13. September 2023

„Es sind mir Bücher geglückt“. Um das Mindeste zu sagen: Eginald Schlattner zum 90.

Spät hat er zu publizieren begonnen, viel ist es geworden und wird stetig mehr. An Opulenz überboten wird Eginald Schlattners Schreiben nur von denen, die darüber schreiben, es gibt eine Vielzahl an schwelgerischen oder kritischen, wissenschaftlich anspruchsvollen oder aber medial unterhaltsamen Werken und Machwerken zu den vielfältigen Hypostasen des Schriftstellers, Pfarrers im siebenbürgischen Rothberg und in rumänischen Gefängnissen, des Zeitzeugen und Künders vom Untergang jener Welt, die er künstlerisch, geistig und geistlich lebt – wie nur er es vermag. Eginald Schlattner wird heute 90.
Eginald Schlattner an seinem Schreibtisch in ...
Eginald Schlattner an seinem Schreibtisch in Rothberg, 2021. Foto: Traian Pop
Ein gerüttelt Maß an Bewunderung ist stets dabei für diesen Mann, der nicht ansteht, seinen weltabgewandten transsilvanischen Wirkungsort mit dem lateinischen Namen Mons Rubens zu adeln, zugleich aber den „braunen Brüdern“ in der dortigen Siedlung der Roma (vulgo Zigeuner) als Seelsorger und Kümmerer in allen Dingen des Lebens zu helfen, der die zumindest europäischen Dimensionen seiner Epik hervor zu streichen nicht müde wird, zugleich aber verurteilte Verbrecher dabei unterstützt, ihre Menschenwürde zu wahren.

Das – meist ungläubige – Staunen, mit dem Leser, Medien und akademischer Betrieb diese Einzigartigkeit wahrnehmen und ihren Träger und Gestalter befragen, kongruiert mit dessen steter – zutiefst gläubiger – Selbstbefragung in einer Prosa, die man der Einprägsamkeit halber als autofiktional bezeichnet. „Es mochte so gewesen sein. Es muss nicht so gewesen sein. Nicht die Wahrheit besteche. Es bekehre die Wahrhaftigkeit.“ Frommer Wunsch, mag der aller Bekehrung Abgewandte denken. Aber die Inständigkeit, mit welcher der Autor Erlebtes und, wie er selbst es nennt, „Ersonnenes“ ausbreitet, ist derart verführerisch, dass man gar einen mitnichten konsekrierten Begriff mitzudenken: autoliturgial – aus der Sprachlosigkeit vor dem Überfluss an Eloquenz geboren.

„Meiner Seele Seligkeit hängt nicht von den Büchern ab. Sondern dass ich Pfarrer bin, als Erstes und als Letztes und manchmal durch und durch. Somit der Imperativ: Verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handle so, dass die Leiden den Ort verlassen.“ Schier treuherzig mutet er an, der Imperativ, doch nichts an Schlattners Tun und Schreiben und daran, wie ersteres in letzterem aufgehoben ist, lässt bezweifeln, dass er sich ihm unterwirft, ja ihn feiert, und das nicht nur liturgisch, sondern mit allem gebotenen Ernst der Alltagspraxis. Wie er schreibt, so lebt er – dieser Glaube setzt sich durch, sosehr unsereins, eingebunden in brutal säkulare Mechaniken, zu Skepsis neigt.
Premierenapplaus für die Verfilmung von „Der ...
Premierenapplaus für die Verfilmung von „Der geköpfte Hahn“ auf dem TIFF-Filmfestival in Hermannstadt 2007. V. r.: Regisseur Radu Gabrea, Eginald Schlattner, Thomas Osterhoff (Musik) und Florin Gabrea (Szenenbild). 2010 verfilmte Gabrea auch Schlattners Roman „Rote Handschuhe“. Foto: Konrad Klein
Legitimiert wird Schlattners Selbstgewissheit durch ein Leben, wie es viele nicht nur in Siebenbürgen und Rumänien im unseligen 20. Jahrhundert gelebt, überlebt haben mögen, wenngleich nicht in derart gewaltsamer Ballung dramatischer bis katastrophischer Wendungen und Wirrungen – und Irrungen. Nach einer erlebnisreichen Kindheit und Jugend in der siebenbürgisch bunten, doch braun überschatteten Provinz konvertiert der Spross einer soignierten sächsischen Familie in der frühen „Diktatur des Proletariats“ – immer gegen den Strich – aus agnostischer Überzeugung zum Theologieaspiranten und dann zum dilettierenden Kommunisten, worauf ihn die rumänischen „Genossen“ zum vermeintlichen Systemfeind des stempeln und in einen Bann schlagen, aus dem er sich zum Ingenieurstatus freiringt – um dann als vierzigjähriger Familienvater aus der „sozialistischen Produktion“ heraus erst recht das Kirchenamt anzustreben, das er bis heute versieht. „Meine Biografie ist atypisch für sächsisches Normverhalten. Ich selbst bilde für mich allein eine parallele Gesellschaft.“

Was alles passieren konnte im Laufe dieser Peripetien – man verzeihe den euphemistischen Zynismus des Spätgeborenen –, davon ist vielen vieles passiert, aber nicht das alles. Zu sagen, es habe schließlich eine Läuterung stattgefunden und auf dem Pfarrhof in Rothberg dauere die Apotheose fort, wäre nur eine Fortschreibung solchen Zynismus. Gar nichts hat stattgefunden, was nicht Eginald Schlattner selbst ins Werk gesetzt hat, und spät hat er begonnen, all das in Worte zu fassen, in Romanen zu erfassen, die – eine weitere, diesmal glückliche Volte – der deutschsprachigen Öffentlichkeit erschlossen wurden. „Es sind mir Bücher geglückt, die vom Wiener Eliteverlag Paul Zsolnay verlegt worden sind (der auf eine weltliterarische Tradition zurückblickt, vor 1938 haben sechs Nobelpreisträger dort veröffentlich).“ So viel Kontextualisierung muss sein. Die drei Bücher, die zwischen 1998 und 2005 dort erschienen, wurden mit einer Überraschung aufgenommen, die auch in der anderssprachigen westlichen Medienlandschaft Früchte trug. Eginald Schlattners erzählerisches Können, die ehrwürdigen Narben seiner nachgerade spektakulären Biographie und die pittoreske Aureole seiner Residenz Rothberg – solchermaßen gebündelter Strahlkraft konnte sich niemand erwehren und wollte sich niemand entziehen.

Das alles zusammendenken darf, ja muss man, er selbst ist ein Meister solchen Synkretismus, am Ursprung jedoch steht ein gestalterischer Wille, der vom bescheidensten Anspruch zu höchster Professionalität gediehen ist. Noch seinen Erstling „Der geköpfte Hahn“ beschloss der 65-jährige Debütant mit einem „Dank“ an die Lektorin: „An der Hand geführt von Frau Brigitte Hilzensauer, Wien, und somit aufgerufen zu währender Dankbarkeit“. Doch auch dem Pop Verlag Ludwigsburg, der nach dem Hermannstädter Schiller Verlag seit 2020 Schlattners epische Reprise betreut, schreibt er auf die letzte Seite seiner „Wasserzeichen“: „Danksagung gilt Frau Dr. Edith Konradt, Geretsried, die in dem verwickelten Text ein ‚inneres Gesetz‘ aufgespürt hat.“ Solcherart bescheidenes Einbekenntnis ist keineswegs trivial, die beiden Mit- und Zuarbeiterinnen können es gewiss bezeugen, ebenso wenig selbstverständlich oder gar üblich – und umso höher zu schätzen.

Zum andern erweist sich Eginald Schlattner bei aller oder gerade in der „Verwicklung“ seiner Texte als Virtuose freihändiger Artistik – und diese gehört beileibe nicht zu den Markenzeichen siebenbürgischer Literatur. In ihrem Textfundus gibt es kaum Vergleichbares an gestalterischer Freiheit in gediegen gebundener Rede, an bedenkenloser Missachtung starrer Konventionen unter Wahrung selbstauferlegten sittlich-kulturellen Anstandes. Dieser Schriftsteller braucht seine geistliche Berufung nicht zu verleugnen, um frei heraus schreiben zu können, denn er weiß sich frei zu denken, mit spielerischer Ironie selbst in einer Sprache, die ihre kirchlich-biblische Prägung nicht verleugnet, sondern gerade gekonnt ausspielt.
Eginald Schlattner mit seinem Verleger Traian Pop ...
Eginald Schlattner mit seinem Verleger Traian Pop und dessen Ehefrau im Pfarrgarten von Rothberg bei der Geburtstagsfeier vom 13. September 2023. Im Hintergrund die Malmkroger Pfarrerin Angelika Beer, die die Jubiläumsfeier aktiv mit bestritt. Foto: Konrad Klein
Weiter noch geht Eginald Schlattner in seiner „autofiktionalen“ Selbstermächtigung: Er nimmt sich heraus, manch heikel, ja schmerzlich Allzumenschliches unter der Messlatte bürgerlicher „Moral“ schlicht „durchtauchen“ und damit offen zu lassen. Die gar nicht einfache Beziehung seiner Eltern, seine eigene Schuld gegenüber den von kommunistischen Schergen verfolgten Schicksalsgenossen, der reziprok schmerzliche Abschied seiner Frau nach langer Ehe, das unwürdige Ende der orthodoxen Klostergemeinschaft, in der er sich aufgehoben gefühlt hatte: das alles wird gelassen angesprochen in der Gewissheit, dass es keiner ethischen Wertung seitens eines Schriftstellers bedarf, sei er auch Pfarrer. Genauso wie dieser/jener es verweigert, den Ruf Gottes, der ihn im Alter von vierzig Jahren nach allem, was er durchgestanden hatte, erreicht habe, in irgendeiner Weise zu buchstabieren: „Gerade das kann ich … nicht im Detail schildern. Es hat mit einer metaphysischen Diskretion zu tun, die sich nicht in Worten äußern lässt, welche ohnehin, weil sie per se rational sind, das Ereignis nicht zu fassen vermögen.“

Manches Ereignis haben seine Worte erst recht gefasst, sein Schweigen zu manch anderem ist ihm erst recht zu danken – vorerst aber ist ihm ungebrochene Red- wie Schweig-Seligkeit zu wünschen.

Georg Aescht

Schlagwörter: Kultur, Schlattner, Schrifsteller, Literatur

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