Kontinuitätstheorie versus Migrationstheorie

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seberg
schrieb am 06.08.2007, 11:17 Uhr
Noctuus schrieb: ... der Mensch ist (zumindest auch), was er bewußt ist.

Am besten gefällt mir das "zumindest auch"!

Denn das lässt ja Raum für "noch etwas anderes", das Sie damit konzedieren, nämlich dafür, was der Mensch eben NICHT bewusst ist.

Vielleicht können wir uns ja darauf einigen, dass dieses Andere ein zugegebenermaßen sehr wichtiger und großer Teil jeder menschlichen Existenz ist, Sie würden es vielleicht mit Glauben, Gottesfurcht, Frömmigkeit, Religiosität bezeichnen, ich mit dem Unbewussten - beides jedoch Teil dessen, was sich der Ratio und dem Bewusstsein entzieht, also des Irrationalen. Kommt nur darauf an, ob wir dafür endgültige und ewig wahre Antworten zu haben vorgeben, oder auf der Suche bleiben. (Eigentlich machen wir hier ja alle das Letztere, oder?)
The history of Igor
schrieb am 06.08.2007, 11:22 Uhr
Noctuus, ich glaube Sie verwechseln hier einiges:

Noctuus schrieb:
Hier muss ich absolut widersprechen. Kultur ist alles andere als ein (aufgesetztes) Konstrukt, es ist der Ausdruck des (Bewußt-)Seins. Glaube, Identität, die Seelenlage einer Gesellschaft kommt in deren Kultur zum Ausdruck. Konstruierte Kulturen gibt es allenfalls in völkerkundlichen Museen - rekonstruierte.


Museen sind ein ganz 'extremes' Beispiel von Konstruktionsprozessen, aber Kultur wird immer vermittelt: In der Erziehung, Bildung, in Sportvereinen, in Kneipen, in den Medien etc...
Identitaet: ein ganz schwieriges Konzept, aber ich wuerde behaupten das eben jene Identitaet immer konstruiert ist (es gibt ja keine 'Ur-Identitaet', vor allem nicht fuer Gruppen). Von Anderson, ueber Foucault, bis hin zu Zizek...alle gehen von einer konstruierten 'Wirklichkeit', oder Identitaet aus.
Glaube: Das Paradebeispiel von Konstrukt.
Die Seelenlage einer Gesellschaft: Ich weiss nicht was sie damit meinen. Ich kann damit wenig anfangen; vielleicht koennen Sie ja naeher darauf eingehen.

Noctuus schrieb:
Gehen wir mal einen Augenblick weg von den Rumänen und hin zu den Sachsen. Neben den Trachten und manchem landestypischen Rezept: was sind typische Merkmale sächsischer Kultur? Baulich sicherlich die Kirchen und Kirchenburgen. In der Literatur fanden sich zunächst Werke mit christlichen Anklängen, später wurde Zeitgeschichte aufgearbeitet: nationalsozialistische wie kommunistische, dann das Leben in den 70er und 80er Jahren thematisiert.
Wenn ich Beiträge in diesem Forum mal als repräsentativ annehme, so ist das Christliche weg. Kirchenburgen würden die Sachsen heute nicht mehr bauen, denn sie glauben kaum noch. Geschichtlich wird noch immer diskutiert, natürlich, doch der Blickwinkel hat sich verschoben. Oft geht es nur noch um persönlich erlittenes Unrecht. Das Verhalten der Volksgruppe im Nationalsozialismus und im Kommunismus spielt keine große Rolle mehr. Zusammengefaßt würde ich das als kulturellen Wandel beschreiben.


Allein das Wort oder das Konzept der Sachsen ist ein Konstrukt. Es gab keine saechsische Identitaet...sie hat sich ueber Jahrhunderte gebildte.

Nur so als Anmerkung: Leider ist das Christliche noch da. Und ich wuerde behaupten, dass "[d]as Verhalten der Volksgruppe im Nationalsozialismus und im Kommunismus" noch immer ein zentraler Aspekt saechsischer Identitaetsfragen ist.

Schliesslich, kultureller Wandel: Das ist doch ein Prozess einer (Um)Konstruktion.

Noctuus schrieb:
Was die Manele-Kritik angeht, so empfehle ich dem Herrn Cäsar den Besuch eines bundesdeutschen Hip Hop-Tempels. Was er da zu hören bekommt ist genauso repäsentativ für "die Bevölkerung" wie das, woran er sich offensichtlich auf den Märkten von Oradea oder Constanta stört.


Was ist Hip Hop anderes als ein integraler Bestandteil einer 'westlichen' Kultur?

@Ein Bukowiner: Willkommen in der Runde.

"Leider die Quasimehrheit der rumänischen Bevölkerung fühlt sich und gehört Richtung Osten zu."

Weshalb 'leider'? Das ist vielleicht ein Ausdruck einer konstruierten Identitaet (wir sollten eigentlich zum Westen gehoeren), die sich auf einer verschrobenen Huntington These stuetzt (die allerdings schon im 19 Jhd existierte): 'Der Westen ist progressiv, der Osten rueckstaendig; deshalb sollten wir uns dem Westen zuneigen.' Das ganze basiert natuerlich auf statische stereotypen par excellence (von einer festen Abtrennung zwischen 'Osten' und 'Westen' kann einfach keine Rede sein).

Noctuus schrieb:
Leute mit konstruierter Identität sind mir immer suspekt gewesen, denn ihnen allen war eine gewisse Ungeduld und Radikalität zu eigen.


Identitaet ist ein Konstrukt. Man wird nicht als Punk, Fussballfan, Politik-Interessierter, Indien-Fan, Theologe, etc. geboren. Diese Aspekte eignet man ich im Laufe der Zeit an (Bildung, Erziehung, Freundeskreis, andere Faktoren). Sind Ihnen alle Menschen suspekt? Den Zusammenhang zwischen 'Konstrukt' auf der einen Seite und 'Ungeduld' und 'Radikalitaet' auf der anderen Seite sehe und verstehe ich nicht.
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 11:50 Uhr
The history of Igor schrieb: Identitaet ist ein Konstrukt. Man wird nicht als Punk, Fussballfan, Politik-Interessierter, Indien-Fan, Theologe, etc. geboren.
Das dürfte auch kaum erschöpfend jemandes Identität ausmachen - oder vielleicht doch, in diesen im Westen zunehmend identitätslosen Zeiten.

Bei dem Verweis auf den vermeintlich so progressiven Westen mußte ich schmunzeln: Der Vampir als archaischer Stachel im Fleisch einer fortschrittlichen Gesellschaft.
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 11:55 Uhr
The history of Igor schrieb:
Es gab keine saechsische Identitaet...sie hat sich ueber Jahrhunderte gebildte.

Nur so als Anmerkung: Leider ist das Christliche noch da.

Meine Rede. Sie ist nun aber verschwunden, oder vielmehr unter den neuen Lebensumständen zur reinen Folklore geworden.

Das "Leider" bestätigt meine Aussage. Mit Jörns würde ich allerdings sagen, daß das Christliche in Deutschland nur noch "einen Bodensatz" ausmacht. Der Kulturabbruch ist damit total.
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 11:59 Uhr (am 06.08.2007, 12:02 Uhr geändert).
seberg schrieb: Noctuus schrieb: ... der Mensch ist (zumindest auch), was er bewußt ist.

Am besten gefällt mir das "zumindest auch"!

Denn das lässt ja Raum für "noch etwas anderes", das Sie damit konzedieren, nämlich dafür, was der Mensch eben NICHT bewusst ist.

Nicht nur. Natürlich nicht. In dem Punkt haben wir Konsens - auch wenn ich das Religiöse nicht dem Irrationalen zuschreiben würde. Wie auch, als (studierter) Theologe?
The history of Igor
schrieb am 06.08.2007, 12:11 Uhr
'Progressiv' was natuerlich ironisch gemeint.

Und so ganz identitaetslos ist man im globalisierten 21 Jhd nicht. Identitaet ist viel persoenlicher geworden. D.h. man gehoert keiner Gruppe mehr an (extrem ausgedrueckt), sondern 'waehlt' oder 'baut' seine Identitaet. Globalisierung (nicht im marktwirtschaftlichem Sinne) und Vernetzwerkung (Internet, Reisen) spielen da eine grosse Rolle.

Uebrigens, das 'leider' bezog sich eigentlich nur auf meinen persoenlichen Atheismus. Das mueessten Sie als Theologe besonders zu schaetzen wissen. Zumindest habe ich mich diesbezueglich positioniert.
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 12:53 Uhr (am 06.08.2007, 12:56 Uhr geändert).
The history of Igor schrieb: 'Progressiv' was natuerlich ironisch gemeint.

Und so ganz identitaetslos ist man im globalisierten 21 Jhd nicht. Identitaet ist viel persoenlicher geworden. D.h. man gehoert keiner Gruppe mehr an (extrem ausgedrueckt)...

Margaret Thatcher war nicht nur in diesem Punkt ihrer Zeit vorraus: "There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families."

Allerdings glaube ich nicht, daß das ein tragfähiges Konzept ist, denn die Atomisierung einer Gesellschaft führt zwangsläufig zu deren Auflösung. Wir erleben diesen Prozess gerade.

Was Ihren Atheismus angeht, so begrüße ich den natürlich nicht, Ihre Offenheit dagegen schon.
seberg
schrieb am 06.08.2007, 13:08 Uhr (am 06.08.2007, 13:47 Uhr geändert).
Noctuus schrieb:
...auch wenn ich das Religiöse nicht dem Irrationalen zuschreiben würde. Wie auch, als (studierter) Theologe?


Wie verstehe ich das: religiös wird man durchs Studium der Theologie? Oder lernt man durchs Theologiestudium, dass Religiosität etwas Rationales ist?


Zitat Noctuus:
...So gesehen gehen Sein und Bewußtsein letztlich doch nicht auseinander.

„So gesehen“: das finde ich gut, Sie halten damit andere Sichtweisen für möglich, das finde ich beruhigend.

Und ob es in die Schizophrenie führt, wenn Sein und Bewusstsein "getrennte Wege gehen", das lassen Sie meine Sorge als "Klapsdoktor" mit 30-jähriger Erfahrung sein, diese Ihre "Sicht" könnte eher für Ihre eigene Angst sprechen, dem nicht gewachsen zu sein, was jeder Mensch, religiös oder nicht, täglich aushalten muss: die ganz normale "Schizophrenie" des täglichen Lebens zwischen kümmerlichem Sein und hehrem Bewußtsein, z.B. die, wie ich annehme, tiefe Sorge (Bewusstsein) eines religiösen Menschen und Theologen mitten in einer Gesellschaft des „totalen Kulturabbruchs“ mit einem "kümmerlichen Bodensatz an Christlichem", mit einer "Atomisierung" und "Auflösung der Gesllschaft" (Sein). Ich gebe zu: das Irrationale, einschließlich das Religiöse und die Kunst, ist da manchmal und für manche ein klügerer Helfer als das Rationale und das Bewusstsein. Es ist ja schließlich auch viel älter als der Mensch und war schon lange vor ihm da, schon zu Zeiten der Dinosaurier.

Wer war übrigens Friedrich Nietsche? Klingt irgendwie nach Niete. Oder meinten Sie Nietzsche, den mit den vielen schönen philosophischen Konstrukten?
The history of Igor
schrieb am 06.08.2007, 13:19 Uhr
Noctuus schrieb:
Margaret Thatcher war nicht nur in diesem Punkt ihrer Zeit vorraus: "There is no such thing as society. There are individual men and women, and there are families."


Soweit ich weiss hat sich Maggie mit diesem Zitat auf gesellschaftliche, und vor allem staatliche Verpflichtungen bezogen: i.a.W. Es gibt keine Gesellschaft, deshalb muss der Staat sich nicht um das Wohlbefinden der Gesellschaft kuemmern (z.B. Krankenversicherung, Rente, andere Hilfsleistungen). Ihres Erachtens nach sollte das alles privatisiert werden. Das hat wenig mit meinem Ansatz einer personalisierten Identitaet zu tun. Die zwei Sachen sollten nicht verwechselt werden (ich bin weder Thatcherite noch Reagenite). Es gibt 'linksdenkende' Intellektuelle, die genau diese These vertreten (d.h. Maggie und Ronald nicht-Gesellschafts konzept hat nix damit zu tun), z.B. Slavoj Zizek.
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 13:24 Uhr (am 06.08.2007, 13:25 Uhr geändert).
The history of Igor schrieb: Soweit ich weiss hat sich Maggie mit diesem Zitat auf gesellschaftliche, und vor allem staatliche Verpflichtungen bezogen...
Nicht allein. Es ging ihr schon auch um ein Gesellschaftsmodell und, vor allem, um ihre Vorstellung von (Selbst-)Verantwortung - das tut es eigentlich immer: Interview for Woman's Own.
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 13:40 Uhr (am 06.08.2007, 13:41 Uhr geändert).
seberg schrieb:
Wer war übrigens Friedrich Nietsche? Klingt irgendwie nach Niete. Oder meinten Sie Nietzsche, den mit den vielen schönen philosophischen Konstrukten?

Ja, ich habe den Rechtschreibfehler schon um die Ohren gehauen bekommen. Bei Zeiten werde ich ihn korrigieren. - obwohl mir das Ding mit der Niete gut gefällt. :D
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 13:50 Uhr
seberg schrieb: Wie verstehe ich das: religiös wird man durchs Studium der Theologie? Oder lernt man durchs Theologiestudium, dass Religiosität etwas Rationales ist?
Weder noch, nur kenne ich kein irrationales Studium. Glauben tut man mit Herz und Verstand. Der ganze Mensch ist da gefragt.

seberg schrieb: Und ob es in die Schizophrenie führt, wenn Sein und Bewusstsein "getrennte Wege gehen", das lassen Sie meine Sorge als "Klapsdoktor" mit 30-jähriger Erfahrung sein...
Warum sollte ich? Sie überlassen ja auch die Beurteilung des Religiösen nicht mir als dem Fachmann.
Das Schielen nach den Fachqualifikationen ist ohnehin so ein Phänomen: Kann ein Musiker nicht 2 + 2 zusammenzählen und ein Mathematiker nicht Geige spielen?
Warum sollte ein Theologe nicht auch seine Meinung zur Psychologie haben und der Psychologe sich nicht in der Bibel auskennen dürfen?
Fragen über Fragen.

seberg schrieb: ...diese Ihre "Sicht" könnte eher für Ihre eigene Angst sprechen, dem nicht gewachsen zu sein, was jeder Mensch, religiös oder nicht, täglich aushalten muss: die ganz normale "Schizophrenie" des täglichen Lebens zwischen kümmerlichem Sein und hehrem Bewußtsein...
Ist das ein Versuch, weg von der Sach- hin auf die Personenebene zu kommen, oder ist es schlicht beruflicher Reflex?
The history of Igor
schrieb am 06.08.2007, 14:34 Uhr
Ja, ein Gesellschaftsmodell, natuerlich sollte jeder Eigenverantwortung laut Maggie zeigen, damit der Staat nicht zahlen muesste. Aber es ging nicht um Identitaet. Und darum ging es hier.

Ich habe nicht erwartet, dass das hier zu einer Debatte ueber Glauben ausarten wuerde, aber glauben (im religioesen Sinne) tut man wohl eher nicht mit dem Verstand...
Noctuus
schrieb am 06.08.2007, 14:43 Uhr
The history of Igor schrieb: Ja, ein Gesellschaftsmodell, natuerlich sollte jeder Eigenverantwortung laut Maggie zeigen, damit der Staat nicht zahlen muesste. Aber es ging nicht um Identitaet. Und darum ging es hier.
Nein, das ist eine absolute Verkürzung. Es ging sehr wohl um Identität, deshalb hatte ich den Link gepostet:

"There is living tapestry of men and women and people and the beauty of that tapestry and the quality of our lives will depend upon how much each of us is prepared to take responsibility for ourselves and each of us prepared to turn round and help by our own efforts those who are unfortunate. And the worst things we have in life, in my view, are where children who are a great privilege and a trust—they are the fundamental great trust, but they do not ask to come into the world, we bring them into the world, they are a miracle, there is nothing like the miracle of life—we have these little innocents and the worst crime in life is when those children, who would naturally have the right to look to their parents for help, for comfort, not only just for the food and shelter but for the time, for the understanding, turn round and not only is that help not forthcoming, but they get either neglect or worse than that, cruelty.

How do you set about teaching a child religion at school, God is like a father, and she thinks "like someone who has been cruel to them?" It is those children you cannot … you just have to try to say they can only learn from school or we as their neighbour have to try in some way to compensate. This is why my foremost charity has always been the National Society for the Prevention of Cruelty to Children, because over a century ago when it was started, it was hoped that the need for it would dwindle to nothing and over a hundred years later the need for it is greater, because we now realise that the great problems in life are not those of housing and food and standard of living. When we have got all of those, when we have got reasonable housing when you compare us with other countries, when you have got a reasonable standard of living and you have got no-one who is hungry or need be hungry, when you have got an education system that teaches everyone—not as good as we would wish—you are left with what? You are left with the problems of human nature, and a child who has not had what we and many of your readers would regard as their birthright—a good home—it is those that we have to get out and help, and you know, it is not only a question of money as everyone will tell you; not your background in society. It is a question of human nature and for those children it is difficult to say: "You are responsible for your behaviour!" because they just have not had a chance and so I think that is one of the biggest problems and I think it is the greatest sin."
The history of Igor
schrieb am 06.08.2007, 15:38 Uhr
Was das mit Identitaet zu tun hat verstehe ich zwar immer noch nicht, aber was soll's...

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