30. September 2019

"Wir bauen an der Zukunft": Beim Sachsentreffen in Bistritz wurde der Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen vor 75 Jahren gedacht

Festgottesdienst in der Bistritzer evangelischen Kirche: An den Seiten verhüllen Leintücher gnädig die Gerüste. Der Orgelprospekt ist leer und mit Folie abgedeckt, an der Stelle des Altars prangt nur ein Bild. Im Eingang rieselt auf so manchen Besucher ein wenig Sand herunter… Stolz, als würden sie die Baustelle gar nicht bemerken, schreiten die Pfarrer, die Ehrengäste, die Trachtenträger ein. Die Kirche füllt sich bis auf den letzten Platz. Von den Seiten flankieren schmucke Zunft- und Nachbarschaftsfahnen die versammelte Gemeinschaft, deren Mitglieder aus ganz Rumänien, Deutschland und Österreich, ja sogar aus Kanada angereist waren: Hauptsache gemeinsam!
„Gemeinsam – Gedenken – Aufbauen“: Unter diesem Motto steht das 29. Sachsentreffen in Bistritz, das sich von Freitagabend, dem 20. September, bis Sonntag, den 22. September, erstreckt, da auch die Regionalgruppe Nordsiebenbürgen-Nösen des HOG-Verbands zu einem Nordsiebenbürger Treffen geladen hat. Die Wahl des Datums reflektiert den zweiten Aspekt des Mottos – „Gedenken“: Hier vor genau 75 Jahren, vom 20. bis 23. September 1944, wurden die letzten Nordsiebenbürger Sachsen von der Deutschen Wehrmacht vor der vorrückenden Roten Armee evakuiert. 35.000 Menschen wurden auf den Weg gebracht, 860 blieben. Einige der Evakuierten wurden, als die Russen einen Teil Österreichs besetzten, wieder zurückgeschickt. Viele von ihnen traf 1945 die Deportation in die ehemalige Sowjetunion...
Festgottesdienst in der Bistritzer ...
Festgottesdienst in der Bistritzer Stadtpfarrkirche. Fotos: George Dumitriu
Dem Gedenken an die traumatische Flucht widmen sich gleich zwei Veranstaltungen: die vor dem 2014 aufgestellten Denkmal des Bildhauers Mircea Mocanu am Dominikanerplatz, dem in diesem Jahr zehn Tafeln mit den Ortsnamen und der Anzahl der Geflüchteten hinzugefügt worden sind, und der Vortrag von Horst Göbbel im Kulturhaus, der als „Zeitzeuge“ zum Thema berichtete: Er und seine Zwillingsschwester Erika haben am 2. Oktober 1944, während der Flucht, in einem Viehwaggon in Ungarn das Licht der Welt erblickt (siehe Artikel in der SbZ Online). Die Flucht der Siebenbürger Sachsen markiere „das Verschwinden einer Welt, die nie wiederkehrt“, bedauert Bürgermeister Ovidiu Crețu. Der Verlust wirke sich bis heute auf das Alltagsleben der Stadt Bistritz aus. Stadtpfarrer Hans-Dieter Krauss ergänzt: „Als die Ostfront Nordsiebenbürgen überrollte, veränderte sich das Weichbild der von den Siebenbürger Sachsen gegründeten Ortschaften grundlegend.“ Die Evakuierung führte dazu, dass die sächsischen Gemeinschaften im Bistrizter und Reener Land aufhörten zu existieren, bekräftigt Martin Bottesch, Vorsitzender des Siebenbürgenforums. Die musikalische Untermalung der Gedenkveranstaltung erfolgt durch das Blasorchester Drabenderhöhe unter der Leitung von Jürgen Poschner.

Gemeinsam als Brüder und Schwestern

Warme Worte vertreiben bald die eisige Kälte in der Kirche. Pfarrer Krauss erinnert an den dramatischen Brand des Turms der evangelischen Stadtpfarrkirche in Bistritz im Juni 2008. „Sie sind nicht allein – und wir lassen Sie nicht allein“, tröstete ihn damals ein Anruf aus dem fernen Australien. Dreimal läutete das Telefon aus Deutschland und Dr. Hans Georg Franchy, Vorsitzender der HOG-Bistritz-Nösen, verkündete: „Wir haben das Geld für die erste Glocke beisammen.“ Dann für die zweite, die dritte. Neben Sachsen aus aller Herren Länder beteiligten sich die Bundesrepublik Deutschland, die evangelische Landeskirche, der rumänische Staat, das Rathaus Bistritz am Wiederaufbau. Heute ist der höchste mittelalterliche Kirchturm des Landes, als einziger mit einem Aufzug ausgestattet, nicht zu übersehen, freut sich Bischof Reinhart Guib. Und in zwei Jahren wird die Kirche, heute eine Baustelle, eine Perle unter den Kirchen Siebenbürgens sein. Dies – aber auch die sechs Theologiestudenten im ersten Semester und die vier neuen Vikare, die dieses Jahr ihr Amt antreten – macht Hoffnung für die Zukunft!

An ihre „Brüder und Schwestern“ richtet sich Hildegard Servatius-Depner in ihrer Predigt. Auf dem Dorf sei diese Anrede früher üblich gewesen: „Bruder Misch“ oder „Schwester Maja“. Heute schließt die Pfarrerin auch Rumänen, Ungarn und anderen Ethnien, die jüngere wie die ältere Generation, als „Brüder und Schwestern unter Christus“ explizit mit ein. Könne es eine schönere Anrede geben?
Der Bistritzer Stadtpfarrer Hans-Dieter Krauss ...
Der Bistritzer Stadtpfarrer Hans-Dieter Krauss beim Denkmal zur Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen 1944.
Dem Herrgott scheint‘s zu gefallen: Nicht nur, dass plötzlich ein Lichtstrahl das dunkle Kirchenschiff durchdringt und auf einer Fahne und einigen Gesichtern ruhen bleibt. Auch der anschließende Trachtenzug defiliert in strahlendem Sonnenschein.

Gedenken: „Wir sind heute alle Sachsen!“

Auf der Bühne am Hauptplatz kommen Organisatoren, Gastgeber und Ehrengäste zu Wort: Martin Bottesch, Hans Georg Franchy, Bürgermeister Ovidiu Crețu, die österreichische Botschafterin Isabel Rauscher, Hans Erich Tischler, deutscher Konsul in Hermannstadt, Ilse Welther, Vorsitzende des HOG-Verbands, Manfred Schuller, Bundesobmann des Bundesverbands der Siebenbürger Sachsen in Österreich, und Cristian Roth-Gross, Vorsitzender des Bistritzer Forums. Rainer Lehni, stellvertretender Bundesvorsitzender des Verbands der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und Vorsitzender der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, richtet Grüße des Verbands und der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen, des Bundeslandes mit der höchsten Anzahl an Nordsiebenbürger Sachsen, aus. In Anbetracht des Gedenkens an die Evakuierung vor 75 Jahren sei die Wahl von Bistritz als Austragungsort genau richtig gewesen. „Auch wenn die Zahl jener, die die Flucht 1944 bewusst miterlebt haben, schwindet, es gibt an den neuen Wohnorten heute eine zweite und auch schon dritte Generation derer, die ihre Wurzeln hier im Nösnerland und Reener Ländchen haben, das Bewusstsein, seine Wurzeln hier in Siebenbürgen zu haben, ist wach und rege und wird weitergeführt.“

Crețu betont die Verantwortung der Stadt für das Erbe der Siebenbürger Sachsen - „nicht nur im materiellen Sinne: hinterlassene Häuser, Schulen“, sondern „auch im spirituellen Sinne: Bildung und Kulturlandschaft“. Als gute Nachricht verkündet er: Die Gelder für die drei Jahre dauernde Modernisierung des Nationalkollegs „Liviu Rebreanu“ mit deutscher Abteilung seien gesichert. An Bischof Guib und Bottesch überreichte er einen originellen symbolischen Dank für die langjährige Unterstützung der Stadt durch die evangelische Kirche und das Siebenbürgenforum: einen zur Ehrenplakette umgestalteten Dachziegel des abgebrannten Kirchturmdachs. „Wir sind heute alle Sachsen!“ schließt Crețu.
Trachtenzug durch die Innenstadt von Bistritz. ...
Trachtenzug durch die Innenstadt von Bistritz.
In der Rede von Botschafterin Rauscher klärt sich auf, warum die Österreicher heuer so stark vertreten sind: In Österreich haben nach 1944 viele Nordsiebenbürger eine neue Heimat gefunden. Musiker und Tanzgruppen aus Traun und Wels defilierten daher im Trachtenzug, die Trauner Adjuvanten bestritten das abendliche Blasmusikkonzert am Hauptplatz, das Welser Symphonieorchester ein außerordentliches Konzert im Kulturhaus. Eine Delegation aus zwei stellvertretenden Bürgermeistern und sechs Stadträten aus Wels würdigte die Partnerschaft dieser Stadt mit Bistritz, vor fünf Jahren initiiert von Dr. Fritz Frank, dem 96-jährigen Ehrenobmann der Siebenbürger Sachsen in Österreich.

Konsul Hans Erich Tischler lobt vor allem den Beitrag der HOGs in Deutschland als „wahre Brücke zwischen den Ländern“: Ohne die konkreten Aktionen der Heimatortsgemeinschaften – „mal wird hier eine Orgel restauriert, mal dort ein Friedhof instandgesetzt“ – wären die bilateralen Beziehungen bei weitem nicht so stark.

Aufbau – als Therapie zur Vergangenheitsbewältigung

Im Sinne der Gemeinschaft steht auch die Verleihung der Honterus-Medaille in der Festveranstaltung im Kulturhaus an Kurator Johann Schaas aus Reichesdorf und Ortrun Morgen aus Schweischer.

Um Gedenken geht es bei der Vorstellung der Briefmarke zum Anlass der freiwilligen Anschlusserklärung der Siebenbürger Sachsen an Rumänien 1919 durch Thomas Șindilariu.

Zum dritten Punkt des Mottos, Aufbau, berichtet Architekt Klaus Birthler aus Sächsisch-Regen: Vom gezielt betriebenen Verlust der Identität im Kommunismus, z.B. durch Abschlagen sächsischer Fassadendekoration, zu heutigen integrierten Projekten, wie dem Mühlkanal mit Park und Kajakclub, inspiriert, begründete er eine Datenbank zur Dokumentation der Veränderungen von Städten im Zehn-Jahres-Rhythmus. Veränderung kann aber auch positiv sein: Als Stipendiat in Hamburg beneideten ihn dort die Kollegen. In Deutschland sei alles schon getan, meinten sie, „aber ihr habt alles noch vor euch“!
Bürgermeister Ovidiu Crețu (rechts) ...
Bürgermeister Ovidiu Crețu (rechts) überreicht einen zur Ehrenplakette umgestalteten Dachziegel des abgebrannten Kirchturmdachs als symbolischen Dank an Bischof Reinhart Guib (links) und Martin Bottesch für die langjährige Unterstützung der Stadt durch die evangelische Kirche und das Siebenbürgenforum.
Unter dem Motto Aufbau kann man aber auch das Lebenswerk von Ortrun Morgen und Johann Schaas betrachten. Die pensionierte Lehrerin und Pfarrersgattin engagiert sich ehrenamtlich in Forum und Landeskirche für die hiergebliebenen Landsleute, organisiert Frauenkreise, unterstützt ihren Mann seelsorgerisch und predigt selbst als Lektorin. Mit ihren Gottesdiensten erreichte sie die Herzen vieler Menschen, so Laudator Karl Hellwig. Die Laudatio auf den 86-jährigen Johann Schaas hält Pfarrer Ulf Ziegler: Für seine beruflichen Qualitäten als Weinbauer, Wagner, Zimmermann, Eisenbieger und Elektriker geschätzt, seit 1990 als Kurator; privat als Musiker, Bastler und Erfinder, habe er vor allem durch seine charmanten Kirchenführungen Reichesdorf (und den „grünen Mann“) weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht. Durch sein Wirken seien dort „Zuwanderer aus Bukarest, aus Europa und den USA ansässig geworden“. Er schaffte es, für die Restaurierung von Kirche und Orgel zu werben. Unermüdlich erzählt er – auch auf YouTube – die Geschichten seines Dorfes und der Siebenbürger Sachsen. „Er hat uns weltbekannt gemacht in einer Weise, in der jeder Hörer neugierig wird und mehr erfahren mag.“

Renoviert, umgebaut und aufgebaut wird heute an vielen Kirchenburgen im Land, nicht nur in Bistritz, bemerkt Bischof Guib. „Das Aufbauen ist im Heute verankert, zielt aber auf die Zukunft.“ „Ich betrachte Bauen und Aufbauen als eine Art Therapie in der Vergangenheitsbewältigung“, sagt auch Hildegard Servatius-Depner. Und auf einmal verstehen wir, warum die Baustellenatmosphäre in der Kirche niemanden stört. Die Pfarrerin fährt fort: „Vor allem aber als Zeichen der Hoffnung: Wir bauen an der Zukunft!“

Nina May

Schlagwörter: Bistritz, Sachsentreffen, Nordsiebenbürgen, Flucht und Evakuierung

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  • 10.10.2019, 12:37 Uhr von AW-Nösen: Liebe Frau "Katzken". Da muss schon jemand anders kommen, der es schafft mich aufzuregen- sie sind ... [weiter]
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