Herta Müller . Ehrung

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Schiwwer
schrieb am 25.08.2009, 22:49 Uhr (am 25.08.2009, 23:16 Uhr geändert).
@ Getkiss: "Ob übersättigte Bundesbürger - auch wir - dieses Gefühl überhaupt verstehen können?
Mit vollem Magen läßt sich gut darüber schwadronieren..."

Das ist der Punkt. Ich habe mich als Kind geärgert, dass uns gesagt wurde, dass wir dankbar alles aufessen müssen.
Und dann ertappte ich mich dabei, dass ich, wütend weil meine Kinder irgendein aufwändig gekochtes Essen nicht mochten, sagte: "Ich wünsche euch, dass ihr 5 Stunden Schlange steht um 1 kg Fleisch und dass man das letzte Stück vor eurer Nase verkauft!"
Dann dachte ich bei mir, dass ich nichts gelernt hatte aus meinen Kindheitserfahrungen - ich versuche seit dem, solches zu vermeiden, auch der Hinweis auf die Hungernden der Welt bringt so nichts als Erziehungsmethode.
Lavinia
schrieb am 26.08.2009, 00:51 Uhr (am 26.08.2009, 00:53 Uhr geändert).
@getkiss: "Ob übersättigte Bundesbürger - auch wir - dieses Gefühl überhaupt verstehen können?
Mit vollem Magen läßt sich gut darüber schwadronieren..."

Nun, schwadronieren tut bis jetzt nur einer...;-)
Und die Frage nach dem "verstehen können" hängt nicht allein von dem 'am eigenen Leib erleben' ab, sondern erfordert und setzt komplexere Vorgänge voraus, meine ich.
Ganz abgesehen davon, dass es ein Trugschluss wäre zu glauben, dass die gleichen Bedingungen auch zu gleichen Ergebnissen/Auswirkungen führen...
Außerdem vernachlässigst du jene, die sehr wohl noch 'bessere Kenner' des Hungergefühls wären, aber nicht mehr Zeugnis ablegen können,weil sie ihn schlichtweg nicht überlebt haben.
Und nicht zuletzt muss auch derer gedacht werden, deren Hunger nicht gestillt wurde/wird durch Nahrungsaufnahme (siehe Aussage Pastior, siehe Beitrag schiwweer).
Und dann wäre noch der Hunger der Daheimgebliebenen, die evtl.auch ihren Hunger litten, durch die Abwesenheit ihrer Familienangehörigen bedingt.
Die Liste kann fortgeführt werden.
Es geht nicht darum, ein bestimmtes schreckliches Hungergefühl (nach)empfinden zu können. Das wäre sowieso immer sehr individuell. Und für die meisten nicht beschreibbar - nur lebbar. Herta Müller geht den umgekehrten Weg: sie macht es derart beschreibbar, dass es erlebbar wird, wenn auch nicht...'real'. Aber auch dies Hungergefühl ist individuell, abhängig von den 'Werkzeugen' oder Ressourcen die wir einsetzen, um etwas zu begreifen/verstehen.
seberg
schrieb am 26.08.2009, 08:11 Uhr (am 26.08.2009, 08:12 Uhr geändert).
@Schiwwer: dass du nichts gelernt hast aus deinen Kindheitserfahrungen, kann natürlich gar nicht stimmen und auch dass du in Zukunft zu vermeiden versuchst, Erfahrungen zu vermitteln, ist wohl stark übertrieben gesagt, ich glaube es dir jedenfalls nicht, vielleicht hast du ja irgendwann Enkel, nicht wahr?

Dein auf getkiss bezogenes „das ist der Punkt“ lese ich lieber als offenes „das ist die Frage“:

Ist es wirklich vergeblich, eigene Erfahrungen (auch Hungern, Frieren…) anderen möglichst wahrheitsgetreu (wo ist unser „Wahrheits“spezialist?) vermitteln zu wollen? Erleben und lernen deine Kinder oder die Leser von „Atemschaukel“ wirklich nichts von dem, was SPRACHLICH bei ihnen ankommt? – Wäre es so, könnte man tatsächlich alle pädagogischen oder künstlerisch-schriftstellerischen Bemühungen als vergeblich sofort einstellen.

Die Frage ist ja wohl nur WIE(!!!) man/frau es macht.

Vielleicht „schwadronieren“ wir ja alle hier. Vielleicht schwadroniert sogar Herta Müller und Oskar Pastior mit dem berühmten Drumherumsprechen um das „Unsagbare“ (Atemschaukel, S. 249; dieses Buch hat gerade auch deine/n Punkt/Frage „zum Thema“!). Ob es aber so ist oder doch nicht nur so, sondern auch mehr – das werden die Leser entscheiden, jeder für sich. Auch deine Kinder habe sicher jedes allein und jedes für sich und im Stillen zuletzt dann doch etwas von dir mitgenommen, oder? (Es sei denn, du warst/bist die perfekte Rabenmutter )

(Lesen kann man am besten allein im stillen Kämmerlein, ohne zu schwadronieren, nicht wahr, getkiss? - Schön, dass du aus dem Banat wieder mal rüber- und vorbeischaust…ähhh…“lach“…)

getkiss
schrieb am 26.08.2009, 10:04 Uhr (am 26.08.2009, 10:04 Uhr geändert).
@Lavinia:"Nun, schwadronieren tut bis jetzt nur einer...;-)"

...wenn ich das geschrieben hätte, würde jemand schreiben:
Häää?
Schiwwer
schrieb am 26.08.2009, 12:00 Uhr (am 26.08.2009, 13:49 Uhr geändert).
@Seberg: "Ist es wirklich vergeblich, eigene Erfahrungen (auch Hungern, Frieren…) anderen möglichst wahrheitsgetreu (wo ist unser „Wahrheits“spezialist?) vermitteln zu wollen?"

Natürlich NICHT. Aber es wird für den, der seine eigenen Erfahrungen gesammelt hat, unumgänglich sein damit leben zu müssen (Gott, was für'n Murks. diese Formulierung), dass er sie nicht eins zu eins weiter geben kann, nicht einmal zu sagen wir mal viel mehr als 50%. Dann schleicht sich das Gefühl ein: "Ich KANN es nicht vermitteln, wo es doch eine so wichtige Erfahrung ist." - das kann Betroffene schon frustrieren.
Ich erinnnere mich, dass Ignaz Bubis, kurz vor seinem Tod und nach einem sehr aktiven und engagierten Leben verbittert gesagt hat, dass er NICHTS erreicht habe bezüglich Ausschwitz! Ausgerechnet er! Er hatte mit diesem Ausspruch große Ratlosigkeit bei Journalisten und Lesern hinterlassen.

Literatur wie "Atemschaukel" vermag Stimmung wiederzugeben, das ist viel, deshalb ist sie für mich wahr.
Das ist es, warum wir die schriftlichen statistisch einwandfreien Dokumentationen meines Vaters nicht mochten: Nur seine mündlichen Erzählungen vermittelten Leben, und wenn es ein Leben am Abgrund war, und sind für mich die wahren Zeugnisse. Als ich die "Atemschaukel" verschlang, da fühlte ich mich meinem Vater sehr nahe.
Schiwwer
schrieb am 26.08.2009, 12:38 Uhr (am 26.08.2009, 12:40 Uhr geändert).
Aus:
http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/herta-muellers-roman-ueber-lagerhoelle.html

"Der Ungar Imre Kertész bekam 2002 den Literaturnobelpreis für seine Aufarbeitung der eigenen Auschwitz-Erfahrung. Literatur, die auf hohem literarischen Niveau „Zeugnis ablege“, werde wohl künftig stärker bei der Auswahl von Preisträgern ins Blickfeld kommen, meinte der Sprecher der Schwedischen Akademie damals. Nach der Lektüre der „Atemschaukel“ wird klarer, warum die Stockholmer Juroren Herta Müller schon seit Jahren zum Anwärterkreis rechnen. "

Und noch eins: http://www.deutscheautoren.de/textzu.asp?TZID=11&ID=66
bankban
schrieb am 26.08.2009, 16:05 Uhr (am 26.08.2009, 16:17 Uhr geändert).
http://www.derwesten.de/nachrichten/kultur/2009/8/20/news-129881211/detail.html
und (Neue Züricher Ztg.)
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/das_buch_vom_hunger_1.3409334.html
der Ijel
schrieb am 26.08.2009, 20:19 Uhr (am 27.08.2009, 08:22 Uhr geändert).
www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/herta-muellers-roman-ueber-lagerhoelle.html

jetzt stimmt´s auch mit oberem Link---

www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/das_buch_vom_hunger_1.3409334.html[url]null[/url]

WICHTIG. und sehr interessant sind diese Links von Schiwwer und Bankban zum Thema--- doch wenn Ihr sie so schwarz reinschmeisst nützen sie nur dem der sich die Mühe macht sie blau zu kriegen und dann in seinen eigenen Browser einfügt.
Warum macht Ihr das nicht selbst gleich ?
getkiss
schrieb am 26.08.2009, 22:28 Uhr (am 26.08.2009, 22:32 Uhr geändert).
Falscher Knopp
Lavinia
schrieb am 26.08.2009, 22:36 Uhr (am 26.08.2009, 22:45 Uhr geändert).
Robert (Administrator)
schrieb am 27.08.2009, 08:31 Uhr (am 27.08.2009, 08:32 Uhr geändert).
Diese und weitere Verweise zu aktuellen Themen findet man hier:
http://www.siebenbuerger.de/zeitung/presse/
Schiwwer
schrieb am 27.08.2009, 22:43 Uhr (am 27.08.2009, 22:51 Uhr geändert).
In der "Evenimentul zilei" gibt es seit einiger Zeit Berichte von Überlebenden des Holocausts in Rumänien.
http://www.evz.ro/articole/detalii-articol/865471/Evadarea-dintre-morti-Asta-misca-un-picior-Da-l-inapoi/
(mal sehen, hab ich das jetzt kapiert mit dem Link?)
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hab ich nicht!
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.uff.
Schiwwer
schrieb am 28.08.2009, 09:48 Uhr (am 28.08.2009, 10:01 Uhr geändert).
Für jemanden mit Hang zu Kuriositäten:
Seit Tagen obsediert vom "Meldekraut". Nach Atriplicis herba gegoogelt, vor allem russische Seiten angetroffen. Vom Russischen "lebeda" zu rumänisch "Lobodă" gekommen; auf den Bildseiten wimmelt es von Rezepten.
Es scheint eine osteuropäische Pflanze zu sein, ich dachte zuerst, es sei so eine Art wilder Sauerampfer, weil die Russlanddeutschen in unserem Übergangswohnheim das sammelten.

Im Lager meiner Mutter sollen diejenigen, die sich nur von Loboda ernähren konnten, Wasser in den Füßen bekommen haben, das bis zum Herzen stieg und tödlich ausgehen konnte.
Letztendlich war das auch ein Hungertod.

Und da fällt mir wiederum Herta Müllers Essay ein, wo sie über Pflanzen schreibt, die für sie eine bestimmte politische Konnotation erhalten haben, Pflanzen, die Verrat übten, nicht nur rote Nelken. Meine Mutter sagt immer in einem Atemzug: Lobodă, von dem starben die Leute, bei vollem Verstand, schreiend vor Schmerzen, wenn das Wasser ihr Herz erreichte.
Lavinia
schrieb am 28.08.2009, 23:11 Uhr

@Oh ja, Schiwwer, Herta Müller und die Pflanzen - das ist ein sehr interessante Beziehung! In einem Essay sagt Herta Müller: "In der Dorfsprache - so schien es mir als Kind - lagen bei allen Leuten um mich herum die Worte direkt auf den Dingen, die sie bezeichneten."
Sie spricht von den Tintentrauben, dem wilden Wein, und assoziiert: "Ich wußte, einschlafen heißt, sich in der Tinte ertränken zu lassen."
Als Kind musste sie Kühe hüten. Die Nähe zu Pflanzen, deren Benennung, die Erfindung neuer Pflanzennamen, deren "Charakter" , daran gekoppelte existenzielle Fragen - das alles entwickelt sich schon in diesen langen Tagen, begleitet immer von dem Bewußtsein, etwas zu denken, was sie nicht soll.
Sie sagt: "Es ist nicht wahr, dass es für alles Worte gibt. Auch, dass man immer in Worten denkt.Bis heute denke ich vieles nicht in Worten, nicht im Dorfdeutschen, nicht im Stadtdeutschen, nicht im Rumänischen, nicht im Ost- und Westdeutschen. Und in keinem Buch. Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin,wo sich Wörter nicht aufhalten können."
Ein Aprikosenbaum,den sie in Berlin entdeckt, "ist ein Stück weggelaufenes Dorf", weil nach dem Tod ihres Vaters der heimische Aprikosenbaum nicht blühte. Feindselig waren im Dorf der Mais, in der Stadt Thuja und Tannen: "Thuja und Tannen dienten der Macht als immergrüne, blickdichte lebende Zäune um die Staatsgebäude und Privatvillen. (...)die Samenkapseln der Thuja und die Tannenzapfen sehen aus wie kleine Urnen. Diese Pflanzen hatten ihr Naturell verlassen, sie waren übergelaufen zum Staat."
Interessant auch, dass gerade eine Meinungsverschiedenheit zwischen Herta Müller und Oskar Pastior, die Tanne betreffend, den Ausschlag gab für die Zusammenarbeit der beiden an dem Projekt, welches später unter dem Titel "Atemschaukel" erschien.


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