Herta Müller . Ehrung

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seberg
schrieb am 29.08.2009, 09:57 Uhr (am 29.08.2009, 10:13 Uhr geändert).
@Lavinia: Mich hat auch die Zusammenarbeit zwischen Herta Müller und Oskar Pastior beschäftigt, bzw. beider ursprünglicher Wunsch, das Buch gemeinsam zu schreiben.
Wir wissen nicht, wie das gemeinsam Geschriebene ausgesehen hätte, wir kennen jetzt nur das Buch von H. M., wo sie die LAGERWIRKLICHKEIT so beschreibt, wie sie diese den Protagonisten Leo Auberg erleben lässt, also durch seine von ihr zum Zwecke der „Wahrheitsfindung“ erfundenen Geschichte.

Was wir aber auch wissen, ist, dass Oskar Pastior die von ihm erlebte Lagerwirklichkeit selbst nie so erzählt und niedergeschrieben hat, dass er sie z.B. als Erinnerungen oder in sonstiger Prosaform hätte veröffentlichen können. Zwar hatte er bald nach seiner Rückkehr wohl mehrere Hefte vollgeschrieben mit „Erinnerungen“ aus dem Lager. Wie sehr er diesen aber wohl misstraute, kann man erahnen, wenn man liest, wie es seinem alter ego Leo Auberg in Herta Müllers Buch ergeht bei seinem Versuch, z.B. eine besonders gefühlsbetonte Erinnerung niederzuschreiben: er schreibt den betreffenden Satz mehrmals auf und streicht ihn immer wieder durch, bis er schließlich das ganze Blatt herausreist und sagt: das ist Erinnerung (S.283).
Er tut es vielleicht aus Einsicht oder aus Verzweiflung, dass er das Erlebte im Lager niemandem „wirklich“ vermitteln, erzählen kann.

Diese Unmöglichkeit, die erlebte Wirklichkeit „normal“, als „Geschichte“ zu erzählen, mag Oskar Pastior zu dem Dichter als „Wort-Spieler“ gemacht haben, als den wir ihn kennen und als der er es zur höchsten Kunst gebracht hat, in der es wohl nur scheinbar niemals um seine Lagererlebnisse ging. Vermutlich steckt sie trotzdem in jedem Wort und Wortspiel und Gedicht drin.

Es wäre übrigens naheliegend, diese Unmöglichkeit oder Schwierigkeit, die grausame Wirklichkeit im Lager “wahrheitsgetreu“ zu beschreiben in einem größeren (literatur-) geschichtlichen Zusammenhang zu sehen, nämlich das Grauen der KZ’s und des sowjetische Lager-Gulags als absoluten Höhepunkt eines vom Menschen seit Anbruch der Moderne erlebten „Wirklichkeitszerfalls“ (Zerfall traditioneller Werte), als „transzendentale Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács, Theorie des Romans, 1916).

Die meisten Zurückgekehrten blieben ja regelrecht „sprachlos“ gegenüber dem Erlebten, H.Müller hat es bei ihrer Mutter so erlebt, hier hat Schiwwer und andere es von ihren Eltern berichtet (Schiwwers Vater versuchte es mit „Statistiken“).

Vorallem in der österreichischen Sprachphilosophie wird dies (eine gewisse „Sprach-Impotenz“) vorweggenommen (Mauthner, H.v.Hofmannstal, L.Wittgenstein).

Leute wie O.Pastior und H.Müller sahen/sehen sich vielleicht deswegen gezwungen, eine „neue Sprache“ zur Beschreibung dieser „zerfallenen Wirklichkeit“ zu erfinden.
Lavinia
schrieb am 30.08.2009, 11:31 Uhr
Getkiss hat, ohne es zu beabsichtigen, einen Aspekt angesprochen – den unserer Wahrnehmung, in der Form des „echten“ Nachempfindens .
Herta Müller: „Das Nähren des Körpers bleibt mir bis heute ein Geheimnis. Im Körper wird abgerissen und aufgebaut wie auf der Baustelle. Du siehst dich und die anderen täglich, merkst aber an keinem Tag, wieviel in dir zusammenbricht oder auf die Beine kommt. Es bleibt ein Rätsel, wie die Kalorien alles nehmen und geben. Wie sie alle Spuren in dir löschen, wenn sie nehmen, und sie wieder zurücktun, wenn sie geben.“
Diese unscheinbare Stelle fand ich typisch und interessant und sympathisch, weil sie etwas über unsere (beschränkte) Art der Wahrnehmung aussagt. Sie bezieht sich zwar auf das Biologische, aber ich meine, dass unsere Wahrnehmung gerade auch davon stark determiniert wird. Diese Stelle sucht nicht nach kosmetischen Erklärungsmustern, sie interpretiert nicht…
Was ich damit sagen will ist, dass wir in unserer Wahrnehmung sozusagen auf (mindestens) doppelte Art eingeschränkt sind: Wir reagieren auf Informationen auf Grund des Rahmens, der sie umgibt und der Resonanz, die sie in unserem psycho-sozialen System hervorruft. Darüber hinaus glaube ich, dass unsere Wahrnehmung und unser emotionales System sehr stark an unser biologisches Dasein gekoppelt sind, was dazu führt, dass Wahrnehmungsprozesse meist unbewußt (instinktiv) ablaufen. Die führt dazu, dass sie schon hier einem „Ausleseprozess“ unterliegen und deshalb auch diesbezüglich defizitär ist.
Ich denke, unsere Wahrnehmung ist für eine lineare Kausalität ausgelegt. Eine dem Muster des ‚gesunden Menschenverstandes‘ unterliegende Folge von Ursache und Wirkung vermittelt das Gefühl der Beherrschbarkeit und Sicherheit. (Dabei wird verkannt/verdrängt, dass Ereignisse kummulativ verlaufen, dass Ereignisse zur Ursache anderer Ereignisse werden, dass es den Schneeballeffekt gibt…)
Wir sind genauso biologisch darauf festgelegt, Erfahrenes automatisch zu interpretieren. Erklärungen binden Fakten zusammen, so, dass sie ‚einen Sinn ergeben‘. D.h., die Fakten leuchten uns eher ein, wenn sie mit Erklärungen über deren Ursache und Wirkung unterlegt werden. Sie verstärken unseren Eindruck, Dinge zu verstehen, sie erhöhen ihre Glaubwürdigkeit, auch wenn die Erklärung, die Verknüpfung von Ursache und Wirkung nicht stimmen. (Wir schalten dabei aus, dass bei der Verarbeitung von Informationen, diese verzerrt werden, indem sie geordnet werden, komprimiert werden, vereinfacht werden, Beziehungen zwischen ihnen hergestellt werden.)
Wir neigen dazu, Fälle eher wahrzunehmen, bzw. nach Fällen zu suchen, die unsere Sicht der Dinge bestätigen . (Und verkennen oft, dass eine Reihe von bestätigenden Fakten oder Beobachtungen nicht notwendiger weise Beweise darstellen. Beispiel: die gestopfte Gans und Heiligabend).
Unser Gedächtnis ist nicht statisch, sondern dynamisch. Es verändert Wahrnehmung bei jeder weiteren Erinnerung und baut nachträglich erlangte Infos unbewußt in vorheriges Erinnern ein, revidiert evtl. kausale Zusammenhänge gemäss dessen, was uns „wirklichkeitsnäher“, sinnvoller erscheint.
Usw.
Unsere Wahrnehmung ist also ein ziemlich defizitäres „Organ“. Es „verfälscht „ die Realität, allerdings auf eine Art und Weise, auf die wir sie (instinktiv) gut gebrauchen können, auch wenn Fehler eingebaut sind. Aber auch aus der Kombination der vielen Unzulänglichkeiten ergibt sich ein sehr individuelles Wahrnehmungsmuster.
Und die Möglichkeit, durch Kunst, ein Wahrnehmungsmuster zu schaffen, welches evtl. den umgekehrten Weg geht.
Dies nur so, als Fussnote zu dem Beitrag sebergs.

bankban
schrieb am 30.08.2009, 13:35 Uhr
Zitat von der Homepage des Hanser-Verlages:
"Platz 1 der SWR Bestenliste

Herta Müller belegt mit ihrem Roman “Atemschaukel” Platz 1 der SWR-Bestenliste im September. Lars Gustafsson ist mit “Frau Sorgedahls schöne weiße Arme” auf Platz 5-6 eingestiegen.

Die Liste basiert auf den Empfehlungen von 30 Literaturkritikern, die jeden Monat in freier Auswahl vier Neuerscheinungen nennen, denen sie möglichst viele Leserinnen und Leser wünschen. Es gibt nur ein Kriterium: Das Lesen muss sich lohnen. "
getkiss
schrieb am 30.08.2009, 13:56 Uhr (am 30.08.2009, 13:56 Uhr geändert).
@Lavinia.
Die "Ansprache" war durchaus beabsichtigt. Es ist für mich nichts neues, dass "es mit vollem Bauch leicht über Hunger - und auch heute noch daran leidenden - dozieren läßt".
"Philosophische Betrachtungen" über Wahrnehmungstheorien gehören leider auch dazu. Ganz unpersönlich.
In den all gemeinen Ehrungschor konnte ich nicht einstimmen. Das hat mit der Person der Schriftstellerin und Ihrem Werk weniger zu tun, eher mit meinen Lesegewohnheiten und meiner eher kritischen Art der Betrachtungsweise. Der ist halt Lobhudelei ein Fremdwort, dass schon zu oft diskreditiert wurde, darum stehe ich so etwas halt skeptisch gegenüber.
Lavinia
schrieb am 30.08.2009, 14:57 Uhr (am 30.08.2009, 15:13 Uhr geändert).
getkiss:
"In den all gemeinen Ehrungschor konnte ich nicht einstimmen. Das hat mit der Person der Schriftstellerin und Ihrem Werk weniger zu tun, eher mit meinen Lesegewohnheiten und meiner eher kritischen Art der Betrachtungsweise. Der ist halt Lobhudelei ein Fremdwort, dass schon zu oft diskreditiert wurde, darum stehe ich so etwas halt skeptisch gegenüber."

Ich möchte nicht, dass eine Fussnote sich zu einer Ablenkung auswächst, deshalb nur ganz kurz:
Dir ist schon klar,getkiss, dass du das Obige gerade treffend illustrierst, oder?
"Ehrenchor" und "Lobhudelei" sind 'Interpretationen' der Wirklichkeit, eine Wertung, die du vornimmst, automatisch: so nimmst du das wahr. Du hast die Infos schon "eingepackt, katalogisiert, komprimiert, vereinfacht...Beim 'Dozieren' verhält es sich ähnlich, weil du damit ausdrückst, dass man sich in Erklärungen flüchtet...Ich meine, dass meine Wahrnehmung vielleicht genauso verzerrt ist, aber ich meine, dass ich nicht lobhudle, weil ich versuche, mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, mich dem Text Herta Müllers zu nähern, zu verstehen, nachzufühlen, ich schreibe meine Gedanken dazu auf, aber ich versuche natürlich auch "Erklärungen" zu finden (und die sind vielleicht auch fehlerbehaftet).Und ich drücke meine Neugierde/Bewunderung/Freude/ Nähe zu ihren Texten aus.
Zweitens schaffst du eine Verbindung zwischen deiner kritischen Art der Betrachtung (Ursache)und der Abneigung gegen Lobhudelei (Wirkung).Deine Wahrnehmung. Meine wäre vielleicht die, dass generell mangelnde Begeisterungsfähigkeit die Ursache sein könnte.(Wärest du etwa 100 Jahre jünger, würde ich pubertäre Coolness annehmen...;-)). Oder Schilddrüsenunterfunktion. Oder eine verringerte Dopaminkonzentration in der linken Gehirnhälfte...Oder...Nur das, was ich am liebsten täte - "Ich weiß es nicht" zu sagen, das würde ich vermutlich nicht tun, denn ich bin von meiner Biologie her so gebaut, dass ich unbewußt, instinktiv nach Erklärungen geifere, weil mir dann die Wirklichkeit beherrschbarer erscheint.
Hier halte ich an, denn Thema ist Herta Müller und nur ganz am Rande Wahrnehmungstheorien...
getkiss
schrieb am 30.08.2009, 15:13 Uhr (am 30.08.2009, 15:15 Uhr geändert).
@Lavinia:
"Meine wäre vielleicht die, dass generell mangelnde Begeisterungsfähigkeit die Ursache sein könnte.(Wärest du etwa 100 Jahre jünger, würde ich pubertäre Coolness annehmen...;-)). Oder Schilddrüsenunterfunktion. Oder eine verringerte Dopaminkonzentration in der linken Gehirnhälfte...Oder..."

Eben. Wenn jemand nicht Deiner Meinung ist, wirst Du persönlich und vermutest sofort "krankhafte Veränderungen".
Dass ist Methode, nicht nur auf mich bezogen, wurde auch bezüglich anderer Forumsteilnehmern benutzt. Nicht einmal.
Ob das als Gesund bezeichnet kann, oder "egozentrisch", dass ist auch so eine Frage? Nur als Spiegelung.

Denn die Methode der persönlichen Diffamierung wurde sehr gerne in der kommunistischen und auch in der NS-"Kritik" benutzt...
Lavinia
schrieb am 30.08.2009, 15:15 Uhr (am 31.08.2009, 00:09 Uhr geändert).
getkiss: Stopp! Das meinte ich witzig!!!! Keine Anmache! Okay?
Alles was du da als pathologisch betrachtest sind meistens lediglich 'Störungen' im Gesundheitszustand und ich wollte mit diesen Beispielen nicht dich verletzen, sondern die noch viel tiefere Beziehung zwischen der Biologie und der Wahrnehmung herausarbeiten. Auch zeigen (durch die Beispiele), dass Wahrnehmung auch selektiv ist...
Ich habe auch oben mich öfter mal auf mich selber zurückbezogen und gezeigt, dass jeder (natürlich auch ich) denselben Wahrnehmungsfallen unterliegt.

Und - ich wollte zeigen, dass das, was jemand als Lobhudelei wahrnimmt, auch etwas ganz anderes sein kann. das schon auch, natürlich.

Und so ganz nebenbei wurde der Beweis geführt, wie fallenreich Wahrnehmung ist...
bankban
schrieb am 30.08.2009, 15:29 Uhr
Leute, Leute: ist es euch zu langweilig, wenns mal keinen persönlichen Streit gibt? Lasst es doch sein.
Ich meine: wenn mich ein Thema nicht interessiert (ein Beispiel von vielen: Maffays 60. Geburtstag) dann gebe ich dazu meinen Senf nicht ab, obwohl ich eine Meinung sowohl zur Person als auch zur Musik habe.
Das Thema hier war und ist die Literatur von HM. Lasst uns dorthin zurückkehren. Ich jedenfalls fand die Beiträge von Lavinia, Schiwwer und Seberg interessant.
Ich habe den Roman "Atemschaukel" vor etwa einer Woche beendet. Leider fand ich keine Zeit, mich ausführlicher zu äußern und schon gar nicht, mich mit einzelnen Passagen in der Breite und Tiefe auseinanderzusetzen, wie dies die drei Personen gemacht haben. Dem meisten konnte ich aber soweit zustimmen.
Immerhin: insgesamt hat mir der Roman sehr gut gefallen, habe ihn gleich weiter verschenkt, um mit ihm einem Verwandten, dessen Großvater aus der Deportation nicht zurückkehrte, eine Freude zu machen.
Mir persönlich macht es zudem Freude, dass der Roman bei der Kritik insgesamt gut ankommt.
Übrigens sollen Teile der Geheimdienstakte von HM in einem Blog öffentlich gemacht worden sein, dies betrifft jedoch den politischen Aspekt von HMs Oeuvre. Wer dazu mehr lesen möchte, sei auf www.kulturraum-banat.de verwiesen. (Erwähnen möchte ich hierbei, dass mich dort die überwiegend zurückhaltende Art des Kommentierens durch eine Person, die hier unlängst des Platzes verwiesen wurde, positiv überrascht. Ich hoffe für die Person, sie möge ihre neu gefundene Ruhe und Abgeklärtheit behalten)
Bankban
Lavinia
schrieb am 30.08.2009, 15:39 Uhr
@Bankban. Es wäre schön, wenn wir uns nicht nur auf das Thema, sondern auch auf die hier agierenden Personen beschränken könnten...
seberg
schrieb am 30.08.2009, 16:17 Uhr
...und möglichst nicht auf provozierend agierende...
Adine
schrieb am 30.08.2009, 23:12 Uhr
Aha...Geschlossene Gesellschaft hier...
Ich meinte natürlich nicht das Drama von Jean-Paul Sartre.
Lavinia
schrieb am 30.08.2009, 23:17 Uhr
@Adine. Hast du das Buch durch? Was meinst du dazu?
Adine
schrieb am 30.08.2009, 23:50 Uhr
Ich darf mitreden?

Ehrlich, ich lese noch. Und ausserdem glaube ich nicht, auf dem Niveau der hier Diskutierenden zu sein. Ich meine dies durchaus positiv.

Ich fand nur die Worte "...der hier agierenden Personen" interessant.
Nach endlosen unchristlichen Predigen endlich eine höchst interessante Diskussion in kleiner Runde.
Hoffentlich bleibt das so.

Georg Schnell
schrieb am 31.08.2009, 04:48 Uhr
@getkis,
nun hast du endlich schriftlich, wie es um deine Gesundheit steht. Mit dem Segen der Moderatoren wird dir dein Gesundheitszustand erklärt und das in aller Öffentlichkeit.
Solltest du aber auf deinen "Befund" antworten, besteht die Gefahr gesperrt zu werden. Also Vorsicht!!
Da fällt mir ein, was ist eigentlich aus C. Gibson geworden?
Hat er nun eine Anzeige am Hals oder sagte er die Wahrheit?
Wurde sein offener Brief beanwortet?
Wir werden es nie erfahren, schade eigentlich.
Adine
schrieb am 31.08.2009, 06:52 Uhr
Das Thema hier ist Herta Müller. Ehrung.
Sollte man sich nicht dranhalten?

Diagnosen betreff Gesundheitszustand eines User werden hier doch nicht im Ernst gestellt. Wo kein Patient, da kein Befund. Oder hat sich Getkiss zur Untersuchung präsentiert?
Und wer ist der Arzt?

Gibson ist noch munter und zuversichtlich auf anderen Foren anzutreffen.

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