28. August 2005

Eine siebenbürgische Passionsmusik

Rudolf Lassels siebenbürgische Passionsmusik war viele Jahrzehnte lang nur aus Beschreibungen bekannt, ein stummer Meilenstein der siebenbürgischen Musikgeschichte. Stumm? Nicht ganz natürlich. Ein Abschnitt des Werkes reicht in seiner Bekanntheit sogar an die "Siebenbürgische Elegie" heran. Doch wer hat jemals in dem eingängigen 42. Psalm "Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser" einen Teil von Lassels Matthäuspassion gesehen? Kurt Philippi und dem Hermannstädter Bachchor ist es zu danken, dass diese "Siebenbürgische Passionsmusik" endlich in einer vollständigen Aufnahme vorliegt und damit auch der 42. und der 43. Psalm ("Richte mich Gott") in ihren ursprünglichen Zusammenhang gestellt werden.
Vollständigkeit ist bei Lassel freilich relativ zu sehen, denn der 1861 in Kronstadt geborene Komponist hat nur das 26. Kapitel des Matthäus-Evangeliums vertont (aufzuführen am Gründonnerstag), das 27. Kapitel, das mit Jesu Verhör vor Pilatus beginnt, aber unberührt gelassen. Warum, das kann man nur vermuten. Hermann Schlandt nimmt an, Lassel habe sich nicht imstande gefühlt, "in die Düsternis der tiefsten Leiden Jesu" hinab zu steigen. Wolfgang Sand, der seine Magisterarbeit über Rudolf Lassel 1999 publiziert und nun einen umfassenden Band über die Kronstädter Musikgeschichte vorgelegt hat, geht - deutlich pragmatischer - davon aus, dass Lassel fürchtete, "das Publikum mit einer vollendeten und langen Passionsvertonung" zu überfordern.

Folgt man den ersten Kritiken aus dem Jahr 1901, so war diese Furcht nicht unbegründet. Denn Bachs monumentale Passionen waren bis dato unbekannt in Siebenbürgen und die Zuhörer nicht gewöhnt, sich über Stunden hinweg in eine musikalische Darstellung des Passionsgeschehens zu vertiefen. Gleichwohl folgten Passionsaufführungen in Siebenbürgen einer langen Tradition, die bereits im 17. Jahrhundert mit der "Waltherschen" Passion begann, dann mit einer Komposition von Johann Sartorius senior im 18. Jahrhundert und einer Schobel-Passion im 19. Jahrhundert fortgeführt wurde. Daran schloss Lassels "Siebenbürgische Passionsmusik" nahtlos an, und zwar keineswegs zufällig: Sie sollte ein Standardwerk werden, weshalb der Komponist Chor und Solisten nur die Orgel zur Seite stellte - was auch Ensembles auf den Dörfern zumindest theoretisch in die Lage versetzte, das Stück aufzuführen.

Doch wie gesagt: Vor der Popularität, die die Matthäuspassion bald erlangte, stand Reserviertheit. Aufschluss über die Gründe dafür gibt ein Auszug aus der Kritik in der Kronstädter Zeitung vom 9. April 1901: Die Zuhörer, heißt es da, "wurden der vielen erbaulichen Betrachtungen müde, durch die sie wohl oder übel den Fortgang der Handlung unterbrechen und in die Länge ziehen mußten". Lassel hatte nämlich das Publikum einbezogen und ließ es - nach alter Tradition - alle Choräle mitsingen. Die wiederum waren nicht wie bei Bach harmonisch angereichert, sondern zum Zwecke der leichteren Ausführbarkeit sehr schlicht gesetzt. Einigen war das zu viel der Beschaulichkeit.

Zudem, und das mag ebenso schwer wiegen, gewinnt Lassels Matthäuspassion erst allmählich an Dramatik. Die Rezitative spiegeln oft nur dezent die innere Bewegtheit der Protagonisten wider, die Partie des Evangelisten ist ebenso ruhig angelegt wie naturgemäß die des Jesus. Bewegte Chöre sind in den ersten beiden von drei Teilen selten. Die omnipräsente Orgel kommentiert das Geschehen zwar viel und eigenständig, verleiht dem Werk jedoch einen betont liturgischen Charakter. Seltsam zum Beispiel, wie Lassel bei der Gefangennahme Jesu zuerst ein optimistisches Maestoso vorschreibt und nach kurzer dramatischer Zuspitzung gleich wieder die Beschaulichkeit sucht. Eine starke Affinität zu theatralischen Effekten scheint er nicht gehabt zu haben - so denkt man.

Von der Beschaulichkeit zur Dramatik

Doch der dritte Teil (Jesus vor dem hohen Rat), der nicht mehr im Original, sondern nur in Abschriften erhalten ist, zeigt, dass Lassel auch anders kann. Gleich im Eingangschor "Richte mich, Gott", einer Vertonung des 43. Psalms, beweist er feines dramatisches Gespür beim Wechsel zwischen verzweifelten Ausrufen der Männerstimmen, engelsgleichem Zuspruch von Alt und Sopran sowie markanten Einwürfen von Solisten und Orgel. Der triumphale Abschluss "Harre auf Gott" ist der Höhepunkt des Werkes. Hier steht Lassels Kompositionskunst derjenigen Mendelssohns - der sein großes Vorbild war - in nichts nach. Auch der kurz darauf folgende Chor "Weissage uns Christe" erinnert an Mendelssohn, ja, die ohne Antwort verbleibenden Ausrufe haben ein direktes Vorbild in den Baalsrufen aus dem "Elias".

Mag sein, dass es in Siebenbürgen Dorfchöre, Organisten und hochromantische Orgeln gab, die diesem Werk gewachsen waren. Sicher ist jedoch, dass die Vielzahl der geforderten Solisten die Möglichkeiten ländlichen Musizierens in der Regel überforderte. Kurt Philippi greift trotz einiger Doppelbesetzungen auf nicht weniger als neun Solosänger zurück, allen voran der nimmermüde, ungeheuer erfahrene, fast schon legendäre Zsolt Szilágyi, der seit Jahrzehnten führende Tenorpartien in Siebenbürgen übernimmt und auch hier in der Rolle des Evangelisten glänzt. Ihm zur Seite übernimmt die Jesus-Partie ein weich, bestimmt und klangvoll agierender Matthias Weichert, der in Dresden als Hochschulprofessor tätig ist und das Ensemble stark bereichert. Die weiteren Solisten können nur erwähnt werden: Anita Hartig, Teodora Gheorghiu, Bianca Manoleanu, Dorothea Binder (Sopran), Rotraut Barth (Alt), Wolfram Theilemann (Tenor) und Wilhelm Schmidts (Bass). Ursula Philippi an der Sauer-Orgel der Hermannstädter Stadtpfarrkirche liefert dazu auf kongeniale Weise den Instrumentalpart, souverän zwischen der Funktion als Begleiterin und Solistin wechselnd.

Den größten Respekt für diese Aufnahme muss man aber dem Hermannstädter Bachchor und seinem Leiter Kurt Philippi zollen, der durch unbedingten, jedoch nie übertriebenen Gestaltungswillen die schlichten Choräle aufwertet, die Chöre plastisch herausarbeitet und gerade in dem berühmten "Hirsch"-Psalm durch Leichtigkeit besticht. Der Bachchor folgt seiner Intention fast immer, bisweilen klingt das Ensemble wie ein Profichor. Dann wieder sind freilich Einzelstimmen deutlich hörbar, dem Gesamtklang fehlt - wie könnte es anders sein bei einem Laienchor - ab und an die Homogenität.

Zu bedenken ist dabei aber auch: Für so einen Chor hat Lassel seine Matthäuspassion, deren Wirkungsgeschichte noch intensiver erforscht werden sollte, damals komponiert. Genauso wie auch Hans Peter Türk, der Klausenburger Komponist, es bis 2007 für den Bachchor tun wird. Im Jahr, da Hermannstadt europäische Kulturhauptstadt ist, soll seine "Siebenbürgische Passionsmusik" uraufgeführt werden. Türk wird da anknüpfen, wo Lassel aufgehört hat.

Johannes Killyen

Rudolf Lassel - Eine siebenbürgische Passionsmusik. Teil I: Gründonnerstag. Bachchor Hermannstadt. Leitung: Kurt Philippi. Zsolt Szilágyi, Matthias Weichert, Ursula Philippi (Orgel). Strube Verlag, VS 6284 CD, 77 Minuten, 15,00 Euro. Bestellungen an die Strube Verlag GmbH, Pettenkoferstraße 24, 80336 München, Telefon: (0 89) 54 42 66 11, Fax: (0 89) 54 42 66 30, E-Mail: strube.verlag@strube.de, Internet: www.strube.de.

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 13 vom 10. August 2005, Seite 6)

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