Die Siebenbürger Sachsen lebten über Jahrhunderte in einer multikulturellen Region und einem entsprechenden gesellschaftlichen Umfeld. Zu den verschiedenen Aspekten ihrer Kontinuität gehört nicht nur die Wahrung der kulturellen und nationalen (deutschen) Identität, sondern sie verstanden sich als Mittler zwischen verschiedenen Kulturen (Gündisch in diesem Band). Gerade deshalb verwundert es, dass die Siebenbürger Sachsen, genauso wie alle Deutschen aus den übrigen ost- und südosteuropäischen Ländern, als ersten Grund für ihre Ansiedlung angeben: "Als Deutsche unter Deutschen leben zu wollen"
(Wagner 1979, 10, BpB 1989).
Wie kam es nach jahrhundertelangem Miteinander und Nebeneinander, in dessen Verlauf Menschen verschiedener Völker und Konfessionen gemeinsam die Grundlagen und Institutionen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa schufen, zu einem Gegeneinander? Wieso wurden und werden in unserem Jahrhundert ethnische Säuberungen (Genozid und Vertreibung) als eine Möglichkeit betrachtet, Nationalitätenprobleme zu lösen, und mit diesem Ziel eingesetzt? Welche Beweggründe haben Menschen, die auf eine so lange und traditionsreiche Geschichte zurückblicken können, veranlasst, ihre seit Jahrhunderten angestammte Heimat zu verlassen?
Deutschland war seit der Nationalstaatsgründung von 1871 immer schon einer der ethnisch homogensten Staaten Europas und die Bundesrepublik Deutschland ist es mit einem Ausländeranteil von 7,5 % auch jetzt noch. Ein großer Teil der Bevölkerung befürwortet den Aufbau einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland, viele Politiker arbeiten gezielt darauf hin. Die Bereitschaft, den Deutschen aus Ost- und Südosteuropa den Zuzug nach Deutschland zu gewähren, wird seit Beginn der großen Auswanderungswelle 1987 als Deutschtümelei abgetan, und die Betroffenen werden in die Nähe von Rechtsradikalen gestellt, teilweise sogar als rechtsradikales Potential eingestuft. Der Anteil von Rechtsradikalen unter den Aussiedlern dürfte nicht größer sein als in der übrigen deutschen Bevölkerung bzw. in allen anderen Ländern Europas.
"Die Ostvertriebenen selbst merken enttäuscht und verbittert, wie gering die Kenntnis des Ostens selbst in gebildeten Kreisen
ist, ja wie leicht das Eintreten für diesen Osten als Nationalismus mißdeutet wird"
(Lemberg 1949: 48); beide Feststellungen gelten nach wie vor. Die Aussiedler werden von vielen als Wirtschaftsflüchtlinge angesehen. Diese an Stammtischen und von populistischen Politikern verbreiteten Erklärungen greifen zu kurz. Wirtschaftliche Motive allein können vor allem das Ausmaß der Aussiedlung nicht befriedigend erklären.
Damit man die Aussiedlungsmotive verstehen bzw. die Aussiedlung von Deutschen aus Osteuropa in die Bundesrepublik erklären
kann, müssen erstens die Ursachen der Auswanderung (push-Faktoren), in diesem Fall aus Siebenbürgen, und zweitens
die Anziehungskräfte (pull-Faktoren) in der Bundesrepublik Deutschland erörtert werden. Folgende Thesen sollen
begründet werden: Die wichtigsten Faktoren, die den Massenexodus verursachten, sind jahrzehntelange Deklassierung im
Herkunftsgebiet unabhängig vom gerade herrschenden politischen System sowie die Gefahr des Identitätsverlustes;
und: Die Bundesrepublik ist ein Fluchtort, wo genau diese drückenden Nachteile fehlen und eine gute Integration
möglich ist.
Übersicht
9.1 Ostsiedlung: mittelalterlicher Landesausbau im Osten
"Es gibt kaum eine historische Frage, die so viele Kontroversen und Polemiken hervorgebracht, so viel heftige und
gegensätzliche Propaganda, so viele nationalistische und ideologische Leidenschaften entfacht hat wie die deutsche Kolonisation im
Osten, die meistens mit dem inzwischen pejorativ empfundenen Begriff ,Der Drang nach Osten‘ bezeichnet wird"
(Higounet 1986: 15),
so der französische Historiker Charles Higounet, der einen wissenschaftlich fundierten Überblick, frei von nationaler Rhetorik,
über die Ostsiedlung liefert. Den Hauptgrund für diese heftigen Kontroversen und Polemiken bildet das Interesse aller Seiten
(Deutsche, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Slowenen, Serben, Kroaten, Rumänen, Polen, Balten, Ruthenen), im mittelalterlichen
Landesausbau Legitimationen für territoriale Ansprüche moderner Nationalstaaten zu finden. Dazu eignen sich diese historischen
Vorgänge nicht. Leider finden sich noch - allerdings immer weniger - Historiker, die unter Missachtung wissenschaftlicher Standards
für solche Manipulationen zur Verfügung stehen. Im Folgenden sollen diese Vorgänge ohne nationale Scheuklappen kurz
geschildert werden. Dabei wird als Grundlage neben dem genannten Buch von Higounet vor allem ein Tagungsband verwendet, das Standardwerk
zur Ostsiedlung, zu diesem Thema, in dem Beiträge aus Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Österreich, der
Schweiz, Frankreich und Deutschland enthalten sind (Schlesinger 1975, weiterhin (Dralle
1991, zur Ansiedlung der Siebenbürger Sachsen
vgl. (Gündisch in diesem Band, (Gündisch 1998,
Roth, Harald 1996).
Die Deutschen waren im Osten keine brutalen Eroberer oder Vertreter einer imperialen Macht, sondern schufen gemeinsam mit Menschen
anderer Nationalität als Bürger multinationaler und multikonfesioneller Staaten die Institutionen und Grundlagen der heutigen
mittel-, ost- und südosteuropäischen Welt. Dies muss vor allem deshalb festgehalten werden, weil teilweise auch heute noch ein
falsches Bild von diesen Vorgängen existiert bzw. von manchen bewusst gepflegt wird. Die Grundvorstellung von der Geschichte des
Mittelalters und damit auch der Ostsiedlung wurde im 19. Jahrhundert gewonnen, als die Geschichtswissenschaft in einer von nationalen Ideen
und Leidenschaften geprägten Zeit entstand. Dabei wurden Begriffe und Wertungen, die dieser Zeit selbstverständlich erschienen,
auch auf die Ostsiedlung übertragen. Die Hauptantriebe der Ostsiedlung wurden in nationalen Zielsetzungen gesucht. Das entspricht nicht
der Realität. Es ist auch nicht die Ostsiedlung, die zu den nationalen Katastrophen unseres Jahrhunderts führte
(Higounet 1986: 335). Weiterhin ist es falsch, der Vergangenheit einen Sinn unterzuschieben bzw. etwa für die Siebenbürger
Sachsen das Ende einer "historischen Aufgabe" festzustellen (Hartl 1994), da historische Prozesse weder einen Sinn noch ein
Ziel (Telos) haben (Popper 1987). Ein Missbrauch historischer Tatsachen kann vermieden werden, wenn Historiker weder
nach historischen Finalitäten (Gesetzen und Zielen) noch nach Legitimationen für territoriale Ansprüche suchen.
Welche Aufgaben eine Gruppe erfüllen will bzw. welche Ziele und Lebensaufgaben sich Menschen setzen, hängt von deren
Willen ab. Das Selbstverständnis einer Gruppe kann sich aber im Laufe der Jahrhunderte ändern bzw. wandeln.
Die von Deutschen bewohnten wie auch die von ihnen beherrschten Gebiete haben sich im Laufe des letzten Jahrtausends mehrfach
geändert. Seit der Karolingerzeit (9. Jahrhundert) trat eine innere Kolonisation durch Landesausbaus und eine
äußere
Kolonisation durch Erwerb von neuen Gebieten, insbesondere im Osten, ein. Rodungen im Altsiedelland und Ostsiedlung sind
derselbe Vorgang. Die Ostsiedlung gehört in die Geschichte des mittelalterlichen Landesausbaus, der in erster Linie ein
Vorgang der Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, aber auch der Verfassungs- und Rechtsgeschichte war. Im 11.
und 12. Jahrhundert entstanden Dörfer im späteren Sinn, während die Menschen früher in Einzelhöfen
lebten. Die Bevölkerung stieg in Deutschland und Skandinavien vom 10. bis 14. Jahrhundert von 4 auf 11,5 Millionen Menschen;
nach der Mitte des 14. Jahrhunderts sank die Zahl infolge von Pestwellen und Hungersnöten auf 7,5 Millionen. Die mittelalterliche
Ostsiedlung versiegte Mitte des 14. Jahrhunderts infolge von Hungersnöten und Seuchen, gleichzeitig auch der Landesausbau im
Altsiedelland. Der mittelalterliche Landesausbau im Westen und Osten Europas hatte insbesondere folgende Wirkungen:
- 1. Erweiterung der landwirtschaftlich genutzten Fläche
- 2. Veränderungen der Produktionsformen und Technik. Dies führte zu erhöhter Produktivität und
vermehrter Arbeitsteilung (1 Korn Saat führte zu 3-4 Körner Ernte; früher war das Verhältnis 1 zu 2).
- 3. Einführung der Dreifelderwirtschaft
- 4. Einführung neuer Geräte z.B. der bodenwendende Pflug
- 5. Erhöhung der Zahl derer, die nicht an der landwirtschaftlichen Produktion beteiligt waren. Dieses führte zu
Städtegründungen und Wiederherstellung des kulturellen Niveaus, wie es vor der Völkerwanderung bestand.
Diese wirtschaftlichen und technologischen Errungenschaften, aber auch kulturellen Entwicklungen
(erste Gründung von Universitäten) können von ihrer enormen Tragweite her eigentlich nur mit der Industrialisierung
(im 18. und 19. Jahrhundert) verglichen werden. Während der Renaissance und später während der Aufklärung
erhielt das Mittelalter ein negatives "Image", das vor allem auf Erfahrungen während der Pestwellen und der Inquisition
gründete. Weiterhin werden die großen, zumeist unspektakulären Entwicklungen in der Geschichtsschreibung kaum
berücksichtigt. Die Schilderung der politischen Auseinandersetzung, etwa der Inverstiturstreit zwischen Kaisertum und Papsttum,
steht im Vordergrund.
Zu den Ursachen der Auswanderung (push-Faktoren) der Ostsiedlung gehören:
- 1. Überbevölkerung im Westen
- 2. Verknappung des bebaubaren Bodens
- 3. starke Zerstückelung des Grundbesitzes
- 4. Lockerung der bäuerlichen Abhängigkeit von der Grundherrschaft.
Zu den Ursachen der Herbeiholung (pull-Faktoren) gehören:
- 1. Christianisierung Polens, Böhmens und Ungarns
- 2. wirtschaftliche Erfordernisse in diesen drei Ländern
- 3. Verteidigung der Landesgrenzen
- 4. Erhaltung der fürstlichen Macht.
Die Ostsiedlung war kein kriegerischer, sondern im Wesentlichen ein friedlicher Vorgang. Sie stieß im Gegensatz zur
Ausdehnung der politischen Herrschaft nicht auf Widerstand, sondern wurde von den Fürsten in Ungarn, Böhmen,
Schlesien, Pommern, Mecklenburg und Polen gefördert. Die Deutschen waren korporativ zusammengeschlossen und privilegiert
in Siebenbürgen und im Baltikum. In Schlesien durchdrangen sie Staat und Gesellschaft, ohne als Gesamtheit eine Sonderstellung
innezuhaben.
An der Auswanderung nach Osten nahmen Sachsen, Rheinländer, Holländer, Flamen, Franken und andere Gruppen teil.
Der Begriff "Deutsche Ostsiedlung", im Übrigen auch von den oben erwähnten Büchern im Titel benutzt, ist
teilweise irreführend. Er verleitet zur Annahme, dass der mittel- und osteuropäische Landesausbau nur von deutschen
Stämmen bewerkstelligt wurde. Dabei wird oft der Beitrag unterschlagen, den z.B. slawische Stämme sowie die Ungarn geleistet
haben. Aus dem übrigen Westeuropa kamen selten Bauern, sondern hauptsächlich Mönche verschiedener Orden, vor allem
in den Zeiten, als die spanische Reconquista erfolgreich war, sowie Bergleute, Handwerker und unternehmerische Kräfte
(u. a. Kaufleute). Christliche Orden waren nicht nur an der Mission der Heiden beteiligt, sondern übernahmen bei der Entwicklung
der Landwirtschaft Pionieraufgaben, insbesondere die Zisterzienser und die Prämonstratenser. Die Ostsiedlung muss also im
Rahmen einer umfassenden Ostbewegung, eines mittel- und osteuropäischen Landesausbaus gesehen werden.
Dazu gehörte:
- 1. Christliche Mission
- 2. Siedlung, Gründung neuer Dörfer und Städte; die Anzahl der Dörfer und Städte war im Mittelalter
größer als heute, da einige Siedlungen nach der großen Pestwelle aufgegeben und auch später nicht mehr wiedererrichtet
wurden. Die meisten Dörfer und Städte wurden damals gegründet.
- 3. Ausbreitung westlicher Verfassungs-, Rechts- und Wirtschaftsformen im deutschen Gewande nach Osten
- 4. Ausbreitung abendländischer Wissenschaft, Dichtung und bildender Kunst
- 5. Ausdehnung der politischen Herrschaft.
Im Rahmen dieser Siedlung entstanden die sogenannten Neustämme.
Sie entwickelten sich aus der verbliebenen Vorbevölkerung (Altpreußen, Slawen) und eingewanderten Teilen der
deutschen Altstämme (Franken, Bayern, Sachsen, Friesen, Thüringer, Allemanen), die aus westlich von
Elbe-Saale-Böhmerwald liegenden Gebiet kamen. Zu den Neustämmen zählten:
- 1. Brandenburger, Mecklenburger, Pommern, West- und Ostpreußen mit überwiegend niederdeutscher Herkunft und Mundart
- 2. die Obersachsen, Schlesier und Siebenbürger Sachsen mit mitteldeutscher Herkunft und Mundart
- 3. die Österreicher mit oberdeutscher Herkunft und Mundart.
Die Ostsiedlung breitete sich in räumlichen und zeitlichen Wellen aus. Sie begann im 8. Jahrhundert an der mittleren Donau und in
den Ostalpen, erreichte während des 10. Jahrhunderts den Raum der Mark Meißen und überschritt im 12. Jahrhundert die
Elbe-Saale-Linie, im 13. Jahrhundert die Weichsel und die untere Memel. In diesen Gebieten erfolgte ein intensiver Landesausbau, der die
deutsche Besiedlung von Österreich, Kärnten, Steiermark, Schlesien, Brandenburg, Mecklenburg, Pommern, Preußen
und der Randgebiete Böhmens und Mährens zur Folge hatte. Über den geschlossenen Bereich hinaus waren noch
größere oder kleinere Siedlungsgruppen weit nach Osteuropa hinein vom Baltikum bis ans Schwarze Meer entstanden. Hier
spielte neben der bäuerlichen Siedlung die städtische die Hauptrolle: Die Städte Ungarns, Böhmens, Polens,
(Alt)Litauens und des Baltikums sind fast alle von Deutschen und nach deutschem Recht gegründet.
Alle Könige in Polen, Ungarn und Böhmen betrachteten die Ausländer als Träger höherer Kultur und
technisch-organisatorischen Neuerungen, die sie in ihren Staaten einführen wollten, um den zivilisatorischen Rückstand
gegenüber Westeuropa zu überwinden. Dies wurde erreicht, mehr noch: Böhmen wurde im 14. Jahrhundert zum
führenden Gebiet nördlich der Alpen. Im 12. Jahrhundert entstanden erstmals Neid und Hass gegenüber den Einwanderern,
z.B. in Polen in den Reihen der einheimischen Geistlichkeit und des Rittertums. Der Konkurrenzkampf zwischen den alten Adelsgeschlechtern
und den neuen Fürstengünstlingen, aber auch die Konkurrenz der Fremden am Hof bei der Vergabe von Ämtern, wird als
Beleg für die "deutsch-polnische Feindschaft" (ab dem 13. Jahrhundert) angeführt. Dazu werden auch die aggressiven
Überfälle auf die Grenzburgen Großpolens und auf Danzig gezählt. Zwischen der überwältigenden
Mehrheit der bäuerlichen, aber auch der städtischen Bevölkerung gab es keine kriegerischen Auseinandersetzungen.
Die Ostsiedlung kann nicht mit der Besiedlung des "Wilden Westens" in Amerika verglichen werden, die zur Ausrottung bzw.
Verdrängung der Indianer führte. Die Privilegien, die z.B. die Siebenbürger Sachsen erhielten, basierten in der Regel nicht
auf einem Nullsummenspiel (Gewinne der einen bedeutet Verluste der anderen), sondern führten zu einem Mehrwert sowohl für
die neuen Siedler als auch für die ansässige Bevölkerung, wobei die Siedler vor allem neue, vorher der menschlichen
Zivilisation in Europa nicht zugängliche Räume, z.B. Gebirgsgegenden erschlossen. Weiterhin stieg durch
Städtegründungen und technologische Neuerungen die Bevölkerung sprunghaft an. Viele der gewährten Privilegien
werden heute zu den Menschenrechten oder Gruppenrechten gezählt, z. B. persönlich Freiheit und Freizügigkeit,
Religionsfreiheit, Selbstverwaltung. So waren die Privilegien der Siebenbürger Sachsen "nicht Vorrechte gegenüber
anderen, sondern die rechtlich abgesicherten Sonderbedingungen, die jede Gruppe im Staatswesen erlangt hatte und festhalten konnte"
(Philippi 1994: 70).
In seiner Ermahnungsschrift "De institutione morum" schrieb Stephan der Heilige (1000-1038) an seinen Sohn
Emerich: "So wie die Ansiedler aus verschiedenen Ländern und Provinzen kommen, ebenso bringen sie auch verschiedene
Sprachen und Sitten, verschieden lehrreiche Dinge und Waffen mit sich, welche den königlichen Hof zieren und verherrlichen,
die auswärtigen Mächte aber erschrecken. Ein Land, das nur einerlei Sprache und einerlei Sitten hat, ist schwach und gebrechlich.
Darum, mein Sohn, trage ich Dir auf, begegne ihnen und behandle sie anständig, damit sie bei Dir lieber weilen als anderswo ..."
(Corpus juris Hungarici 1000-1526, S. Stephani I. Cap. 6. Zitiert nach Paul 1968: 6).
Fast 800 Jahre lang prägte dieser Geist die staatlichen Institutionen und die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa.
Kriegerische Auseinandersetzungen hatten keine nationalen Hintergründe. Gekämpft wurde in erster Linie gegen
Nicht-Christen, insbesondere Heiden, Mongolen und Osmanen, aber auch um die politische Herrschaft sowie wegen sozialer
Konflikte. In Siebenbürgen gab es im Unterschied zum westlichen Europa auch keine Religionskriege, da seit Mitte des
16. Jahrhunderts alle christlichen Konfessionen anerkannt oder geduldet wurden (Gündisch 1998: 87,
Wagner 1998: 50ff.), und dies sicherlich nicht nur aus Toleranz, sondern vor allem wegen
der jahrhundertealten Bedrohung von außen (Mongolen und Osmanen).
Erst mit dem Nationalismus der letzten zwei Jahrhunderte wurden nationale Minderheiten als Fremdkörper in einem Staat empfunden
und nationale Homogenität angestrebt. Dies führte und führt zu Deklassierung, nationaler Missionierung und ethnischer
Säuberung.
Übersicht
9.2 Nation, Nationalismus und Nationalstaat: positive und negative Entwicklung
Nation (lateinisch: natio=Geburt, Geschlecht, Art, Stamm, Volk, von nasci=geboren werden) ist eine größere Gruppe
von Menschen, die ein Zugehörigkeitsgefühl entwickelt hat. Das Bewusstsein gemeinsamer Sprache, Abstammung, Religion,
Kultur und Geschichte, aber auch übereinstimmende Weltbilder, Sitten, Gebräuche, Rechts-, Staats- und
Gesellschaftsauffassungen bedingen die Eigenständigkeit einer nationalen Gemeinschaft. Im Altertum bedeutet natio die
durch Abstammung verbundene Bevölkerung einer Stadt. Im Mittelalter fasste man die Studenten an den Universitäten
und die Teilnehmer an Reformkonzilien in nationes zusammen, im Königreich Ungarn auch die Zugehörigen zu einem
sozialen Stand ("nationes" des Adels, der freien Szekler und Sachsen). Eine Verschmelzung der Begriffe Staat und Nation
zu Nationalstaat ist in Frankreich (Rousseau und Sieyés) seit der Französischen Revolution (1789) festzustellen. In Mittel-
und Osteuropa entwickelte sich zunächst ein ethnischer Nationsbegriff (Staatenlose Nation), der in der kulturellen Eigengestalt
eines Volkes wurzelt (Herder, Arndt, Fichte). Der Nationalismus ist eine Ideologie, die den Gedanken der Nation und des Nationalstaates
militant vertritt. Mit Nationalismus, insbesondere nationalem Chauvinismus, werden vor allem die negativen Auswüchse des nationalen
Zeitalters gekennzeichnet (wichtige historische Dokumente und Konzepte von Nation, Nationalstaat und Nationalismus wurden von
Alter 1985 und Jeismann/Ritter 1993 herausgegeben, einen Überblick über
dieses Zeitalter bieten Anderson 1988, Deutsch 1972, Geiss 1988,
Hobsbawm 1991 Lemberg 1950, Schieder 1992).
Nation und Nationalstaat, Lemberg spricht vom Nationalismus als Strukturprinzip (
Lemberg 1950), sind seit 1800 die Strukturprinzipien
von Staat und Gesellschaft, sowohl der bürgerlichen als auch, was meist übersehen wird, der ehemaligen sozialistischen bzw.
kommunistischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts. Die "Achse des ideologischen Gegensatzes" allein erlaubt nicht einmal
ein Verstehen des 20. Jahrhunderts, sie muss durch die "andere Deutungsachse" (Diner 1999: 12),
die auf Ethnos und Geographie beruht, ergänzt werden, wobei die Koppelung Ethnos und Geographie dem ideologischen
Gegensatz
zwischen Freiheit (Westen) und Gleichheit (Osten) nicht nur vorangehen, sondern den grundlegenderen Gegensatz darstellen, der, wie
viele teilweise mit Verwunderung wahrnehmen, nach Beendigung des Ost-West-Gegensatzes erneut aufgebrochen ist.
Die "Erfindung der Nation" (Anderson 1988) und die Entstehung von Nationalstaaten sowie die damit einhergehende
"soziale Mobilisierung" (Deutsch 1972) haben positive wie negative Entwicklungen bewirkt,
vorher nie gekannte Formen der Solidarität innerhalb der Nation, aber auch Brutalität und Hass Fremden gegenüber.
Zu den positiven Ergebnissen zählt die Überwindung der Agrargesellschaft und die Etablierung der industriellen Welt,
die u.a. folgende bedeutende Fortschritte ermöglichte: Entstehung von nationalen Kulturen und kultureller Vielfalt in Europa,
Etablierung der repräsentativen Demokratie, Schaffung von Wohlstand für die Mehrheit der Gesellschaft durch die
Gründung von Nationalökonomien sowie sozialen Sicherungssystemen (Renten-, Kranken-, Arbeitslosenversicherungen),
die nationale Solidarität geradezu voraussetzen.
Die Nationalbewegungen fordern seit dem 19. Jahrhundert die Errichtung von Nationalstaaten. Die Nationalität
wird neben Religion und Rasse ein anderes Mittel, um Unterschiede zwischen Menschen zu missbrauchen und Macht und Herrschaft zu
legitimieren. Die Schaffung von national homogenen Staaten in einem Vielvölkerraum konnte nur zu Unheil führen.
Vor allem die Verquickung von nationalen und territorialen Fragen führte zu einer negativen Entwicklung, was die
Brutalität der kriegerischen Auseinandersetzung betrifft.
Der nationale Chauvinismus ist eine historische Erscheinung, die vor allem in unserem Jahrhundert seine schrecklichsten
Auswüchse hervorbrachte. Der erste Balkankrieg 1912/1913 leitet das ein, was man später "demographische
Kriegführung" (Diner 1999: 33) nennt: ethnische Säuberungen in Form von Genozid und
Vertreibung. 1915 findet der Genozid an Armeniern statt, während des Nationalsozialismus der Genozid an Juden, am Ende
des Jahrhunderts steht der Genozid an den bosnischen Muslimen und den Albanern. Die als Bevölkerungsaustausch verniedlichte
ethnische Säuberung zwischen Türken und Griechen leitete eine Entwicklung ein, die während des
Zweiten Weltkrieges und danach ihren Höhepunkt erreichte.
"Das traditionelle Personalprinzip wird zunehmend von territorialen Ordnungsvorstellungen abgelöst"
(Diner 1999: 203). Dies hatte verheerende Folgen vor allem im Osmanischen Reich, aber auch im Habsburgerreich.
Betroffen ist die gesamte Mittel-, Ost- und Südosteuropäische Welt. Es ist vor allem den genannten multireligiösen
und multinationalen Reichen nicht gelungen, ein friedliches Miteinander auch unter neuen Bedingungen der Industrialisierung zu
gewährleisten. Dabei spielte die wirtschaftliche Rückständigkeit dieser Staaten im Vergleich zu Westeuropa eine
bedeutende Rolle (Deutsch 1972). Erst 1919 wurde Europa weitgehend nach nationalen Gesichtspunkten neu
geordnet. Die "soziale
Mobilisierung", die mit dem Entstehen der Nationen einherging, konnte nicht dafür eingesetzt werden, für alle einen
Mehrwert hervorzubringen und den Übergang von der Agrar- hin zur Industriegesellschaft friedlich zu gestalten. Vielmehr kam es zu
Nullsummenspielen und zur Entstehung von Territorialkonflikten. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hat nicht wie im Westen
zu einem zivilisatorischen Fortschritt geführt, sondern zu nationalen Konflikten, die bis heute andauern.
Es ist keinem historischen Gesetz zuzuschreiben, dass diese verhängnisvolle Entwicklung stattfand. Es gab auch Kräfte,
die sich für eine andere Entwicklung einsetzten. Für Siebenbürgen und das Habsburgerreich werden immer die
Austromarxisten sowie der Brünner Kongress der österreichischen Sozialdemokraten von 1899, aber auch die Interessen
des Hauses Habsburg sowie des Militärs und der Beamtenschaft am Erhalt der Monarchie angeführt. Erwähnt werden
soll aber auch die seinerzeit vielbeachtete Schrift eines Siebenbürgers, des Rumänen Aurel C. Popovici
(Popovici 1906), der für Groß-Österreich die (Wieder)Einführung des
Personalprinzips und die Föderalisierung forderte und dazu Vorschläge unterbreitete. Der
Ausgleich von 1867
zwischen Österreich und Ungarn bevorzugte die Deutschen Cisleithaniens (diesseits der Leitha vom Westen aus gesehen,
Österreich, Böhmen, Mähren, Bukowina/Buchenland) und die Magyaren, entwickelte sich aber immer schneller zu einem
Sprengsatz für die Monarchie. Vor allem nach dem Apponyischen Gesetz von 1907 gaben die Vertreter der anderen
Nationalitäten (Rumänen, Kroaten, Slowaken etc.) die Suche nach einem Ausgleich zwischen den Nationen auf und
glaubten, dass die nationale Selbstbestimmung nur innerhalb von einem eigenen Nationalstaat möglich sei. Dies führte
zur Territorialisierung der Nationalitätenkonflikte und trug entscheidend zum Zerfall der Monarchie bei.
Die faktische Ausbürgerung und Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Südosteuropa ist ein Ergebnis des
nationalen Chauvinismus des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts. Sie vollzog sich in mehreren Phasen. Im Folgenden wird
diese Entwicklung am Beispiel der Siebenbürger Sachsen gezeigt.
Die erste Phase zeichnet sich durch vielfältige national bedingte Benachteiligungen aus. Die josephinischen Reformen
Ende des 18. Jahrhunderts bilden hier den Ausgangspunkt. Die Ankündigung Deutsch statt Latein als Amtssprache
einzusetzen führte, insbesondere bei den Magyaren, zum Widerstand. Damit wurde völlig unbeabsichtigt
das nationale Zeitalter in der Habsburgermonarchie eingeläutet. Der erste nachjosephinische Landtag von 1791 schaffte
das Kuriativvotum und damit das ständische Vertretungsprinzip ab, danach wurde das Mehrheitsprinzip angewandt. Für
die Siebenbürger Sachsen bedeutete dies, dass sie statt ein Drittel nur noch 9 Prozent der Stimmen im siebenbürgischen Landtag
hatten. "Der Minderheitenkomplex nahm seinen Anfang" (Philippi 1994: 73). Bedeutende negative
Auswirkungen begannen erst mit der Auflösung der Nationsuniversität 1876, damit wurde die jahrhunderalte Autonomie
der Siebenbürger Sachsen zerschlagen. Die Nationsuniversität war mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattet und besaß
seit Jahrhunderten das Selbstbestimmungsrecht. Aber auch die verschärften Magyarisierungstendenzen, die vor allem die Schule als
Vehikel nutzten, bereiteten Schwierigkeiten. Von den über 2 Millionen Deutschen, darunter ca. 10 Prozent Siebenbürger
Sachsen, die in Transleithanien (jenseits der Leitha, im ungarischen Teil der Doppelmonarchie) lebten, konnten nur die Siebenbürger
Sachsen dank der Evangelischen Kirche einen flächendeckenden deutschsprachigen Unterricht gewährleisten.
In der zweiten Phase wurde eine Vielzahl bilateraler Verträge des Dritten Reiches mit ost- und südosteuropäischen
Staaten geschlossen, die die Umsiedlung ("Heim-ins-Reich-Aktion") von Deutschen aus den baltischen Staaten, der Sowjetunion,
Rumänien, Ungarn, Kroatien, Bulgarien und zum Teil aus dem italienischen Südtirol zur Folge hatten. Von diesen
Umsiedlungsaktionen waren die Siebenbürger Sachsen nicht betroffen. Aufgrund von Verträgen von 1943 zwischen
dem Dritten Reich auf der einen und Ungarn und Rumänien auf der anderen Seite wurden die wehrfähigen Deutschen
in die Wehrmacht, vor allem aber in die Waffen-SS eingezogen. Ende 1943 waren ca. 54.000 sogenannte
"Volksdeutsche"
aus Rumänien in der Waffen-SS, weitere 15.000 in der Wehrmacht, in der Organisation Todt und in Rüstungsbetrieben.
Diesen Männern sowie allen anderen "Volksdeutschen" wurde mit dem Führererlass vom 19. Mai 1943 die
deutsche Staatsbürgerschaft gewährt. Etwa 15 Prozent der Soldaten im Krieg oder in der Gefangenschaft starben, der
entrichtete "Blutzoll" war dabei überdurchschnittlich hoch (Beer 1998: 211).
Diese Verträge zeigen, wie weit die de-facto-Ausbürgerung der Deutschen in Ost- und Südosteuropa fortgeschritten
war. Dabei betrachtete sich das Deutsche Reich wie selbstverständlich zuständig für Millionen Deutsche, die eine andere
Staatsbürgerschaft hatten. Die Siebenbürger Sachsen haben sich zwar über Jahrhunderte als Deutsche betrachtet
(Gündisch in diesem Band), Siebenbürgen hat aber niemals zu Deutschland gehört und
die Siebenbürger Sachsen waren damals teils rumänische, teils ungarische Staatsbürger. Diese Vorgänge
haben ein friedliches und normales Zusammenleben der Deutschen mit anderen Völkern in Ost- und Südosteuropa bis heute
verhindert.
Die Mehrheit der Siebenbürger Sachsen begrüßte die Einberufung in deutsche Verbände enthusiastisch.
Insbesondere die seit 1940 agierende nationalsozialistische Führung unter Andreas Schmidt setzte sich aktiv dafür ein.
"In der gegebenen machtpolitischen Konstellation sind die Deutschen Rumäniens zwar nicht schuldlos, in Wirklichkeit
aber machtlos einer Entwicklung ausgesetzt gewesen, aus der es kein Entrinnen gab"
(Kroner 1995: 160, vgl. Roth, Harald 1994, Oschlies 1988).
Viele in die rumänische Armee Einberufene desertierten und liefen zu deutschen Verbänden über. Einige machten dabei
die Erfahrung, die später alle Aussiedler ereilte, nämlich dass sie in der
rumänischen Armee als Deutsche und in der
deutschen Armee als Rumänen angesehen wurden. Die Einbeziehung in die nationalsozialistische
Volkstumspolitik bedingte die
weit über die Benachteiligungen zwischen den beiden Weltkriegen hinausgehenden
Verfolgungen sowie Deklassierung der Deutschen
nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Ende sächsischer Geschichte wurde in der NS-Zeit eingeläutet und von den Kommunisten
erst vollstreckt (Gündisch 1995).
Die dritte Phase erstand aus dem Zweiten Weltkrieg und bewirkte Flucht, Deportation, Enteignung, Vertreibung und
Zwangsumsiedlung.
Die Evakuierung seitens der deutschen Organe war nur mangelhaft vorbereitet. Diese Vorgänge forderten 2.280.000 deutsche
Opfer in den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie. Darüber hinaus wurden ca. zwölf Millionen Deutsche
aus den Ostgebieten, den ost-, mittel- und südosteuropäischen Ländern nach dem Krieg vertrieben
(Schlau 1996: 73). Insgesamt verringerte sich die deutsche Bevölkerung in diesen Gebieten von
18 Millionen (1938) auf vier Millionen (1960). Alle geschlossenen deutschen Siedlungsgebiete, mit Ausnahme von Siebenbürgen
und dem Banat (beide Rumänien), wurden auf diese Weise vernichtet; die Deutschen lebten weitgehend enteignet, entrechtet und
isoliert in der Zerstreuung (BMV 1957, de Zayas 1993).
Die Siebenbürger Sachsen in den größten Siedlungsgebieten Altland und
Burzenland waren von Flucht und
Vertreibung nicht betroffen, da Rumänien keine Vertreibung vorgenommen hatte. Aus Nord-Siebenbürgen
(Nösnerland),
das 1940-1944 zu Ungarn gehörte, flüchteten die Siebenbürger Sachsen vor allem auf Initiative des
siebenbürgisch-sächsischen Generals Phleps in mehreren Trecks Richtung Westen (Beer 1998: 213).
Die deutschen Siedlergruppen in Ostmitteleuropa wurden stellvertretend für die von Hitlerdeutschland verursachten
Kriegsschäden und Verbrechen bestraft (und in eine Art nationale "Sippenhaft" genommen), obwohl sie weil
außerhalb des Deutschen Reiches lebend gar nicht an der Etablierung des NS-Regimes beteiligt sein konnten und auch nicht
Repräsentanten des Aggressors waren (Gündisch 1995). Ca. 360.000 deutsche Zivilisten aus
Ost-Mitteleuropa wurden zum Arbeitseinsatz in die UdSSR deportiert, davon etwa 80.000 Rumäniendeutsche. 1944 befanden
sich auf dem Gebiet des Deutschen Reiches über 7,5 Millionen ausländische Zwangsarbeiter (Weber
u.a. 1995: 9, Band 1). Am 6. Januar 1945 wurden 30.336 Siebenbürger Sachsen (15 % der Bevölkerung) in die Sowjetunion
deportiert, alle Männer zwischen 17 und 45, die nicht schon in Kriegsgefangenschaft waren, sowie die Frauen zwischen 18 und 35
Jahren. Die letzten kehrten 1949 aus der Deportation zurück, 3076 Personen (12 %) starben in der Sowjetunion
(Weber u.a. 1995: 322 ff, Band 1).
Im selben Jahr wurden die zurückgebliebenen Frauen, alte Menschen und Kinder enteignet, allen Deutschen mit Ausnahme derer,
die in der rumänischen Armee dienten oder gedient hatten, die Bürgerrechte aberkannt. Die Enteignungen brachten den
Betroffenen viel Leid und Elend. Oft verloren die Menschen nicht nur das Haus und den Grundbesitz, sondern auch die letzten
verbliebenen Lebensmittel wurden vor allem von rumänischen Landsleuten weggenommen. Dies hat die Beziehungen zu der
Mehrheit der Rumänen auf das Nachhaltigste gestört, zumal es von Seiten der Siebenbürger Sachsen nie zu solchen
Übergriffen gekommen war. Erst 1956 wurden die Häuser, aber nicht der Grundbesitz restituiert. "Innerhalb von nur
10 Jahren war aus einem Volk, in dem die selbstständigen Bauern, Handwerker, Kaufleute und Intelektuellen etwa 85 Prozent
ausmachten, eine Gruppe von Unselbstständigen geworden" (Wagner 1998: 96).
Die Siebenbürger Sachsen
wurden quasi vertrieben und im Vertreibungsgebiet zurückgehalten (Hartl 1994: 93).
Die vierte Phase beginnt 1950 und dauert bis heute an. Sie ist durch vielfältige Benachteiligungen der Übriggebliebenen
gekennzeichnet und führt zur Aussiedlung aus den ost- und südosteuropäischen Ländern. Das Jahr 1949 gilt als
das Ende der eigentlichen kriegsbedingten Flucht- und Vertreibungsvorgänge. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befanden
sich in Deutschland vor allem ehemalige Soldaten sowie die aus Nord-Siebenbürgen geflüchteten, wobei die Mehrheit der
Letzteren in Österreich landete. Aus Rumänien reisen in den fünfziger Jahren ca. 350 Personen jährlich aus,
diese Zahl erhöht sich in den sechziger Jahren und steigt nochmals nach dem Abkommen zwischen Helmut Schmidt und
Nicolae Ceausescu von 1978. 1990 reisen 111.150, 1991 32.178, 1992 16.146, danach ca. 6000 jährlich, darunter
befinden sich ca. 50 Prozent Siebenbürger Sachsen (Wagner 1998: 104).
Ab 1948 beginnt eine schrittweise Rehabilitierung der deutschen Minderheit; in diesem Zusammenhang ging Ceausescu 1971
kurzfristig so weit, die Deportation als einen Fehler zu bezeichnen. Die gemachten Zugeständnisse während der
fünfziger und sechziger Jahre werden ab 1974 schrittweise wieder zurückgenommen und eine immer nationalistischere
Politik Rumäniens beginnt (Beer 1998).
Trotz des Untergangs des Kommunismus im Osten (1989) blieb der Vertreibungsdruck bestehen. Zwar hat er durch die Reformen
in einigen Bereichen abgenommen, doch die Hauptursache der Auswanderung wurde eher noch verstärkt. Der Nationalismus,
der im Kommunismus trotz gegenteiliger Beteuerungen gefördert wurde, trat mit einer nicht vorhergesehenen Intensität
wieder hervor, vor allem im ehemaligen Jugoslawien und der ehemaligen Sowjetunion. Dies gilt in abgeschwächter Form auch
für Rumänien (zu den nationalen Auseinandersetzungen und Minderheitenproblemen der neunziger Jahre vgl.
Brunner/Tontsch 1995, Heuberger u.a 1994, Gabany 1998,
Kendi 1992, Kolar 1997, Nassehi 1997).
Übersicht
9.3 Integration in die Bundesrepublik Deutschland
Die Vertriebenen und
Flüchtlinge sowie später die Aussiedler haben selber nicht nur zum Aufbau der Bundesrepublik
Deutschland beigetragen (Lemberg/Edding 1959, Schlau 1996), sondern sie konnten
durch ihr politisches Engagement auch zur Entstehung einer Friedensordnung in Europa und zur Versöhnung mit den Nachbarn
Deutschlands beitragen. Einer neuen Ordnung, so der aus dem Sudetenland stammende Historiker Eugen Lemberg, müsse sowohl
eine sittliche Idee als auch eine staatliche Ordnung zugrunde liegen, die nicht auf dem Nationalprinzip aufbaut. "Cuius regio eius
lingua (Wer die Herrschaft besitzt, bestimmt die Sprache, JL) heißt der Grundsatz heute. Er enthält die gleiche Barbarei wie
jener (Cuius regio, eius religio. Wer die Herrschaft besitzt, bestimmt die Religion, JL) von 1555"
(Lemberg 1949: 28).
Mit der Charta der deutschen Heimatvertriebenen wird eine sittliche Idee zum politischen Manifest. In dieser
Charta, die beiliegend veröffentlicht wird, verzichten die Vertriebenen auf Rache und Vergeltung, unterstützen alle
Kräfte, die sich für "die Schaffung eines geeinten Europas" einsetzen, und wollen "durch harte,
unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas". Dies muss deshalb besonders
hervorgehoben werden, weil die Vertriebenen zur Gruppe der Deutschen gehören, die während und nach dem
Zweiten Weltkrieg am meisten verloren und durch die Vertreibung die meisten Leiden erfuhren (vgl. oben).
Die Charta wurde am 5. August 1950 anlässlich einer Kundgebung in Stuttgart verkündet. Sie trägt die
Unterschriften der Sprecher der Landsmannschaften sowie die der Vorsitzenden des Zentralverbandes der vertriebenen
Deutschen. Auch die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen bekennt sich nach wie vor zu diesen
Grundsätzen (Bruckner 1994). Mit der Europäischen Union ist in Europa ein
supranationaler Staat
entstanden, der zwar nicht auf das Nationalprinzip verzichtet, aber die negativen Entwicklungen des Nationalismus neutralisiert hat.
1935 lebten von den ca. 93,5 Millionen Deutschen weltweit ca. 16,5 Millionen, fast 18 %, "außerhalb des g
eschlossenen deutschen Sprach- und Siedlungsraum (Deutsches Reich, Österreich, Schweiz)"
(Gündisch 1995: 9). Aufgrund von Flucht, Vertreibung und Umsiedlungen waren auf dem Gebiet der späteren
Bundesrepublik Millionen Vertriebene (vgl. oben). Darunter befanden sich Menschen aus anderen Teilen Deutschlands, die
schon immer deutsche Staatsangehörige waren (z.B. Schlesier), aber auch Deutsche, die es nicht waren (Sudetendeutsche,
Siebenbürger Sachsen etc.). Die erste Sorge war, diese Menschen mit Wohnraum auszustatten und zu verpflegen. Langfristig
ging es aber darum, diese Menschen in den neu entstandenen Staat, die Bundesrepublik Deutschland, zu integrieren.
Grundgesetz (1949), Lastenausgleich (1949), Bundesvertriebenengesetz (1953) und Fremdrentenrecht (1957) waren
die wichtigsten staatlichen Integrationshilfen.
Mit Artikel 116 Grundgesetz erhalten alle Deutsche aus den Vertreibungsgebieten die Möglichkeit,
deutsche
Staatsbürger zu werden. Aufgrund dieses Artikels spricht man vom "deutschen Blutsrecht" und dabei werden
zwei wesentliche Aspekte dieses Artikels und des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts übersehen. Erstens
können nicht alle Deutschen und deren Nachkommen weltweit aufgrund der gesetzlichen Regelungen quasi automatisch
deutsche Staatsbürger werden, sondern nur die Deutschen aus den Vertreibungsgebieten, und zwar aus allen Ländern
des ehemaligen Ostblocks sowie Albanien, China und Jugoslawien
(Bundesvertriebenengesetz § 1, (Berresheim 1996, von Mangoldt 1987).
Obwohl angeblich
die deutsche Staatsangehörigkeit "in den Genen" vererbt wird, können keine
US-Amerikaner (ca. 50 Millionen) deutscher Abstammung für sich die deutsche Staatsangehörigkeit
in Anspruch nehmen, sondern sie müssen wie alle anderen Ausländer ein mühevolles Verfahren
in Kauf nehmen. Dies gilt auch für die Nachkommen aller anderen Deutschen, die nach Amerika, Afrika, Australien
oder Westeuropa ausgewandert sind. Das Grundgesetz kennt zweitens auch kein ethnisches Homogenitätsgebot.
Deutscher ist, wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, weder Nationalität, Rasse noch Religion spielen
eine Rolle. Jährlich werden Zehntausende ausländischer Bürger (1996 über 90.000, Tendenz
steigend, Aussiedler nicht eingeschlossen) aus aller Herren Länder, unabhängig von ihrer Nationalität,
Religion oder Rasse eingebürgert. Seit Anfang der 90er Jahre hat jeder sogar einen Rechtsanspruch auf die
deutsche Staatsangehörigkeit, sofern er einige Bedingungen erfüllt (z.B. 15 Jahre Aufenthalt, seit 1999
sind nur noch acht Jahre notwendig). Auch das Bundesvertriebenengesetz, das in § 6 bestimmt, wer die deutsche
Volkszugehörigkeit besitzt, kennt keinen ethnisch verstandenen Volkszugehörigkeitsbegriff. "Die
deutsche Volkszugehörigkeit in diesem Sinne ist kein ethnologischer Begriff; sie ist ein Rechtsbegriff"
(Berresheim 1996: 135). Lateinische Vokabeln ius soli
und ius sanguinis (Boden- und Blutsrecht)
werden seit Jahren
sowohl von Politikern als auch den Medien zur Vernebelung von Fakten eingesetzt. In allen Ländern spielen
Abstammung und Wohnsitz eine Rolle. Im Rahmen der Reformbemühungen im Staatsangehörigkeitsrecht,
wo zu Recht eine schnellere und bessere Integration von hier lebenden Ausländern angestrebt wird, gerieten die
deutschen Aussiedler zunehmend zwischen alle Stühle.
In der bundesdeutschen Öffentlichkeit, nicht aber in den Staaten in Ost- und Südosteuropas, hat sich nun
seit fast einem Jahrzehnt die Bezeichnung "Deutschstämmige" für die Deutschen aus Ost- und
Südosteuropa durchgesetzt. Viele Menschen anderer Nationalität (Türken, Griechen, Italiener etc.),
die in Deutschland geboren sind und Deutsch besser beherrschen als ihre Muttersprache, werden sowohl in Deutschland
als auch in den Herkunftsländern als Türken, Griechen, Italiener etc. betrachtet und behandelt. Weder spricht
in diesem Zusammenhang jemand von Türkischstämmigen etc., noch gibt es in diesen Ländern eine
Deklassierung dieser Bevölkerungsgruppe. Solche Unterscheidungen gab und gibt es nur in Deutschland. Nicht nur
die Sprache allein gibt Auskunft über die nationale Identität, sie ist, wie schon Renan vor über hundert
Jahren wusste, nur eines von mehreren Kriterien. Für ihn sind nicht Rasse, Sprache, Religion oder Geographie
entscheidend, sondern das tägliche Bekenntnis des Einzelnen. "Das Dasein einer Nation ist - erlauben Sie mir
dieses Bild - ein tägliches Plebiszit, wie das Dasein des einzelnen eine andauernde Behauptung des Lebens ist"
(Renan 1882, der Beitrag von Renan ist veröffentlicht in Jeismann/Ritter 1993: 309).
Die Aussiedler haben ihre deutsche Nationalität nicht nur deshalb entdeckt, um an die
Töpfe im Westen
zu gelangen, wie viele in der Bundesrepublik unterstellen. Sie haben sich zu ihrer Nationalität und Identität
auch in Zeiten bekannt, als es weder politisch noch wirtschaftlich opportun, ja mit Deklassierung, Enteignung und Vertreibung
verbunden war. Ganz frei in seiner Entscheidung ist der Einzelne nicht. Erstens kann er sich von seiner nationalen Zugehörigkeit
und den Wurzeln seiner Eltern (Kultur, Nationalität etc.) nicht so ohne weiteres und wenn, dann nur im Erwachsenenalter
lösen. Zweitens spielen Menschen anderer Nationalität auch eine wichtige Rolle bei der eigenen Identitätsfindung.
Es kommt auch, oft entscheidend, darauf an, welche Zugehörigkeit diese Menschen einem zusprechen. So werden die
Deutschen in Osteuropa, obwohl sie z.B. besser russisch als deutsch sprechen, als Deutsche angesehen und ebenso behandelt.
In deren Ausweis steht Staatsangehörigkeit z.B. russisch oder rumänisch, Nationalität deutsch.
Mit der Differenzierung zwischen Deutschen auf der einen und "Deutschstämmigen" auf der anderen Seite
ist die Gefahr gegeben, wieder an eine Entwicklung in Deutschland anzuknüpfen, die das Grundgesetz ausdrücklich
verbietet. Alle Repräsentanten des Deutschen Reiches sowie die Öffentlichkeit haben immer von den deutschen
Brüdern und Schwestern im Osten gesprochen, gemeint waren die Mitglieder der deutschen Minderheiten in Mittel-,
Ost- und Südosteuropa. Nachdem diese Menschen aufgrund der Kriegserreignisse unter deutsche Verwaltung gelangten,
hatte man die Brüder aber nicht gleich behandelt, sondern durch die deutsche Volksliste, die vier Abteilungen kannte,
Unterscheidungen ganz im Sinne der nationalsozialistischen Reinheitslehre vorgenommen (BpB 1985: 37). Während
des Dritten Reiches gab es vor allem im besetzten Polen vier verschiedene Gruppen von Deutschen, die zwar gleiche Pflichten,
aber ungleiche Rechte besaßen. Die Mitglieder der ersten beiden Gruppen bekamen die deutsche Staatsangehörigkeit
zuerkannt, die der dritten Gruppe erhielten diese auf Widerruf und die der vierten Gruppe wurden nur Anwärter auf die deutsche
Staatsangehörigkeit. Aus den ehemaligen deutschen Minderheiten wurden über Nacht
"Autochthone",
"schwebendes Volkstum", deren Reinrassigkeit Probleme bereitete.
In Rumänien waren die Siebenbürger Sachsen rumänische Staatsbürger deutscher
Nationalität, in Deutschland sind sie nun deutsche Staatsbürger "deutschstämmiger"
Nationalität. Deklassierung, Enteignung und Plünderung haben alle über Jahrzehnte erfahren.
Niemand hat in Rumänien deren deutsche Identität in Frage gestellt. Genau dies wird in der Bundesrepublik seit Jahren
von einigen Politikern verschiedener Parteien getan. "Autochthone", "Deutschstämmige",
"schwebendes Volkstum", "Volksdeutsche", alles Bezeichnungen und Begriffe, die in der
Öffentlichkeit trotz und oft gerade, weil man angibt sie wertneutral zu benutzen, pejorativ verwendet werden und
bei den Betroffenen als Ausgrenzung und Deklassierung ankommen. Die Betroffenen fragen sich, warum man nicht einfach
den Begriff "Deutsche aus ..." verwendet, so wie dies in allen Ländern eigentlich üblich ist. Das
eigene tägliche Bekenntnis, so wie Renan formuliert, ist zwar ein subjektives Kriterium, aber das einzige, das mit
dem moralischen Anspruch, etwa der Grundrechte des Grundgesetzes, vereinbar ist. Die Suche nach objektiven Kriterien,
anhand deren man die nationale Zugehörigkeit feststellen kann, führte schon in der Vergangenheit nur zu Barbarei.
Am schlimmsten waren davon während des Dritten Reiches Menschen betroffen, die sich zur deutschen Sprache und Kultur
bekannten, deutsche Staatsbürger waren, deren Vorfahren vom Judentum zum Christentum konvertierten und trotzdem unter
Zuhilfenahme von angeblich objektiven Kriterien zu Deutschen zweiter Klasse wurden und schlimmstenfalls im Konzentrationslager
endeten. Diesen, gegen die eigene Nation gerichteten nationalen Chauvinismus, gab es nur in Deutschland.
Diese aus der Reinheit der Rasse geborenen Unterscheidungen sollten nach dem Willen der Väter des
Grundgesetzes
endgültig der Vergangenheit angehören. Die Bundesrepublik hat in verschiedenen völkerrechtlichen
Verträgen über Jahrzehnte hinweg darauf bestanden, dass diese Menschen deutscher Nationalität sind.
Auch alle Repräsentanten der Bundesrepublik haben den deutschen Minderheiten in der Bundesrepublik über
Jahrzehnte eine Heimat angeboten, wo diese als Gleiche unter Gleichen leben konnten. In der Berliner Republik werden
nun aus gleichberechtigten Staatsbürgern "Deutschstämmige" mit zum Teil geringen Rechten
(vgl. unten Fremdrente).
Der nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Lastenausgleich hatte eine "doppelte Aufgabenstellung"
(Schaefer 1996: 85): Eingliederung und Entschädigung. Er sollte die wirtschaftliche und soziale Lebensgrundlage
aller Betroffenen, vor allem aber der Vertriebenen und Flüchtlinge, sichern und ihre Integration erleichtern. Damit
sollte auch eine Verteilung der Kriegslasten ermöglicht werden und die Betroffenen für die kriegsbedingten
Vermögensverluste entschädigt werden. Der Lastenausgleich bildet den Hauptteil der finanziellen Aufwendungen.
Hinzu kommen weitere Eingliederungsprogramme für Aussiedler und Umsiedler. Die Bedeutung des Lastenausgleichs
für die Eingliederung nahm ständig ab, weil die Fördersätze "auf die Vorhabekosten der 50er Jahre
zugeschnitten" (Schaefer 1996: 97) waren.
Die überwiegende Mehrheit der Siebenbürger Sachsen wanderte zwischen 1978 und 1993 ein. Für
die wirtschaftliche Integration waren der Lastenausgleich und andere Starthilfen (Begrüßungsgeld etc.) nur
zweitrangig. Die Integration wurde insbesondere dadurch so schnell möglich, weil Aussiedler ab Einreise in die
Bundesrepublik alle Rechte wie die übrigen Bürger erhielten. Jeder, der als Flüchtling oder Vertriebener
anerkannt wurde, erhielt die deutsche Staatsbürgerschaft und hatte damit Zugang zu den deutschen Sozialversicherungen.
Da die Siebenbürger Sachsen die deutsche Sprache beherrschten (Rumänien war das einzige Ostblockland, wo es
noch leistungsfähige deutsche Schulen gab) und aufgrund der Enteignungen nach dem Zweiten Weltkrieg in der Industrie
ausgebildet und gearbeitet hatten, fanden sie sehr schnell einen Arbeitsplatz und dann auch Wohnraum. Die berufliche Eingliederung
bildete das Fundament der gesellschaftlichen Eingliederung (Schaefer 1996: 113). Zur schnellen wirtschaftlichen Integration trug
auch noch die Tatsache bei, dass sie in wirtschaftlich starke Regionen der Bundesrepublik zogen, in den 50er und 60er Jahren
verstärkt in das Ruhrgebiet, später in die Räume München, Stuttgart, Mannheim, Heilbronn, Frankfurt,
Nürnberg. Über 70 Prozent dürften seit 1978 nach Baden-Württemberg, Bayern und Hessen eingewandert sein.
Mit dem Fremdrentengesetz werden auch die Zeiten anerkannt, die die Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler in
ihren Heimatländern erbracht haben. Dies ist besonders wichtig, damit diese Menschen im Alter vor Armut geschützt
werden. Mit der Aussiedlung verloren viele Menschen zum zweiten Mal innerhalb ihres Leben ihr gesamtes Vermögen. Die
in den Aussiedlungsgebieten erarbeiteten Rentenanwartschaften sind das einzige Vermögen, das sie in die Bundesrepublik
mitnehmen können. Daher schmerzt es besonders, wenn die Aussiedler seit 1992 mit Zusatzreduzierungen ihrer Renten
leben müssen.
Das Rentenreformgesetz von 1992 verlässt durch die 30-Prozent-Zusatzreduzierung für Aussiedler und die
Nichteingliederung des Fremdrentenrechts in das Sozialgesetzbuch (SGB), die in der Bonner Republik geltende Gleichbehandlung
der Deutschen aus den Vertreibungsgebieten mit den Bundesdeutschen und deklassiert sie, da sie nicht nur wie alle anderen
Bundesbürger von Rentenkürzungen (Rentenreformgesetze von 1992, 1996 und 1997) betroffen sind, sondern auch
als einzige Gruppe seit 1992 eine Zusatzreduzierung von 30% und seit 1996 von 40% in Kauf nehmen müssen.
Die Aussiedler sind in der Rentenversicherung nicht auf Solidarität oder christliche Nächstenliebe angewiesen,
sondern sie leisten selber einen Solidaritätsbeitrag. "Hätten wir keine Aussiedler in Deutschland, fiele der
Beitragssatz zur Rentenversicherung um 0,3 Prozentpunkte höher aus", so MdB Walter Hirche (FDP). Der
CDU-Sozialexperte Volker Kauder MdB warnte im Mannheimer Morgen vom 15.4.1997 diejenigen, die sogar für
eine Hehrausnahme der Aussiedler aus der Rentenversicherung plädieren: "Wenn diese Leute eine eigene Kasse
aufmachen würden, läge der Beitrag bei nur zwölf Prozent". Der derzeitige Beitragssatz ist fast 20
Prozent. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln behauptet in einem wissenschaftlichen Gutachten, dass die
Aussiedler-Integration "eine gravierende, weit ins nächste Jahrhundert reichende Entlastung der Kranken- und
insbesondere der Rentenversicherung" (IW 1989: 6) bewirke.
Nicht nur die Aussiedler (diese ganz besonders aufgrund der vielen kinderreichen Familien) werden bei den sozialen
Sicherungssystemen benachteiligt, sondern alle Familien in der Bundesrepublik, die mehr als ein Kind haben, und dies weil
etwa die Altersvorsorge nahezu vollständig sozialisiert, die Kindererziehungslast dagegen weiterhin überwiegend
privat bleibt. "Der Unterhalt der alten Generation ist zu fast 100% kollektiviert, derjenige der nachwachsenden Generation
dagegen nur zu ca. 25%" (Kaufmann 1997: 78). Aber auch bei der Krankenversicherung und erst recht bei der
Pflegeversicherung fließen Gelder von Mehrkinderfamilien zu kinderlosen und kinderarmen Familien. "Die Fachwelt
spricht hier auch von ,inverser Solidarität‘: Die Schwachen tragen die Starken" (Borchert 1993: 21).
Allein "der monetäre Aufwand einer Zwei-Kinder-Familie für die Erziehung ihrer Kinder (bis 18 Jahre)
(wird) auf gut 300.000 DM geschätzt." "Die unentgeltlichen Investitionen der Familie sind also nahezu
doppelt so hoch wie die gesamten Wirtschaftsinvestitionen" (Kaufmann 1997: 105 ff). Diese Ergebnisse waren
Anfang der 90er Jahre auch für die Fachwelt verblüffend. Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem
"Familienurteil" vom 7.7.1992 (BVerfGE 87, 1 ff.) dazu fest, dass die Benachteiligung der Familie im sozialen
Sicherungssystem nicht länger hinnehmbar sei. Sie ist mit dem Gleichbehandlungsgebot (Art. 3, I) des Grundgesetzes
und dem staatlichen Schutzauftrag gegenüber der Familie (Art. 6, I) unvereinbar.
Die Aussiedler leisten erstens einen Solidarbeitrag. Zweitens gehören sie zu den wirtschaftlich benachteiligten
Gruppen dieser Gesellschaft. Der Sinn öffentlicher Sozialversicherungssysteme liegt gerade darin, dass auch
Bedarfsgesichtspunkte eine Rolle spielen. Das Prinzip der Beitragsäquivalenz gilt nur bei privaten Versicherungen.
Aussiedler müssten daher Empfänger von Solidarität sein. Das Gegenteil ist der Fall: Es findet eine
"inverse Solidarität" statt. Trotz besserem Wissens müssen Aussiedler als Sündenböcke
für die systembedingten Fehlentwicklungen in der Rentenversicherung herhalten. Auch wenn die Aussiedler
überhaupt keine Fremdrente mehr erhalten sollten, wären damit die Schwierigkeiten der Rentenversicherung
nicht überwunden. "Die Diskussion um ,versicherungsfremde Leistungen‘ ist somit nur ein scheinrationaler
Nebenkriegsschauplatz" (Kaufmann 1997: 17, weitere Details im Onlineforum
Fremdrente: http://www.siebenbuergersachsen.de/sachsen/fremdrente/
Obwohl unter den Experten diesbezüglich Einigkeit besteht, wird die Fremdrente als ungerechtfertigte Leistung
hingestellt. Auch die Tatsache, dass die einen für ihre Rentenanwartschaften Beiträge in die deutsche
Rentenversicherung gezahlt haben und die anderen nicht, ist aufgrund des Charakters der Rentenversicherung
(Generationenvertrag, Umlageverfahren) ein unbedeutender Unterschied. Die Forderung, die Fremdrente aus
Steuer- statt aus Beitragsgeldern zu finanzieren, ist gerechtfertigt. Schließlich werden auch die Renten der
Bergleute zu über 60 % aus Steuergeldern finanziert, Tendenz steigend. Hingegen können die
Zusatzreduzierungen für Aussiedler weder mit wirtschaftlichen noch mit politischen oder moralischen
Gründen legitimiert werden.
"Die dritte Gewalt gibt dem einzelnen gegenüber Verwaltung, Regierung und Gesetzgebung beim
Kampf um das Recht Waffengleichheit und befähigt ihn, seine verfassungsrechtlich verbürgten
Individualrechte gegenüber jeder anderen Staatsautorität, selbst gegenüber dem einhelligen
Willen aller Staatsbürger durchzusetzen" (Kirchhof 1997: 11). Kirchhof, Richter am Bundesverfassungsgericht
und Professor in Heidelberg, bringt nicht nur seine Auffassungen zum Ausdruck, sondern die in der Bundesrepublik seit
Jahrzehnten herrschende Meinung. Als Minderheit sind Aussiedler in diesem Fall nicht auf die Solidarität, hingegen
sehr wohl auf den Gerechtigkeitssinn ihrer Mitbürger angewiesen. Die Zusatzreduzierungen bilden eine gesetzlich
verordnete Deklassierung und Enteignung einer wehrlosen Minderheit. Im Umgang mit Minderheiten zeigt sich, welche
Bedeutung man seinen eigenen moralischen Ansprüchen beimisst. Die Landsmannschaft der Siebenbürger
Sachsen hat eine Initiative Fremdrente gegründet, die gerichtlich gegen diese Zusatzreduzierungen vorgeht, da sie
der Auffassung ist, dass diese Zusatzreduzierungen gegen das Grundgesetz verstoßen
(Dominok 1997, Podlech/Azzola/Diners 1998). Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgericht steht noch aus.
Die Bundesrepublik Deutschland war für alle Deutschen aus den Vertreibungsgebieten eigentlich ein idealer
Fluchtort. Wenn man von den Zusatzreduzierungen bei der Fremdrente in den 90er Jahren einmal absieht, konnten die
Menschen die schwerwiegendsten Benachteiligungen der Heimatgebiete durch eine Umsiedlung überwinden.
Statt Deklassierung gab es Gleichberechtigung, statt Bevormundung Freiheit, statt wirtschaftlicher Not Wohlstand.
Hinzu kommt, dass die Furcht vor dem Verlust der eigenen Identität sich durch den Zuzug nach Deutschland erübrigte.
Es stellt sich in Europa nicht mehr die Frage, ob man Menschen mit verschiedenen Sprachen, Sitten,
Religionen etc. ansiedelt, d.h. multinationale und multikulturelle Gesellschaften schaffen sollte oder nicht. In Europa
gibt es kein Land, das in Bezug auf Sprache, Religion und Ideologie homogen ist und eine nationale oder kulturelle
Einheit bildet. Multinationale und multikulturelle Gesellschaften gibt es in Europa seit Jahrhunderten. Daher stellen
sich heute folgende Fragen:
Wie kann ein menschenwürdiges Zusammenleben zwischen verschiedenen Kulturen in einem Staat und in
ganz Europa gestaltet werden? Wie kann eine zukünftige nationale und kulturelle Vielfalt ohne nationalen Hass
entstehen? Welche individuellen, sozialen und kulturellen Menschen- und Gruppenrechte muss eine Verfassung in
einem multinationalen und -kulturellen Staat enthalten? Wie können diese Rechte in konkrete Politik umgestaltet
werden? Wie kann das nationalistische Zeitalter, das Deklassierung von Minderheiten und ethnische Säuberung
bewirkt, überwunden werden?
"Der empirische Fall der Religion hat einen eindeutigen Präzedenzfall dafür geschaffen, daß
aus einem stahlharten Gehäuse der Zugehörigkeit eine kontingente Selbstzurechnung werden konnte, auf die
der einzelne womöglich gut verzichten kann, auf die aber keineswegs verzichtet werden muß"
(Nassehi 1997: 202). Das religiöse Bekenntnis und die nationale Zugehörigkeit können nur
bedingt miteinander verglichen werden. Auf eine religiöse Zugehörigkeit kann man (als Atheist)
verzichten, auf die Nationalität nicht. Zudem ist der Wechsel der Nationalität aufgrund der
durchlaufenen Sozialisation wesentlich schwerer zu realisieren als ein Religionswechsel. Dies dürfte mit
ein Grund für die wesentlich intensiveren nationalen Auseinandersetzungen sein. "Eine endgültige
Trennung von Staat und nationaler Kultur" (Baubrück zitiert nach (Nassehi 1997a: 199)
ist dringend notwendig, so wie dies über Jahrhunderte schon einmal in Europa der Fall war.
Darüber hinaus ist die Nation nicht nur im kulturellen, sondern z.B. auch im sozialen Bereich eine
notwendige politische Gemeinschaft. Solidarität, wie sie zum Funktionieren der sozialen Sicherungssysteme
benötigt wird, ist nach wie vor nur auf der nationalen Ebene vorhanden. Dies zeigt sich besonders deutlich an
der supranationalen Europäischen Union. Auch bei einer künftigen, wesentlich besseren Sozialunion
ist es nicht einmal geplant, die sozialen Sicherungssysteme wie Renten-, Kranken oder Arbeitslosenversicherung
auf die europäische Ebene zu übertragen, weil hier die notwendige Solidarität fehlt, die auf
nationaler Ebene durch eine nationale Identität begründet ist.