1. März 2000

Lebenswelt der Senioren

Begriffe wie "Nachbarschaft", "Sitten und Bräuche" oder "Deutsche Identität zu bewahren" sind bei älteren Siebenbürger Sachsen von zentraler Bedeutung und in fast allen Lebensbereichen wiederzufinden. Dies hat die Sozialpädagogin Kunigunde Thiess in ihrer Diplomarbeit "Die Lebenswelt der Senioren/innen aus Siebenbürgen in Deutschland" (1997) festgestellt. Mit ihrer materiellen und Wohnsituation sind die Befragten überwiegend zufrieden. Auffallend sind chronische Erkrankungen, die bei den meisten auf die Verschleppung in die Sowjetunion 1945-1949 zurückzuführen sind. Die größten Probleme liegen im menschlichen Bereich und sind auf den Verlust und die Veränderung der mitgebrachten Lebensbilder aus der Heimat oder der sozialen Beziehungen zurückzuführen.
Thiess wurde am 31. Januar 1969 in Kronstadt geboren, ist in Honigberg aufgewachsen, siedelte 1990 und studierte zwischen 1992 und 1997 im Fachbereich Soziale Arbeit an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt-Aschaffenburg. Derzeit arbeitet sie als Sozialpädagogin in einer Werkstatt für Sehgeschädigte und Blinde in München, parallel dazu macht sie seit 1999 ein Aufbaustudium im Bereich Sozialmanagement an einem privaten Hochschulinstitut, ebenfalls in der bayerischen Landeshauptstadt.

Kunigunde Thiess betrachtet die Lebenswelt der betagten Siebenbürger nicht isoliert, sondern setzt sie in Bezug zum allgemeinen Phänomen des Älterwerdens. Einschnitte in den gewohnten Lebenswandel für alte Leute seien oft nicht einfach, um so gravierender sei die Auswanderung in ein anderes Land. Die Autorin ging der Frage nach: "Wie erleben Senior/innen aus Siebenbürgen ihr Alter hier in Deutschland, fern der Heimat?" Als theoretische Grundlage stützte sie sich auf die prozessual-systemische Theorie Sozialer Arbeit von Silvya Staub-Bernasconi. Im Dezember 1996 und Januar 1997 führte sie Interviews mit 16 Senioren, die zwischen 67 und 93 Jahren alt sind, seit fünf bis 53 Jahren in Deutschland leben und unterschiedlichen Gesellschaftsschichten angehören. Sieben der Befragten wohnen in zwei siebenbürgischen Heimen in Bayern, eine Frau in einem Münchner Altenheim, die Übrigen leben mit oder ohne Ehepartner in Sozialwohnungen. Die Senioren kamen dabei - ohne vorgegebene Alternativantworten - frei zu Wort und gingen auf sechs verschiedene Bereiche ein, die nach Staub-Bernasconi die gesamte Lebenswelt des Menschen strukturieren.
Mit ihrer materiellen und Wohnsituation sind die Befragten überwiegend zufrieden. Allerdings reichen die niedrigen Einkünfte bei vielen nur für eine sehr bescheidene Lebensweise aus. Das beginnt mit der Wohnungseinrichtung, die meist aus alten, geschenkten Möbeln besteht. Wandteppiche oder Bilder mit siebenbürgischen Motive schaffen jedoch eine heimische Atmosphäre. Während in Siebenbürgen das oft unter großer Mühe geschaffene eigene Haus besonders wichtig war, hängt die Zufriedenheit der betagten Siebenbürger in Deutschland laut Thiess eher vom Komfort ab, das heißt vom „Vorhandensein von warmem Wasser, Bad, sauberer und bequemer Heizung, Fahrstuhl, guten Einkaufsmöglichkeiten, guter Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel".
Vor allem in den Siebenbürger Altenheimen fühlen sich die Siebenbürger wohl, weil sie mit Landsleuten zusammenleben und sich diese Heime bezüglich der Essenszubereitung und Veranstaltungen an siebenbürgisch-sächsischen Traditionen orientieren. Die Heimbewohner können sich mit Landsleuten über ihre Ängste und Sorgen aussprechen, das gewohnte Nachbarschaftsgefühl kann in einem solchen Altenheim leichter wiederbelebt werden als woanders.
Gesundheit hat für die befragten Siebenbürger den höchsten Stellenwert. Auffallend sind jedoch ihre chronischen Erkrankungen, die bei den meisten auf die Verschleppung in die Sowjetunion 1945-1949 zurückzuführen sind. Wer die Zwangsarbeit überlebte, hat auch heute noch unter deren Folgen sowohl seelisch als auch körperlich zu leiden.
Wie andere ältere Menschen auch müssen siebenbürgische Senioren mit altersbedingten physischen Abbau- und Rückbildungsprozessen fertig werden. Einige nehmen die zunehmende Funktionsuntüchtigkeit ihres Körpers widerstandslos hin, andere versuchen den Alterungsprozess aufzuhalten, etwa indem sie sportlich aktiv bleiben, wandern oder ihr Gedächtnis durch Lösen von Kreuzworträtsel, Erlernen einer Fremdsprache, Schauspielen etc. fit halten. Aussagen der Befragten bestätigen die sogenannte Aktivitätstheorie, wonach ältere Menschen glücklich und zufrieden, wenn sie aktiv sind, etwas leisten und von anderen Menschen "gebraucht" werden. Es gilt neue Tätigkeiten zu entdecken, wobei der Eigeninitiative eine große Bedeutung zukommt. Die befragten Senioren zeichneten sich durch eine weitgehende körperliche und geistige Rüstigkeit aus. Im Bereich der aktiven Gestaltung des Alltags und der Freizeit sind die befragten Senioren sehr zufrieden und bemerkenswert ausgefüllt.
Für die meisten befragen Siebenbürger stellt die Aufnahme in das Heim "eher ein finanzielles als ein psychologisches Problem" dar. Angesichts der in den letzten Jahren ständig gestiegenen Kosten in Altenheimen sind viele auf die Unterstützung durch die öffentliche Hand angewiesen. Einige schämen sich jedoch, Sozialhilfe zu beantragen. Nach Ansicht der Autorin müssten die Senioren durch verstärkte Beratung und Information darauf hingewiesen werden, "dass der Bezug von Sozialhilfe kein Almosen, sondern ihr gutes Recht" ist.
Dennoch liegen die größten Probleme der Siebenbürger nach Ansicht der Autorin eher im menschlichen als im materiellen Bereich und sind auf den Verlust und die Veränderung der mitgebrachten Lebensbilder aus der Heimat oder der sozialen Beziehungen zurückzuführen. Die Autorin ist der Frage nachgegangen, inwiefern das Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Beziehungen erfüllt ist. Ihr Fazit: "Der soziale Raum der Senioren/innen engt sich in vielerlei Hinsicht im Gegensatz zum Leben in der Heimat ein. Weite Entfernung zu Verwandten, Nachbarn, Freunden und Bekannten, gegenseitige Besuche sind aufwendig und meist nicht möglich." Auch die Kirchengemeinde in Siebenbürgen, die einen zentralen Platz im Leben der Senioren/innen einnahm, kann durch die hiesige Kirchengemeinschaft nicht ersetzt werden. Der Gottesdienst war in der Heimat feierlicher und persönlicher, in Deutschland fallen hingegen das "eintönige Ablesen der Predigt" und der mangelnde Bezug zum Kirchenvolk negativ auf.
Seit der Aussiedlung nach Deutschland haben die Senioren/innen dennoch immer mehr erfahren müssen, wie ihre Heimat erlischt, wie ihre Zugehörigkeit zu ihr allmählich an Bedeutung verliert. Sitten und Bräuche können hier nicht mehr nachvollzogen werden, weil die Siebenbürger Sachsen in ganz Deutschland verteilt leben. "Das Wichtigste, das unser Leben in Siebenbürgen ausmachte, war der Zusammenhalt untereinander", betont eine Siebenbürgerin. So ist es auch verständlich, dass keine Frage die Senioren/innen so stark berührte wie die nach dem Heimweh. Die meisten Befragten behaupteten zwar spontan, kein Heimweh mehr zu haben, wurden aber wenige Sekunden später sehr traurig, weinten sogar oder legten während des Gesprächs eine längere, nachdenkliche Pause ein. Alle hatten Heimweh, stellt die Sozialforscherin fest. Bei einigen kommt das mit steigendem Alter öfter zum Vorschein, vor allem an Feiertagen und an Tagen, an denen sie zu wenig Beschäftigung haben oder zu lange allein sind. "Gegen so etwas ist noch kein Kraut gewachsen", meinte eine Frau, die besonders an Heimweh leidet.
Für die meisten Siebenbürger war es eine schwere Entscheidung, sich von ihrem Hab und Gut zu trennen. "Alles, was meine Ur- und Großeltern aufgebaut haben und wir dann später nach dem Umsturz noch einmal aufgebaut und gepflegt haben, ist verloren gegangen. Ein paar gepackte Koffer sind von dem ganzen Vermögen übriggeblieben und die Erinnerungen", sagte ein Befragter.
Die meisten haben sich mittlerweile in Deutschland dennoch eingelebt: "Wir sind mit unserem neuen Zuhause zufrieden. Wir haben gewusst, als wir uns entschieden haben auszuwandern, dass es kein Zurück gibt, und wir haben uns jetzt angepasst, und es geht uns gut." Eine siebenbürgische Heimbewohnerin: "Man kann sich nicht weiterhin an etwas klammern, was es nicht mehr gibt, sondern man muss sich den neuen Gegebenheiten anpassen und diese auf irgendwelche Weise versuchen, für sich zu nutzen." Erfreut sind auch einige Senioren über "die tausend Möglichkeiten, die einem das tägliche Leben erleichtern", oder die nette Umgangsart bei Behörden, in Kaufhäusern und beim Arzt. Mehrere Senioren zeigen sich jedoch enttäuscht von einigen ignoranten Mitbürgern, die sie nicht als Deutsche akzeptieren wollen, sondern mit Asylanten verwechseln, obwohl gerade die Siebenbürger Sachsen nach Deutschland gekommen sind, um ihre ethnische Identität als Deutsche zu bewahren. Dass einige Siebenbürger ihre Herkunft verleugnen, um nicht von Einheimischen abgelehnt zu werden, wird von den befragten Senioren ebenso als Schwäche angesehen wie der übertriebene Eifer anderer Landsleute, die sich ohne Rücksicht auf zwischenmenschliche Beziehungen möglichst schnell hoch arbeiten wollen.
Das stark geprägte Familiengefühl pflegen die Siebenbürger auch in der neuen Heimat weiter. Selbst wenn die Familienmitglieder weit voneinander entfernt wohnen, treffen sie sich regelmäßig zu Feiertagen, Geburtstagen und zu anderen Anlässen. "Die Familie ist für viele das geblieben, was sie schon immer war, nämlich der Ort, wo Probleme, Sorgen und Ängste offen besprochen und gemeinsam gelöst werden können", stellt Thiess fest. Der Kontakt zu Freunden wird vor allem bei den Heimatortstreffen gepflegt, die zwar jedes zweite Jahr stattfinden, aber nicht oft genug, wie die Senioren bedauern. Nach alter Tradition versuchen viele Senioren an der Beisetzung von Bekannten teilzunehmen, auch wenn die Beerdigung weit entfernt stattfindet. Einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens geben die Befragten auch für Telefonrechnungen und Briefmarken aus, um den Kontakt zu Bekannten zu pflegen. Die meisten treffen sich zudem ein- bis zweimal pro Woche mit Landsleuten zum Kaffeekränzchen oder Stammtisch. Nur eine Minderheit unter den Befragten - das sind vor allem die seit längerer Zeit zugewanderten Siebenbürger - pflegen soziale Kontakte zu Einheimischen.
Trotz teilweise mangelhafter materieller Unterstützung durch den bundesdeutschen Staat und trotz stark veränderter Werte, auf die sich die Senioren/innen aus Siebenbürgen einstellen müssen, sind sie offensichtlich dankbar, in Deutschland aufgenommen worden zu sein. Auf einige Fähigkeiten sind die befragten Senioren dabei besonders stolz. Als Minderheit hätten sich die Siebenbürger Sachsen immer wieder als anpassungsfähig erwiesen und sich auf andere Nationen und Mentalitäten eingestellt. Eigenschaften wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Fleiß kommen den Siebenbürgern gerade in der aktuellen Lage sehr zugute. Dazu zwei Senioren: "Wir sind gewöhnt, überall anzupacken, um etwas im Leben zu erreichen." Und: "Was ein Mensch an Benehmen und Charakter braucht, haben wir Siebenbürger Sachsen allemal. Wir brauchen uns nicht zu verstecken."

Siegbert Bruss

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