14. Oktober 2018

Erfahrungen im Umgang mit der Sprache: Zu Hans Bergels Essay "Der Tod des Hirten oder Die frühen Lehrmeister"

Ein bedeutender Teil von Hans Bergels erzählerischem und essayistischem Werk ist in den vergangenen Jahren vom Berliner Frank & Timme-Verlag / Edition Noack & Block neu vorgelegt worden. 2018 erschien hier der Nachdruck eines Essays, der erstmals vor mehr als 30 Jahren veröffentlicht worden war, „Der Tod des Hirten oder Die frühen Lehrmeister.“ In einem Brief an Manfred Winkler (vom 28. Oktober 1995) verrät Bergel, er habe sich „aus Laune und Eingebung Notizen über (seine) Lehrmeister gemacht“.
Tatsächlich erscheint seine selbstgestellte Frage, „Wer weiß schon, was bildend und formend auf einen einwirkt im Leben?“ aus der Retrospektive immer noch aktuell. Der heute 93-Jährige arbeitet literarisch inspiriert am Abschluss seiner Roman-Trilogie des 20. Jahrhunderts: In den beiden ersten Teilbänden „Wenn die Adler kommen“ (1996/2015) und „Die Wiederkehr der Wölfe“ (2006/2015) sowie dem fast vollendeten dritten Band „Finale“ entfaltet er einen west-östlichen Erzählkosmos der Zeit vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Kalten Krieges auf dem Bildungsfundament eines poeta doctus.

Formal im Rahmen eines fiktiven Antwortbriefes an einen „jungen Freund“, beginnt der Rückblick des seinerzeit 60-jährigen Hans Bergel über seine „Erfahrungen im Umgang mit der Sprache“, so der Untertitel, mit der Beschwörung eines dichterischen Ideals: einer „klaren, lebendigen Prosa“ im Sinne Jacob Grimms. Bergel führt mit weitausholender Gestik die autobiografische Bestandsaufnahme seines „literarisch-künstlerischen und menschlichen Lebens“ auf prägende Begegnungen mit Büchern und Menschen zurück, denen er sich lebenslang dankbar verpflichtet fühlt. Oscar Walter Cisek, der bedeutende Bukarester deutsche Prosa-Autor der Zwischen- und Nachkriegszeit, spielte als erbarmungsloser Kritiker und kollegialer Förderer des jungen Autors eine zentrale Rolle.
„Wer weiß schon, was bildend und formend auf ...
„Wer weiß schon, was bildend und formend auf einen einwirkt im Leben?“ Hans Bergel in seinem Arbeitszimmer in Gröbenzell bei München, aufgenommen im September 2015. Foto: Konrad Klein
Elternhaus und Schule in Siebenbürgen vermittelten dem Heranwachsenden eine breite Basis musikalischer und klassisch-humanistischer Bildung. Diese befeuerte den Leseeifer des Jugendlichen, der zielsicher zu einer Anverwandlung großer deutscher Dichtung, insbesondere Kleists und Goethes, führte und später die französische und russische Romandichtung des 19. Jahrhunderts und südamerikanische des 20. Jahrhunderts einschloss. Aus der Besessenheit des Lesens entwickelte sich eine Besessenheit des Schreibens, die Bergel schon als junger Autor zum „Gesetz seines Lebens“ erhob. „Selbstfindung wie Selbstsicherung“, so Bergels Selbsteinschätzung, „waren mir nur auf dem Weg des Schreibens möglich. Mein Leben ist Schreiben – oder es ist nicht.“

Die west- und osteuropäischen Leser Bergels dürften seinem zwischen Antike, byzantinischer und abendländischer Kulturtradition weit ausgreifenden Kultur- und Erfahrungshorizont hohen Respekt zollen. Der Faszination, die aus der sprachlichen Vermittlung zweier Kulturen, der bildhaft-poetischen mit der narrativ-analytischen, erwächst, wird sich kaum jemand entziehen können, der sich auf die Romane und Erzählungen von Bergel, auf seine Gedichte, Briefe oder Essays einlässt.

„Der Tod des Hirten“ ist mehr als ein Essay. Der Text enthält Passagen, die zu den persönlichsten gehören, die Bergel je öffentlich ausgesprochen hat. Er gibt Einblick in eine existentielle Grenzsituation und die lebensrettende Kraft, die Poesie „als letzte mögliche Lebensposition“ für ihn und seine Schicksalsgenossen bedeutet hat – eine Dimension, die auch Hans Bergels im hohen Alter nicht nachlassende dichterische Kraft und die Authentizität seines Werkes erklärt.

Fünf Jahre seines Lebens, 1959-1964, verbrachte Bergel in Gefängnissen und Straflagern des kommunistischen Gheorghiu-Dej-Regimes in Rumänien. „Fünf Schriftsteller deutscher Sprache, jahrelang den vielfältig ausgeklügelten Mechanismen eines Haftterrors ausgesetzt, der aus Hunger, klaustrophobische Visionen erzeugender Engräumigkeit … überbelegter Zellen, unterirdischer Kasematten…, fensterloser Bunker, aus Gestank, Flüstergebot, blitzartig hereinbrechenden Kontrollen, dazu an unseren ausgemergelten, splitternackten Körpern vorgenommenen Leibesvisitationen …bestand – was hatten wir, unter Rumänen, Ungarn, Griechen, Serben, Zigeunern, Juden … all dem im Zeichen unseres Überlebenwollens entgegenzusetzen? Die Antwort: Literatur in der Zelle, Literatur aus der Zelle: Wir standen und hockten dicht beieinander, im Pestilenzgeruch des Latrinenschachts oder im Eiszug vor einem mit wenigen Brettern vernagelten Fenster, dann wieder schweißüberströmt, halb bewusstlos vor Schwäche und Atemnot, und flüsterten uns Texte deutscher Dichter zu: Rilke, Goethe, Trakl, Marie Luise Kaschnitz, George, Hölderlin, Mörike, ­Eichendorff, Carossa, Annette von Droste-Hülshoff, Dehmel, Luther, Walther von der Vogelweide, Ingeborg Bachmann, Nietzsche … Wie hätten wir ohne sie überlebt?“

Manfred Winkler, dem nach Israel emigrierten Freund, erklärt Bergel später: „Die einzige Möglichkeit seinerzeit in Gefängniszellen literarisch produktiv zu sein, war das Reimgedicht, weil freie Rhythmen oder Prosa während der Jahre nicht im Gedächtnis haften blieben.“

Für Bergel hat nur eine Dichtung Bestand, die sich in psychischer und physischer Extremsituation als glaubwürdig erwies. Er erinnert sich: „Wenn einer die Novalis-Sätze flüsterte: Hätten die Nüchternen einmal gekostet,/ alles verließen sie und setzten/ sich zu uns an den Tisch der Sehnsucht,/ der nie leer wird (…) oder aus Rilkes „Sonette an Orpheus“ die Strophe: Nicht sind die Leiden erkannt,/ nicht ist die Liebe gelernt,/ und was im Tod uns entfernt,/ ist nicht entschleiert./ Einzig das Lied überm Land/ heiligt und feiert. – dann hatten wir es nicht mit der Literatur der Philologen zu tun, dann spürten wir einen Grund unter den Füßen, auf dem einer stehen kann noch im Untergang, dann war uns ein Brot gereicht, dessen Körnigkeit uns … den Sinn im Widersinn erkennen ließ an jenem Punkt des Lebens, an dem einer alles aufgeben muss, will er das Leben gewinnen.“

Renate Windisch-Middendorf

Schlagwörter: Bergel, Rezension, Essay, Kommunismus, Widerstand

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