ihre Wirkung in der sächsischen Gemeinschaft, es gab deutsche Zeitungen wie auch Radio- und TV-Sendungen in deutscher Sprache. Selbstverständlich geschah dies alles unter dem strengen ideologischen Auge der kommunistischen Führung. Ab Mitte der sechziger Jahre setzte eine, wenn auch nach heutigen Maßstäben bescheidene, wirtschaftliche Entwicklung ein, die bis in die zweite Hälfte der siebziger Jahre anhalten sollte. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ging auch eine bestimmte Liberalisierung in der Gesellschaft einher. Von diesen positiven Entwicklungen profitierten selbstverständlich auch die Mitglieder unserer siebenbürgischen Gemeinschaft: durch bessere Verdienstmöglichkeiten und ein differenzierteres Materialangebot setzte für damalige Verhältnisse eine rege private Bautätigkeit ein, der Wohnkomfort nahm durch neue Gestaltungs- und Ausstattungsmöglichkeiten zu, die Berufsausbildungs- und Studiermöglichkeiten standen jedem, unabhängig von seiner sozialen und ethnischen Herkunft offen. Sofern man sich regelkonform verhielt, was für die Siebenbürger Sachsen naturgemäß weitgehend galt und gilt, brauchte man auch keine Repressalien zu fürchten. Diskriminierungen am Arbeitsplatz aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit waren so gut wie nicht gegeben. Und dennoch nahm der Drang zur Aussiedlung nach Deutschland mit Ablauf der Zeit immens zu. Warum war das so? Nun, dafür gibt es sicherlich vielfältige Gründe. Als wesentliche Motivation für die Aussiedlung habe ich jedoch drei Hauptfaktoren empfunden.

Nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Rumänien und der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1967 nahmen die Besuche von Siebenbürger Sachsen aus der Bundesrepublik in Siebenbürgen zu. Bei diesen Gelegenheiten vermittelten die Besucher den etwas weniger weltgewandten Sachsen in ihrer Heimat das Wohlstandsbild Deutschlands und die damit verbundenen Verwirklichungschancen jedes Einzelnen. Parallel dazu verlief der wirtschaftliche Niedergang im sozialistischen Paradies ab etwa Ende der siebziger Jahre, der zu Perspektivlosigkeit führte und gleichzeitig die Schaffungsmotivation des Einzelnen hemmte. Als Drittes möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass die Bestrebungen vieler Siebenbürger Sachsen zur Familienzusammenführung durch die Aussiedlungen ab den fünfziger Jahren stetig zunahmen, zumal sie auch außerhalb des ersten Verwandtschaftsgrades ausgeweitet wurden. Allerdings dürfte das Motiv der Familienzusammenführung vielfach ein vorgeschobener Grund gewesen sein. Zu den genannten, aus meiner Sicht wichtigsten Gründen gesellten sich die ordnenden politischen Rahmenbedingungen für die Aussiedlung, die aus den Verhandlungen der beiden betroffenen Staaten resultierten, der von der Landsmannschaft ausgeübte Druck pro Aussiedlung, wie auch vereinzelte Repressalien durch den rumänischen Staatsapparat. In diesem Kontext fand die Aussiedlung meiner Familie statt, die im Rückblick ziemlich unspektakulär verlief. Nach dem frühen Tod meines Vaters 1975 konnte meine Mutter 1977 nach mehreren Anläufen zu ihrer Schwester und ihrem Bruder zu Besuch in die Bundesrepublik reisen. Endgültig abgesprochen war ihr Verbleib in der Bundesrepublik nicht, was aber nahe lag. Meine Mutter war in Deutschland angekommen, hatte aber ihre Entlassung aus der rumänischen Staatsangehörigkeit noch nicht beantragt, ich steckte im Staatsexamen, meine Frau arbeitete als Erzieherin in Kronstadt und unsere kleine Tochter Birgit befand sich in der Obhut ihrer Großeltern auf dem Lande. In Kronstadt durften meine Frau und ich uns ein Dreizimmerappartement mit weiteren zwei Familien teilen. Alles in allem eine verzwickte Situation. Wie mir ein Studienkollege nach der Wende mitteilte, hat er mich nach der Ausreise meiner Mutter im Auftrag des Geheimdienstes beobachtet und über mich berichtet. Ich gehe davon aus, dass seine Berichte zu meinen Gunsten ausgefallen sind, weil mir keine Nachteile auf dieser Basis entstanden sind.

Nach Abschluss des Studiums und einem kurzen Exkurs im Forstamt Talmesch konnte ich zu Beginn des Jahres 1978 die von mir ersehnte Stelle beim Forstamt Mediasch antreten. Gleichzeitig bekam meine Frau durch Tausch eine Stelle als Kindergärtnerin ebenfalls in Mediasch. Eine kleine Wohnung wurde uns durch meinen Arbeitgeber zur Verfügung gestellt. Für den Anfang war zunächst alles in Ordnung. Es war aber auch die Zeit, in der immer mehr Siebenbürger Sachsen die Ausreise nach Deutschland beantragten. Die Lebensverhältnisse verschlimmerten sich zusehends, Lebensmittel wurden teilweise rationiert, Benzin und Diesel waren an der Tankstelle kaum noch erhältlich. Nach einer zugegebenermaßen nicht zu tiefgehenden Analyse unserer Zukunftsperspektiven in Rumänien und der beruflichen Chancen in Deutschland, wozu eine weitreichende Faktenbasis fehlte, haben wir uns letztendlich für die Aussiedlung entschlossen. Es begann nun die zermürbende Zeit zwischen der Antragstellung und Aussiedlung, mit den wirkungslosen Audienzen beim Passamt und den Versuchen, über bestimmte Personen Einfluss auf die Entscheidung über unseren Aussiedlungsantrag zu nehmen. Zu allem Überfluss musste ich 1980 auch noch meinen sechsmonatigen Wehrdienst in einer Einheit für „Spezialfälle“ ableisten. Nach meinen bis dahin ergebnislosen Bemühungen bot mir eines Tages ein Kollege, der über die Jagd gute Beziehungen zum Geheimdienst und der Kreisparteiführung hatte, seine Hilfe an. Auf meine Frage, was sein Einsatz denn kosten werde, sagte er: sollte Deine Ausreise gelingen, kannst Du mir ja eine Gefriertruhe aus Deutschland schicken. Ob nun der Einsatz des Kollegen geholfen hat oder nicht, kann ich bis heute nicht zweifelsfrei beurteilen. Tatsache ist, dass wir irgendwann die Nachricht bekamen, die „großen Formulare“ abzuholen und ausgefüllt einzureichen. Alleine die telefonische Nachricht des Postboten, dass er einen Brief vom Passamt vorbeibringen würde, war für uns und einige unserer Freunde Anlass genug, eine Feier zu starten. Im März 1983 durften wir dann endlich ausreisen. Die Gefriertruhe habe ich dem Kollegen selbstverständlich kurz nach unserer Ankunft in Deutschland geschickt. Er hat mich später auch mehrmals in der neuen Heimat besucht.

Nach unserem Entschluss, nach Deutschland auszusiedeln, und bis zu unserer Ausreise habe ich selbst keine dienstlichen oder sonstige Nachteile erdulden müssen. Kollegen, Mitarbeiter und Vorgesetzte haben sich jederzeit fair mir gegenüber verhalten. Mit vielen habe ich lange Zeit einen engen Kontakt gepflegt, mit wenigen tue ich es auch heute noch. Im Gegensatz zu mir wurde meine Frau ein Jahr vor unserer Ausreise aufgrund ihrer Untauglichkeit für erzieherische Tätigkeiten im Sozialismus entlassen. Dieses Schicksal hat wohl viele Lehrer, Lehrerinnen und Kindergärtnerinnen ereilt. Zum Schluss die Antwort auf die Frage, ob ich und meine Familie aus freien Stücken ausgesiedelt sind oder durch Fremdeinwirkung aussiedelten. Ich denke, beides gilt. Wir haben uns zwar freiwillig zur Aussiedlung entschlossen, doch ohne den Druck der geschilderten Rahmenbedingungen, zum einen die prekäre Situation in Siebenbürgen und zum anderen die von Ausgesiedelten geschilderten rosigen Aussichten in Deutschland, wäre dieser Entschluss aus heutiger Sicht nicht zustande gekommen. Insofern gilt ausgesiedelt, aber auch ausgesiedelt worden.

Nach unserer Ankunft in Deutschland begann nun die spannendste Odyssee in unserem Leben. Ähnlich dürfte es vielen unserer Landsleute ergangen sein. Deshalb halte ich Integrationserlebnisse zumindest genauso interessant, wenn nicht sogar viel spannender als Exodusgeschichten. Der Eigliederungsprozess der Siebenbürger Sachsen in Deutschland hat viele Facetten. Dazu zählen neben der kulturellen und wirtschaftlichen ebenso die soziale, politische und strukturelle Integration. Je nach Betrachtungsweise kann die Integration unserer Landsleute als abgeschlossen oder noch im Gange betrachtet werden. Vielleicht gibt es demnächst in dieser Zeitung einen Aufruf auch zu diesem Thema.

Horst Karl Dengel, Düsseldorf



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Schlagwörter: Zeitzeugen, Zeitzeugenberichte, Exodus, Integration, Siebenbürgische Zeitung, Geschichte, Zeitgeschichte, Securitate, Hermannstadt, Kronstadt

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