12. Mai 2017

Was hat Sauerkraut mit Integration zu tun? Ludwig-Uhland-Preis für den Historiker Mathias Beer

Der Historiker Dr. Mathias Beer, Geschäftsführer und stellvertretender Leiter des Tübinger Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, hat den alle zwei Jahre verliehenen Ludwig-Uhland-Preis erhalten. Der seit 1992 von dem Adelshaus Württemberg gestiftete, hoch dotierte Preis wurde dem Preisträger am 26. April, dem Geburtstag des Dichters Ludwig Uhland, von Carl Herzog von Württemberg im Ordenssaal des Schlosses Ludwigsburg überreicht. Rund 150 geladene Gäste aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft wohnten dem musikalisch umrahmten Festakt bei.
Carl Herzog von Württemberg unterstrich die Zielsetzung des Preises, Personen zu ehren, die maßgeblich zum Verständnis der Kultur Württembergs und des deutschen Südwesten beitragen. Den Träger des Preises, für den keine Bewerbung möglich ist, wählt eine Jury aus. Diese würdigte mit ihrer Entscheidung Dr. Beers Forschungen zur Zuwanderungsgeschichte der Vertriebenen und Flüchtlinge aus Südosteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit seiner Forschungs- und Vermittlungsarbeit greife er „eine Thematik auf, die für die heutige Gesellschaft Baden-Württembergs maßgeblich ist und zu der er einen zentralen und in seiner Perspektive besonderen Beitrag geleistet hat.“

Die Laudatio auf den Preisträger hielt Manfred Lucha, Minister für Soziales und Integration in der baden-württembergischen Landesregierung. Lucha begründete die Preisverleihung an den ausgewiesenen Migrationsforscher mit dessen bahnbrechenden wissenschaftlichen Leistungen auf dem Forschungsfeld „Migration und Integration“ und dessen persönlichem Engagement in der Flüchtlingshilfe. „Integration beruht auf Zusammenhalt, Zusammenhalt braucht Vorbilder“, so der Laudator. Dr. Beer untersuche die komplexen Probleme von Migration nicht nur in der Gelehrtenstube, sondern bringe sich durch Vorträge, Pressebeiträge und durch das Medium Ausstellung („Fremde Heimat“, „Ihr und Wir“) in den öffentlichen Migrationsdiskurs ein. Er habe in seinen zahlreichen Publikationen gezeigt, dass Einwanderung eine Chance biete, nicht nur für den unmittelbar Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt, die sich damit weiterentwickle. Die Wissenschaft stehe weder unter dem Termindruck der Politik, noch müsse sie dem Zeitgeist nachgehen, da ihre Ergebnisse nicht dem Zweck der Verwertbarkeit unterliegen, so der Minister. Eine wichtige Erkenntnis, die nach Dr. Beers Meinung die Politik aus der historischen Forschung gewinnen könne, ist, dass Integration der Aufnahmebereitschaft der eingesessenen Bevölkerung wie auch politischer Kompromisse bedarf.

Der Preisträger, so Minister Lucha, habe Baden-Württemberg als Migrationsland beschrieben, als Aus- und Einwanderungsland zugleich. Er habe sich mit der Entstehung und Entwicklung der Integrationskonzepte von Flüchtlingen und Vertriebenen im Gefolge des Zweiten Weltkriegs befasst und aufgezeigt, wie diese nach Generationen „heimisch“ geworden sind, somit wie Integration vonstattenging. Dabei habe er oft persönliche Zeugnisse in den Mittepunkt seiner Forschungen und Ausstellungen gestellt und damit Integration für die breite Öffentlichkeit erfahrbar gemacht. Nicht zuletzt spiegle sich in seinem umfangreichen Werk auch die persönliche Migrationsgeschichte von Dr. Beer. Im Land der Vielfalt Baden-Württemberg passe das Wirken des national und international bekannten Forschers in das Jahr 2017: Vor dem Hintergrund des Wandels der „Willkommenskultur“ stehe es für „humanitäre Verpflichtung und gesellschaftlichen Zusammenhalt“.
SKH Carl Herzog von Württemberg (links) und Dr. ...
SKH Carl Herzog von Württemberg (links) und Dr. Mathias Beer. Quelle: IdGL
Die Dankesrede des aus Neppendof stammenden Preisträgers trug in der Überschrift den Zusatz „Zur gesellschaftlichen Bedeutung des Bindestrichs“. Seinen Überlegungen stellte Dr. Beer seine persönlichen Begegnungen mit dem Namensgeber des Preises, Ludwig Uhland, voran: die zum Unterrichtsstoff rumäniendeutscher Schulen gehörende Ballade „Des Sängers Fluch“, oder das vielfach gesungene und gespielte Volkslied „Ich hatt‘ einen Kammeraden“, das bei Beerdigungen zum Repertoire jeder siebenbürgischen und Banater Blaskapelle gehörte. Nachgespürt hat er aber einem Uhland-Zitat aus dem Metzelsuppenlied des Dichters, das mit Migrationsvorgängen verbunden ist und die Dankesrede in verfremdeter Form wie ein roter Faden durchzog: „Auch unser edles Sauerkraut,/ Wir sollen’s nicht vergessen;/ Ein Deutscher hat’s zuerst gebaut,/ Drum ist’s ein deutsches Essen./ Wenn solch ein Fleischchen, weiß und mild,/ Im Kraute liegt, das ist ein Bild/Wie Venus in den Rosen.“

Der Aufbau des Vortrags ähnelte dem Zugang Dr. Beers bei seinen Forschungen: Die Geschichte der kleinen Leute und die große, über deren Köpfe hinweg verlaufende Geschichte sind eng miteinander verknüpft. Dies veranschaulichte er an eigenen existentiellen wie auch an gesellschaftlichen Erfahrungen der deutschen Minderheit in Rumänien in den beiden Weltkriegen und in der Zeit des Kommunismus. Er ging zunächst auf sprachliche und kulturelle Vielfalt im Herkunftsgebiet ein. Als Fünfjähriger soll er nach der ersten Woche des Kindergartenbesuchs seinen Eltern stolz berichtet haben: „Jetzt spreche ich schon vier Sprachen!“ – den landlerischen Dialekt seiner im 18. Jahrhundert nach Siebenbürgen deportierten Vorfahren, das Siebenbürgisch-Sächsische der Hermannstädter Stadtbevölkerung, das im Kindergarten erlernte Hochdeutsch und die rumänische Landessprache. „Diese Vielfalt, in der ich sozialisiert wurde und die mir den Blick für das Andere öffnete, schlug sich in allen Bereichen des Alltags nieder, wenn sie auch kaum thematisiert und schon gar nicht als bereichernd empfunden wurde“, so Beer.

In einem zweiten Schritt wandte sich der Preisträger den von ihm erfahrenen Formen von Vielfalt und Zusammenhalt zu. Für Beer, der u.a. auch einen Aufsatzband über „Essen und Migration“ herausgebracht hat, ist Sauerkraut ein Bestandteil der Esskultur, nicht nur der Deutschen. Am Sauerkraut, beginnend mit der sächsischen Küche über das allen Siebenbürgern bekannte geschichtete Klausenburger Kraut (ung. Kolozsvári rakott káposzta, rum. varză à la Cluj) und bis zu den regional unterschiedlichen Arten von Krautwickeln (rum. sarmale) und den türkischen Kohlrouladen, machte er interethnische Kontakterscheinungen und kulturelle Austauschprozesse fest. Uhlands Metzelsuppenlied wirft daher nach Dr. Beer grundlegende Fragen auf, wie: „War die Kohlroulade, wenn auch noch so sehr sprachlich veredelt, allein ein deutsches Essen?“ Hierin verdichteten sich Aspekte von Vielfalt, Begegnung, Selbst- und Fremdwahrnehmung.

In engem Zusammenhang mit seiner eigenen Migrationsgeschichte leitete Dr. Beer im dritten Teil seiner Rede zu den Formen des Eigenen und des Fremden im Kontext der Migrationsgeschichte des deutschen Südwestens über. Baden-Württemberg sei nicht nur das Land der Badener und Württemberger. Das, was sie zusammenhalte, seien die Millionen von Zuwanderern, so die Leitthese Dr. Beers aus seinen Forschungen über die frühe Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen und deren politisches Verhalten bei der Entstehung des heutigen Bundeslandes. Aus dem klassischen Auswanderungsland Württemberg – nach Osteuropa und nach Übersee – sei nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zuwanderungsland geworden. Die „Neingeschmeckte“ hätten das Land geprägt. Als er nach Deutschland kam, so Dr. Beer, habe es den Begriff „Mensch mit Migrationshintergrund“ noch nicht gegeben. Die Bereitschaft zur Akzeptanz des „Anderssein“ von beiden Seiten, Eingesessenen und Zuwanderer, sei der Schlüssel zur Integration, die nicht kurzfristig erreichbar, sondern in der langen, generationenübergreifenden Dauer angelegt sei.

Kann man aus der Geschichte lernen? Der Migrationsexperte Dr. Mathias Beer würde diese oft gestellte Frage wahrscheinlich auch nicht bejahen, aber doch eine Hoffnung offen lassen. Mit seiner historischen Argumentation, „Grenzen im Kopf sind immer die Vorboten von Mauern im Alltag“, hat er dem aktuellen Migrationsdiskurs einen neuen Akzent verliehen.

Josef Wolf

Schlagwörter: Auszeichnung, Preisverleihung, Wissenschaftler, Historiker, Südosteuropa

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