27. März 2017

„Die Wahrheit soll eine freie Zunge haben“

Erstmals zum Lutherjubiläum im Jahr 1883 hat Albert Amlacher Auszüge aus dem Predigtband von Damasus Dürr (ca. 1535-1585) veröffentlicht. Seit Beginn der Arbeit am Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuch wird ständig auf den Sprachgebrauch Dürrs verwiesen. Der Versuch des Urweger Pfarrers Ludwig Klaster, Damasus Dürrs Werk zu drucken, wurde leider durch den Zweiten Weltkrieg abgebrochen. Seine Tochter, Grete Klaster-Ungureanu, beschäftigte sich Mitte der 1970er Jahre intensiv mit dem Text. Auf Bitte von Dr. Ulrich A. Wien, Vorsitzender des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde, gab sie ihre Transkription vier Jahrzehnte später, 2013-2014, in den PC ein. Im Reformationsjubiläumsjahr werden nun neue Impulse zur Herausgabe des Werks von Damasus Dürr gesetzt.
Seit Juli 2016 fördert die Fritz Thyssen-Stiftung (Köln) die Edition des Gesamttextes am Institut für Evangelische Theologie der Universität Koblenz-Landau. Unter der Leitung von Ulrich Wien, der Forschungsarbeiten zur Reformationsgeschichte und auch zu Damasus Dürr veröffentlicht hat, arbeitet Dr. Martin Armgart als Projektmitarbeiter an der fachgerechten Edition. Er ist promovierter Historiker, u.a. Bearbeiter des Siebenbürgen-Bandes der Ev. Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts und der Online-Edition des Urkundenbuchs zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen (siehe Urkundenbuch zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen online). Das folgende Interview mit Ulrich Wien und Martin Armgart führte Siegbert Bruss.


Sie geben an der Universität Koblenz-Landau die deutschen Predigten des Pfarrers Damasus Dürrs erstmals in einer vollständigen Buchform heraus. Weshalb ist dieses Vorhaben so dringend und wichtig für die Forschung?
Martin Armgart: Damasus Dürr ist eine bedeutende Persönlichkeit aus der Reformationszeit in Siebenbürgen, deren Weichenstellungen bis heute fortwirken. Geboren 1535 in Brenndorf, kam er vom Kronstädter Gymnasium etwa 1557 nach Wittenberg, dem Zentrum der lutherischen Reformation, und studierte bei Philipp Melanchthon. Dort wurde er auch ordiniert. 1560 ging er zunächst als Pfarrer nach Hermannstadt und assistierte als Stadtprediger dem Stadtpfarrer und Superintendenten Matthias Hebler. In seiner langen Amtszeit (1556-1571) baute Hebler die lutherisch geprägte eigene Kirchenorganisation der Deutschen in Siebenbürgen auf. „Martinus [Luther] wäre in Siebenbürgen nicht geblieben, wenn nicht Matthias gekommen wäre“; so haben die Zeitgenossen dessen Bedeutung gewürdigt. Von 1568 bis zu seinem Tod im Jahr 1585 wirkte Damasus Dürr als Pfarrer in Kleinpold; zweimal wurde er dabei zum Dechanten des Unterwälder Kapitels gewählt. Aus dieser Zeit stammen seine Dorfpredigten in einem mehr als 1100-seitigen großformatigen Band. 47 Predigten hat er darin notiert: vom ersten Advent bis Ostern und zu diversen Festen. Das ist europaweit ziemlich einzigartig. Er hat die neuen Wittenberger Wahrheiten den „einfachen Bauern“ auf dem Land vermittelt. „Die warheit sol ein frey zung habenn“ und „welchs alle Pawrenn woll verstehenn“: so treffend hat er seine Ziele beschrieben. Sehr spannend sind Dürrs Texte auch für die siebenbürgisch-sächsische Sprache, für Volkskunde, Mentalitäts- und Sozialgeschichte.
Ulrich Wien: Einige Aspekte, z.B. Zauberei und Hexerei oder das konservative Festhalten an der vorreformatorischen Kirchenausstattung mit Wandgemälden, Kerzen oder Priestergewändern, zeigen durchaus auch noch lebendige Traditionen aus dem Mittelalter.


Sie erwähnen die mentalitäts- und volkskundliche Bedeutung von Dürrs Predigten. Welche Themen des Alltagslebens im 16. Jahrhundert hat Damasus Dürr kritisiert?
Martin Armgart: Seine Kritik an Fehlentwicklungen, wie z.B. bei der Frage der Kleidermode und -luxus, führt zu sehr konkreten Beschreibungen. Ebenso tadelt er die Haarmode einiger „junger beschorener Esell“, bei denen man „kaum einen Lappen Haar auf dem Haupt findet, dass niemand weiß, ob man das Gesicht vorn oder im Nacken suchen soll“. Er schildert auch prekäre familiäre Zustände, die im Suizid endeten: Die Zuhörer werden die Anspielungen wohl verstanden haben. Unüberhörbar war auch sein Vorwurf an die Männer der Gemeinde, sich aus Feigheit nicht um die Pesttoten gekümmert zu haben, sondern diese lebensgefährliche Aufgabe den Frauen überlassen zu haben. Ärgernisse und Fehlentwicklungen in den verschiedensten Bereichen spricht er an: zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Dorf und Stadt, „gemeinem Volk“ und Amtsträgern, Armut und protzendem, verschwenderischem Reichtum, Trunk- und Spielsucht oder überbordendem Fastnachtstreiben. Mit einer Vielzahl von Beispiel-Erzählungen suchte er zu überzeugen. Woher alle diese Beispiele stammen, müssen wir noch untersuchen.
Ulrich Wien (links) und Martin Armgart in der Uni ...
Ulrich Wien (links) und Martin Armgart in der Uni Koblenz-Landau. Foto: Simone Mitzner
Ulrich Wien: Seine Verhaltenskritik kombinierte er mit Lösungsmodellen oder mit dem Appell an die eschatologische Verantwortung, d.h. beim Jüngsten Gericht. Den jeweiligen Sozialgruppen empfahl er eine biblisch begründete ethische Grundhaltung, die allerdings an den gesellschaftlichen Strukturen nicht rüttelte: Den Wohlhabenden stellte er die Sozialpflichtigkeit des ­Eigentums vor Augen, den Armen die vertrauensvolle Hinwendung zu Gott im Gebet, denn allen Menschen sei ihre Position („ihr Amt“) in der Gesellschaftsordnung zugewiesen. Diese Vorstellungen decken sich mit den in Wittenberg vertretenen Positionen. Amt und Beruf sind von Gott auferlegt, weshalb niemand davor flüchten soll. Jeder Stand und Beruf fordert Beständigkeit. Vor Herrschaftskritik hat Dürr –wie erwähnt – allerdings nicht zurückgeschreckt. Auch mangelnde erzieherische Konsequenz schon im Familienalltag oder Nötigung der Amtspersonen kritisiert Dürr deutlich; sehr zum Unmut mancher seiner Zuhörer – wie Dürr zugleich festhielt. Außerdem spricht sich Dürr gegen ­Gewaltanwendung (Todesstrafe) bei Glaubensdifferenzen, sondern für die intellektuelle Kontroverse aus: „Ist einer ein Ketzer, soll man es mit der Schrift beweisen und lasse den Henker daheim, denn derselbe gehört nicht zur Disputation“.


Martin Luther hat die Reformation vor 500 Jahren in Wittenberg angestoßen. Welche Impulse der Reformation hat der siebenbürgische Dorfpfarrer Damasus Dürr aufgenommen und seinerseits gesetzt?
Ulrich Wien: Für alle Zentren der Reformation in Mitteleuropa, sowohl in Wittenberg, Straßburg, Zürich oder Genf, stand die Bibel als Offenbarungsurkunde und damit höchste Autorität im Mittelpunkt von Forschung, Verkündigung und sittlicher Orientierung. Die Reformation war eine Bibelbewegung, was dazu führte, dass in einigen Regionen die Bibelübersetzung die frühesten Sprachdokumente einer Sprache (wie zum Beispiel beim Slowenischen) sind. Oder wie in Hermannstadt, wo der Katechismus in rumänischer Sprache von 1544 das erste gedruckte rumänischsprachige Buch überhaupt war. Luther schätzte die menschliche Vernunft hoch, weswegen er die Bibel logisch, aber im Respekt vor dem göttlichen Geheimnis erklärte. Die zentrale Stellung der Bibel und auch die Wittenberger Abendmahlstheologie hat Damasus Dürr in seinen Predigten auf dem Dorf ungeschmälert übernommen. Auch Luthers Glaubensverständnis hat Dürr bruchlos übernommen. Glauben wird als individuelles und gemeinschaftliches Vertrauen auf die Verheißungen und die Verkündigung Jesu Christi verstanden. Für Dürr ist Jesus „der freundliche Mann“ und „Sohn Gottes“, der Orientierung im Leben, Zuversicht im Alltag, Hoffnung auf die Ewigkeit und Trost im Sterben gibt. Schließlich ist für ihn die Mündigkeit der Gemeinde wichtig. Er beklagt, dass die vorreformatorisch erzogenen Alten ihren Glauben – in Unkenntnis des Katechismus – nicht formulieren können. Wichtige Impulse hat Dürr zum Beispiel bei den Paraliturgien gesetzt, den christlich geprägten Redewendungen in den Nachbarschaften.


Hat Damasus Dürr in seinen Predigten also Ideen formuliert, die prägend waren für die siebenbürgischen Nachbarschaften?
Ulrich Wien: Dürr hat beispielsweise die Gründonnerstagpredigt dazu genutzt, das reformatorische Buß- und Beichtverständnis in elementarer Form der Gemeinde einzuprägen. Es geht dabei neben der religiösen Frage des Schuldbekenntnisses vor allem um den Aspekt der Wiederherstellung der zerstörten oder gefährdeten Gemeinschaft. Er gibt von der Kanzel Sprachhilfe, mit welchen Worten Zank und Streit beigelegt und die Betroffenen sich miteinander aussprechen und vertragen können. Daran kann man erkennen, dass Redewendungen, die bei Nachbarschaften über Jahrhunderte z.B. bei der Versöhnung verwendet wurden, ihren Ursprung wohl in der Reformationszeit haben müssen, und bei Dürr ist das mit Händen zu greifen.


Nicht nur Martin Luther hat dem „Volks aufs Maul geschaut“, sondern auch Damasus Dürr in Siebenbürgen. Weshalb sind seine Predigten sprachgeschichtliche Dokumente von bleibendem Wert?
Martin Armgart: Martin Luthers Bibelübersetzung schuf einen volkssprachlichen „Referenztext“. Es bleibt die Frage, wie die Pfarrkollegen eventuell mit der Predigtsammlung von Dürr umgegangen sind und das dort gelesene Deutsch in ihren wohl sächsisch gehaltenen Predigten umgesetzt haben. Welchen Einfluss hatte dieses auf das Sächsische? Aber auch umgekehrt: Die Texte von Damasus Dürr bilden eine große Fundgrube, auch für das Siebenbürgisch-sächsische Wörterbuch. Zum Beispiel trugen die Frauen „hiesche“ Spangen. Andreas Scheiner untersuchte bereits 1931 anhand von knapp 100 Bibelzitaten „Luthers Schriftwort bei Damasus Dürr“. Wir haben schon mehr als tausend ermittelt, dazu eine ähnlich große Zahl an Sprichwörtern und Redewendungen. Die Grundlage für Untersuchungen zur Sprachgeschichte hat sich bedeutend verbreitert. Luthers Deutsch haben Generationen von Forschern auf der Basis von gedruckten Luther-Texten untersucht. Damasus Dürr und seine Pfarrerkollegen haben mündlich auf die Sprache ihrer Zuhörer eingewirkt. Ihr Deutsch und deren Wirkung können erst jetzt mittels der Edition erschlossen werden.


Welche Ziele verfolgt Ihr Forschungsprojekt, welche wissenschaftlichen Ergebnisse streben Sie mit Ihrer Arbeit an?
Ulrich Wien: Wir arbeiten intensiv daran, die wissenschaftliche, kritisch kommentierte Edition der Predigten von Damusus Dürr mit entsprechenden Referenzen auf die zeitgenössische Literatur voranzutreiben. Die Einflüsse der protestantischen Predigtkultur des 16. Jahrhunderts müssen untersucht werden. Schließlich bedarf es einer Einbettung des Predigtkorpus in den aktuellen Forschungsstand zur Landesgeschichte.
Martin Armgart: Dazu wird es eine Konferenz vom 12.-14. Juni 2017 in Hermannstadt im Institut für Geisteswissenschaften geben.
Ulrich Wien: Wir streben an, dass die Edition in einem renommierten Verlag als gedrucktes und Digitalbuch (e-book) erscheinen kann.

Schlagwörter: Interview, Kirche, Predigt, Brenndorf, Veröffentlichung Besprechung, Luther, Reformation

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