1. Juli 2015

Gedenkstunde in Berlin für die Opfer von Flucht und Vertreibung

Am Morgen des 20. Juni 2015. Heute, am Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen, wird der erste deutschlandweite Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung um 11 Uhr zentral mit einer Gedenkstunde im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin begangen. Fast zehn Monate ist es nun her, dass die Bundesregierung dieses Gedenken beschlossen und damit ein lange und immer wieder von den deutschen Heimatvertriebenen und ihren Verbänden vorgebrachtes Anliegen umgesetzt hat.
Der kurze Blick in die Wettervorhersage einer großen Berliner Stadtzeitung lässt nichts Gutes erahnen: Immer wieder soll es Niederschläge geben, gewittern gar. Doch Regen hat keine Chance, einen Gast zu belästigen in dem glasbedachten Hof des wunderbaren, unter anderem vom Danziger Architekten Andreas Schlüter und vom Insterburger Baumeister Martin Grünberg entworfenen, barocken Zeughauses. Es herrscht eine positive Grundstimmung: Freude, Befriedigung, Erleichterung, Befreiung, 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und etwa 70 Jahre nach dem Beginn von Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihren Heimatgebieten endlich auch gesamtgesellschaftlich des Leides der Betroffenen gedenken zu können.

Wie so oft in diesem wechselhaften Jahr irrt der Wetterbericht – strahlende Sonne, blauer Himmel und einige schnell durchziehende Wolkenfelder erzeugen eine freundliche und warme Atmosphäre im festlich geschmückten Hof. Das Bundesministerium des Innern hat die Veranstaltung organisiert. Für die durchweg geladenen Gäste sind etwa 400 Stühle aufgestellt worden. Freier Einlass ist aus den üblichen Sicherheitserwägungen nicht möglich, da als Hauptredner immerhin der Bundespräsident angekündigt ist. Nicht durch Masse, sondern durch den Inhalt, durch die persönliche Begegnung im Nachhinein und durch die Medienpräsenz soll die Gedenkstunde also nach außen wirken.

Viele der eingeladenen Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung haben den für sie oft beschwerlichen Weg ins Zeughaus auf sich genommen. Auch heutige Vertriebene und Flüchtlinge, die aus verschiedenen Teilen der Welt nach Deutschland gekommen sind, haben sich eingefunden, denn an diesem Tag soll eine Brücke gespannt werden von damaligem zu heutigem Leid.

Aus den Gesprächen am Rande wird eine Anspannung deutlich, in der auch jede vorab mancherorts vernommene Kritik eine Zeitlang zu verstummen scheint und in den Schatten tritt. Es wird als positiv empfunden, dass der Bundespräsident heute persönlich sprechen wird und daher dem Thema wohl große Bedeutung beimesse. Es sei ein wichtiges Zeichen an die betroffenen Deutschen, dass auch einer Zeitzeugin Raum gegeben werde, über ihre Vertreibung und ihre Erfahrungen zu berichten, heißt es anderswo. Noch weiß niemand Genaueres über die Reden.

Unterdessen sind auch viele bekannte Gesichter aus der Politik und aus dem Bund der Vertriebenen (BdV) zu entdecken. BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius, MdB, etwa spricht gerade mit den anwesenden Mitgliedern des BdV-Präsidiums. Er wird heute die Schlussrede halten. Seine Amtsvorgängerin Erika Steinbach, MdB, die in Westpreußen geboren wurde, ist ebenfalls zugegen. Sie hat sich jahrelang vehement für den Gedenktag eingesetzt. Auch für dieses Engagement haben die Delegierten der BdV-Bundesversammlung am Vortag einstimmig einem Antrag zugestimmt, ihr die BdV-Ehrenpräsidentschaft zu verleihen. Der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Hartmut Koschyk, MdB, ist zu sehen – ein Sohn oberschlesischer Vertriebener und ehemaliger BdV-Generalsekretär. Als amtierender Bundesratspräsident ist Hessens Landesvater Volker Bouffier, MdL, gekommen, dessen Mutter eine Donauschwäbin war. Vor dem Hintergrund der gerade erst bekannt gewordenen, weltweiten Flüchtlingszahlen – aktuell sind es fast 60 Millionen Menschen – ist die Anwesenheit von Bundesaußenminister Dr. Frank-Walter Steinmeier, MdB, dessen Mutter aus Breslau vertrieben wurde, ein deutliches Zeichen aus dem Auswärtigen Amt. In der ersten Reihe sitzt bereits Dr. Edith Kiesewetter-Giese aus dem Sudetenland. Stellvertretend für die Erlebnisgeneration wird sie als Zeitzeugin heute über ihre Vertreibung sprechen. Zwei Plätze weiter nimmt Asma Abubaker Ali Platz, eine junge Frau, die mit ihrer Familie aus Somalia geflohen ist und 2012 im Rahmen des UNHCR-Resettlement-Programms aus dem Flüchtlingslager Choucha in Tunesien nach Deutschland geholt wurde. Sie wird über ihre Flucht und ihre Ankunft hier berichten. Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière, MdB, der als Gastgeber die Begrüßungsrede halten wird, trifft ein. Er entstammt einer hugenottischen Flüchtlingsfamilie, die im 17. Jahrhundert aus der Nähe von Metz nach Brandenburg floh. Unter stehendem Applaus begrüßen die Gäste schließlich Bundespräsident Dr. h.c. Joachim Gauck.
Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede zum ...
Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede zum Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung. Foto: Henning Schacht
Die Gedenkstunde beginnt mit John Williams‘ „Thema“ aus Steven Spielbergs Film über Oskar Schindler, der während des Zweiten Weltkrieges etwa 1200 jüdische Zwangsarbeiter vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten rettete. Die musikalische Gestaltung übernimmt das „Deutsch-Polnische Jugendorchester“ der Musikschule Frankfurt (Oder). Es ist ein eindringlicher Beginn, der sofort deutlich macht, worum es heute neben dem Opfergedenken auch gehen soll: um Schuld und um grenzüberschreitende Verständigung.

Aus der dem Anlass angemessenen, würdigen Begrüßung durch den Bundesinnenminister bleibt ein Detail besonders in Erinnerung: Weltkunde entstehe erst aus Heimatkunde, die Welt werde erst erklärbar über die Erkenntnis des eigenen Seins, zitiert Thomas de Maizière den ostpreußischen Schriftsteller Siegfried Lenz. Die eigene Geschichte zeige, dass man politische Auseinandersetzungen niemals auf dem Rücken der von Flucht und Vertreibung Betroffenen führen dürfe. Ein sehr guter Beginn.

Wahrhaft historisch sind die Worte des Bundespräsidenten. Joachim Gauck nimmt sich Zeit. In fast einer Dreiviertelstunde Redezeit findet er eine mögliche Erklärung dafür, dass dem Gedenken an die deutschen Opfer von Flucht und Vertreibung erst nach so vielen Jahren ein fester Platz im Gedächtnis der Nation gegeben wird. Er spricht über die Entwicklung Deutschlands in den Nachkriegsjahren. Einfühlsam zeichnet er den schweren Weg der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge sowie die Bedingungen ihrer Ankunft nach, spricht aber auch über die nationalsozialistischen Verbrechen, deren notwendige, aber langwierige Aufarbeitung und Verankerung im Bewusstsein unserer Gesellschaft viel Zeit erfordert hätten und das Schicksal der Vertriebenen in den Hintergrund hätten rücken lassen. Erst neue Kriege, neues Leid und öffentlich bekundetes Mitgefühl mit neuen Opfern hätten die eigene deutsche Opfergeschichte wieder mehr in den Fokus gerückt. Der Bundespräsident beschreibt die weltweite Flüchtlingslage und die Aufnahme Betroffener in Deutschland. Dabei macht er nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der heutigen Zeit und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aus, sondern zeigt auch mögliche Grenzen gesellschaftlicher Aufnahmebereitschaft. Gauck redet seinem Volk ins Gewissen: Er wünsche sich eine Erinnerung, in der Platz für Trauer, Schuld und Scham ist sowie eine Gesellschaft, die selbstbewusst in den Herausforderungen der Zukunft auch ihre Chancen erkennt und – aufgrund der eigenen Geschichte oder wegen der heutigen Erfahrungen – Empathie für sämtliche Opfer von Flucht und Vertreibung aufbringt.

Gaucks Rede wirkt nach. Das Orchester beginnt schon während des lange anhaltenden Applauses mit dem nächsten Musikstück: „Oblivion“ – Vergessenheit – von Astor Piazzolla. Das Werk lässt Raum für eine kurze geistige Entspannung. In den hinteren Reihen tippen einige Journalisten weiter auf ihren Laptops. Ob es ihnen im begrenzten Rahmen heutiger Berichterstattung gelingen wird, die Schwerpunkte dieser sehr inhaltsreichen Rede des Bundespräsidenten und die Eckpunkte der Gedenkstunde umfassend wiederzugeben? Werden die Fernsehnachrichten, mit ihren 5- bis 30-minütigen Sendezeiten über sämtliche wichtigen Ereignisse der ganzen Welt, hierzu in der Lage sein? Dies wird sich erst im Laufe der Berichterstattung zeigen.
Von links: Bundespräsident Joachim Gauck, Asma ...
Von links: Bundespräsident Joachim Gauck, Asma Abubaker Ali, Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maiziere und BdV-Präsident Dr. Bernd Fabritius bei der Gedenkstunde im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Foto: Henning Schacht
Mit Asma Abubaker Ali kommt nun die erste persönlich Betroffene zu Wort. Bewegend schildert sie die zweifache Flucht ihrer Familie: zunächst aus Somalia, als die Familie Zuflucht in Libyen fand; und dann, Jahre später, als der sogenannte „Arabische Frühling“ begann, die Militärdiktatur Muammar al-Gaddafis zusammenbrach und Gewalt und Misshandlungen gegenüber Schwarzafrikanern zunahmen, aus Angst in ein tunesisches Flüchtlingscamp, wo sich die Lage bereits wieder beruhigt hatte. Von dort kam sie dann über ein Umsiedlungsprogramm der Vereinten Nationen nach Deutschland, wo sie nun hofft, Medizin studieren zu dürfen.

Von der Angst, erschlagen oder erschossen zu werden, weiß auch Edith Kiesewetter-Giese zu berichten, deren Vertreibung aus dem Sudetenland nun etwa 70 Jahre zurückliegt. Zehn Jahre war sie alt, als sie erleben musste, wie Soldaten Säuglinge aus den Kinderwagen rissen und „zum Tontaubenschießen“ in die Luft warfen. Ruhig sagt sie, sie könne heute davon sprechen, aber es wird klar, dass sie noch immer von dem gequält wird, was sie nicht schildern kann: den Geräuschen, dem Schreien der Kinder und Mütter, dem Lachen der Peiniger. Erfahrenes Unrecht könne man vielleicht verzeihen, erklärt sie, jedoch nie vergessen. An diesem Gedenktag bekämen die Vertriebenen aber ein kleines Stückchen Würde zurück.

Als Kiesewetter-Giese das Rednerpult verlässt, erklingt „Ein Tag“ von Wolfgang Schumann. Erneut eine Gelegenheit, das Gehörte zu verinnerlichen. Wieder einmal wächst die Überzeugung, dass Zeitzeugenberichte wichtig sind und unbedingt gesammelt und aufbewahrt werden müssen. Die authentischen Darstellungen persönlich Betroffener können wie kaum ein anderes Dokument die Lehre des „Nie wieder!“ vermitteln – eben weil sie erfahrbar werden lassen, wie es damals war. Zuletzt spricht BdV-Präsident Bernd Fabritius. Er beginnt sein Schlusswort mit einer Darstellung des Massakers von Prerau, das fast auf den Tag genau vor 70 Jahren geschah. Mehr als einen Monat nach Kriegsende waren dort 265 Kinder, Frauen und Männer – in der Überzahl Karpatendeutsche – von Soldaten der tschechoslowakischen Armee ermordet worden. Er weist auf die vielen anderen deutschen Opfer hin, an die erinnert werden müsse. Dies relativiere doch nicht die deutsche Kriegsschuld. Durch die Verbindung des Gedenkens mit dem Weltflüchtlingstag werde endlich zweifelsfrei herausgestellt, dass auch die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung ein Verbrechen gewesen sei, für das weder Kollektivschuld noch Rechtfertigungstheorien geltend gemacht werden könnten, schließt Fabritius mahnend.

Als der BdV-Präsident wieder an seinem Platz ist und die Nationalhymne erklingt, wirkt das gemeinsame Singen wie eine Bekräftigung sämtlicher soeben gehörter Reden. Unter dem gläsernen Dach des Schlüterhofes haben sich frühere und heutige Opfer von Flucht und Vertreibung versammelt. Sie alle haben erfahren, dass ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten und jedes der sehr verschiedenen Einzelschicksale im Gedenken angemessen gewürdigt werden soll.

Die Gelegenheit, nun ohne Scham und Berührungsängste einige Zeit miteinander zu sprechen, nehmen viele der Anwesenden dankbar an – vom Staatsoberhaupt über Bundesminister und Abgeordnete bis hin zu Zeitzeugen von damals, Flüchtlingen von heute und Jugendlichen aus dem grenzüberschreitenden Jugendorchester. Dies macht diese Veranstaltung noch zusätzlich zu einem gelungenen Auftakt für alle zukünftigen Gedenktage für die Opfer von Flucht und Vertreibung.

Marc-P. Halatsch

Schlagwörter: Flucht und Vertreibung, Gedenkfeier, Berlin, BdV, Bundespräsident, Fabritius

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