27. September 2018

Harald Roth: "Eine Anschlusserklärung und die Hoffnung auf Zukunft. Die Siebenbürger Sachsen 1918/1919"

In seiner Festrede beim Sachsentreffen am 22. September 2018 in Mediasch beleuchtete der Historiker Dr. Harald Roth, Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa in Potsdam, die Hintergründe der Anschlusserklärung, die die Siebenbürger Sachsen vor hundert Jahren, am 8. Januar 1919, einstimmig ebenfalls in Mediasch beschlossen hatten. Der Anschluss führte bei den Siebenbürger Sachsen erst zu Euphorie, dann aber zu herben Enttäuschungen. Dennoch sei das Fazit positiv: Die Siebenbürger Sachsen, und mit ihnen die Deutschen in Rumänien, seien ein konstitutives Element Rumäniens und hätten einen guten Grund, das hundertjährige Jubiläum Rumäniens mitzufeiern. Harald Roths Festrede wird im Folgenden im Wortlaut wiedergegeben.
Mediasch liegt günstig. Zwar nicht direkt im Zentrum Siebenbürgens, aber gut erreichbar aus den anderen sächsischen Städten, aus dem Szeklerland und auch aus Karlsburg (Weißenburg), Kokelburg, Klausenburg. Und die sächsischen Bürgerhäuser boten seit jeher bequeme und sichere Unterkunft. Deswegen wählte man Mediasch sehr häufig als Tagungsort aus, wenn sich etwa die Vertreter der drei Nationen zum Landtag trafen. Sie tagten dann hier, wo wir uns gerade befinden, in der Margarethenkirche. Zum Beispiel 1575, als der Fürst Siebenbürgens Stephan Báthory hier die Nachricht erhielt, dass er zum König von Polen gewählt worden war. Und in den folgenden Jahrzehnten, als hier auch Fürstenwahlen stattfanden. Oder dann 1840, als sich Wissbegierige in Mediasch zusammenfanden, um den noch heute bestehenden Verein für siebenbürgische Landeskunde zu gründen. Und schließlich am 8. Januar 1919, als eine sächsische Nationalversammlung in Mediasch die Aufkündigung eines alten Vertrages besiegelte und die Grundlagen für einen neuen formulierte.
Der Historiker Dr. Harald Roth hielt die Festrede ...
Der Historiker Dr. Harald Roth hielt die Festrede beim 28. Sachsentreffen in Mediasch. Foto: George Dumitriu

Unter dem Druck der Magyarisierung: Emanzipation der Minderheiten

Der aufgekündigte Vertrag war schon wirklich sehr alt. Es war eine Treuevereinbarung mit der Krone Ungarns, die bereits 1224 zum ersten Mal bestätigt worden war, dann 1317 und immer wieder von neuem über die Jahrhunderte hin. Zum letzten Mal erst hatten sich die Sachsen am 29. Oktober 1918 bemüßigt gefühlt, ihn zu bestätigen, nämlich zu erklären, dass sie „in dieser schicksalsschweren, entscheidungsvollen Zeit fest und unerschütterlich zum ungarischen Vaterlande“ stünden. Dabei fühlte sich dieses Vaterland schon lange nicht mehr an den alten Vertrag gebunden. Das national erwachte Ungarn hatte bereits über mehrere Generationen hin jede Gelegenheit und jede Möglichkeit genutzt, seine Bürger anderer Muttersprache vor den Kopf zu stoßen, sie dem Staat zu entfremden. Immerhin machten diese, also die Nicht-Ungarischsprachigen, knapp die Hälfte der Einwohner der ungarischen Reichshälfte aus. Dieses innerhalb der Habsburgermonarchie so gut wie selbständige Ungarn wollte – jenseits einer radikalen Modernisierung aller Gesellschaftsbereiche – es wollte alle seine Nichtmagyaren mit Zwang zum Ungarntum bringen, ganze Gesetzespakete der Judikative, verurteilende Urteile der Justiz, Schikane und systematische Behinderung durch die Exekutive erreichten neben einer zunehmenden Magyarisierung aber eine Gegenreaktion, nämlich die immer deutlicher artikulierte Emanzipation der einzelnen Sprachgruppen, der Slowaken, der Rumänen, der Südslawen – und eben auch der Deutschen. Immerhin ein Zehntel der Einwohner Ungarns sprach Deutsch, in Siebenbürgen sogar etwas mehr.

Ungarn als „Völkerkerker“

Die Nichtmagyaren empfanden Ungarn zunehmend als Völkerkerker. Die Ortsnamensgesetze und die Schulgesetze um die Jahrhundertwende hatten sie an den Rand der Verzweiflung gebracht. So fingen sich Bande zu spinnen an, die vorher kaum denkbar gewesen wären – die politischen Vertreter der einzelnen Sprachgruppen begannen im Kampf gegen das Budapester Regime, miteinander zu kooperieren. Auch sächsische und rumänische Politiker, zumal Reichstagsabgeordnete, fanden zueinander. Schon 1913 stellte ein sächsischer Politiker fest, dass genau diese Zusammenarbeit „die Zukunftsfrage gerade der Deutschen in Siebenbürgen“ sei (Lutz Korodi). Doch diese Zukunftsfragen sollten während des bald ausbrechenden Krieges in den Hintergrund treten. An der Treue zur Monarchie und Loyalität zum Vaterland bestand während der längsten Zeit der Kriegsjahre seitens aller Völkerschaften kein Zweifel. Erst als sie sich vom eigenen Staat verraten und verlassen fühlten, orientierten sich die Völker neu – einige früher, wie die Südslawen oder die Rumänen, andere später, wie etwa die Sachsen.
Diese rangen seit jenem 29. Oktober 1918, als sie noch glaubten, ihre Treue zu Ungarn bekräftigen zu müssen, rund einen Monat um den richtigen Weg. Dabei erleichterten zwei Aspekte die Suche: Auf der einen Seite verabschiedete sich die Doppelmonarchie durch völliges Chaos, Unsicherheit und Not aus der Geschichte, oft schlimmer als die Kriegszeit selbst. Auf der anderen Seite schienen jene völkerübergreifenden freundschaftlichen Netzwerke, deren Entstehung der ungarische Chauvinismus befördert hatte, eine zukunftsfähige Alternative zu bieten. Und mehrere personelle Wechsel in der sächsischen Führung erleichterten es überdies, ganz neu über die Gegenwart nachzudenken.

Demokratischer Gedanke der Selbstbestimmung der Völker

Die größte Sorge war zunächst, den zentrifugalen Kräften während der Auflösung der öffentlichen Ordnung entgegenzuwirken, als Militär, Polizei, Verwaltung plötzlich keinen Dienstherrn mehr hatten. Während die sächsische Führung bestrebt war, durch übernationale Bürgerwehren und durch die Aufrechterhaltung lokaler Strukturen vor allem der Bevölkerung einen gewissen Schutz zu bieten, versuchte sie gleichzeitig, sich ein Bild der Lage zu verschaffen. Sie hielt nach allen Richtungen hin Ausschau, ihre Vertreter sprachen mit den anderen Deutschen Ungarns. Sie sprachen mit den Reichstagsabgeordneten und politischen Führern der Rumänen. Sie sprachen mit Diplomaten, etwa des Deutschen Reiches. Sie sprachen mit der neuen bürgerlichen Revolutionsregierung Ungarns. Und suchten Orientierung. Dabei trieben sie die wildesten Befürchtungen um: In einem Bericht des Deutschen Generalkonsulats in Budapest etwa hieß es im November 1918, dass es im Falle einer Besitzergreifung der Rumänen in Siebenbürgen „ohne blutige Zusammenstöße zwischen Rumänen und Ungarn wohl nicht abgehen könne“. Dass für diesen Fall ein Bürgerkrieg bevorstehen werde, schien gewiss und machte die sächsische Orientierungssuche umso schwieriger. Das Konsulat schrieb im gleichen Bericht: „Die Sachsen sind jedenfalls bestrebt, ihr(em) Volk so gut es geht über die schwierige Zeit hinüber zu helfen.“ (23.11.1918) Den eigenen Standpunkt drückten die Sachsen durchaus im Sinne ihrer Zeit, also dem Mainstream entsprechend aus: „Das sächsische Volk hat den demokratischen Gedanken der Selbstbestimmung der Völker, der jetzt in der ganzen Welt zum Siege gelangt ist, in seinem Kreis schon seit jeher verwirklicht und kann daher dessen allgemeiner Anwendung mit Ruhe entgegensehen.“ (Zentralausschusstagung 23.11.1918)
Doch mit dieser „Ruhe“ war es bei Lichte besehen nicht weit her. Die sächsische Politik war sich der geringen Zahl derjenigen, die sie vertrat, durchaus bewusst. Bislang hatte sie es vermocht, über ein Zensuswahlrecht, bei dem Steuerleistung und Schulbildung über Wahlstimmen entschieden, ihre geringe Quantität mehr als auszugleichen – es gab im Budapester Reichstag mehr sächsische als rumänische Abgeordnete. Doch wenn fortan jeder eine Stimme haben sollte, die gleich viel zählen würde, dann waren sie hoffnungslos im Hintertreffen. Sie mussten befürchten, zwischen den beiden sich zumindest ablehnend, wenn nicht sogar feindlich gegenüberstehenden großen Sprachgruppen Siebenbürgens zerrieben zu werden.

Rumänen konkretisieren ihre Pläne

Die Bande zu den Ungarn waren – über die abstrakte altererbte Staatsloyalität hinaus – von diesen selbst gelöst worden, man konnte somit auch von den großartigen Versprechungen der Revolutionsregierung nichts erwarten. Hingegen begannen die Vertreter der Rumänen schon vor Mitte November, ihre Überlegungen zu konkretisieren: sie planten, Siebenbürgen und weitere ostungarische Komitate durch eine Nationalversammlung dem Königreich Rumänien anzuschließen. Und auf einer persönlichen Ebene, vor allem zwischen den ehemaligen Reichstagsabgeordneten, ließen sie die Sachsen wissen, dass diese sich dazu positionieren müssten. Unklar war zu jenem Zeitpunkt beiden Seiten, wie schnell dieser Prozess ablaufen würde und wie so ein Anschluss überhaupt funktioniert – ob das erst eine Friedenskonferenz umsetzen würde oder etwa ob die anzuschließenden Gebiete zunächst autonom blieben. Jedenfalls wurden der sächsischen Seite von Anbeginn erhebliche nationale Freiheiten in Aussicht gestellt, und die Einstellung der Rumänen ihnen gegenüber war von Respekt und von Anerkennung getragen. Zudem sickerte durch, dass die anzuschließenden Gebiete von Hermannstadt aus regiert werden sollten – man würde also bald in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander Politik betreiben.
Die politisch aktiven Kreise der Sachsen genauso wie die sächsische Presse wandelten binnen etwa zehn Tagen (im letzten Novemberdrittel) ihre Position – und zwar von abwartend hin zur Vorbereitung einer großen Wende. Denn die breite Bevölkerung hatte in dieser an Medien noch armen Zeit die Problematik bis dahin nur ansatzweise erfassen können, sie musste aufgeklärt, oder wie man heute sagen würde: sie musste mitgenommen werden. In vielen überlieferten Äußerungen der letzten Novembertage, also kurz vor der Karlsburger rumänischen Nationalversammlung, schwang hoffnungsfroher Übermut mit. Sie machen deutlich, welch tiefe Verletzungen die ungarische Politik der vergangenen Jahrzehnte hinterlassen hatte, und andererseits welch große Hoffnung man auf die Zusammenarbeit mit den Rumänen setzte. Die Schäßburger Zeitung schrieb am 30. November: „Vor dem Richterstuhl der Weltgeschichte reißen die Rumänen ihre nie vernarbten Wunden auf und in der weisen Erkenntnis, daß sie das Recht ihrer Nationalität (…) für ewige Zeit sichern müssen, reißen sie sich los vom Ungarlande. (…) Der Traum einer mächtigen Zukunft, nationaler Größe, der Vereinigung aller Rumänen (…) zu einem gemeinsamen Vaterland geht morgen in Erfüllung.“

Nationalversammlung der Rumänen am 1. Dezember 1918 in Karlsburg (Alba Iulia)

Die große Nationalversammlung der Rumänen am 1. Dezember 1918 in Karlsburg, deren hundertstem Jahrestag wir heuer gedenken, war für die Sachsen also keinesfalls eine Überraschung und es war auch alles andere als ein Schock. Ganz im Gegenteil. Die vorausgegangenen Ankündigungen wurden wahr gemacht und alle Zusicherungen an die „mitwohnenden Völker“ in die Anschlusserklärung mit aufgenommen – all das, wofür man seit Generationen mit den Ungarn stritt und was diese erst im Untergang nur mit Mühe über die Lippen brachten, wurde hier nun feierlich beschworen: „Die volle nationale Freiheit für alle mitbewohnenden Völker. Jedes Volk wird sich in seiner eigenen Sprache durch Personen aus seinen Reihen bilden, verwalten und richten und jedes Volk wird das Recht der Vertretung in den gesetzgebenden Körperschaften und in der Regierung des Landes (…) erhalten. Gleiche Berechtigung und völlige autonome konfessionelle Freiheit für alle Glaubensbekenntnisse im Staat.“ Und noch mehr Zusicherungen dieser Art – ohne Frage von den Verfassern, den führenden Intellektuellen der Siebenbürger Rumänen, im tatsächlichen Sinne der Worte gemeint.

Euphorie unter den Siebenbürger Sachsen

Doch nicht allein diese schönen Worte ließen die sächsischen Eliten in eine regelrechte Aufbruchsstimmung geraten, es gab noch mehr. Die rumänische Seite war sich ihrer Sache nämlich noch keineswegs sicher und brauchte dringend Unterstützung auf ihrem Weg aus dem Reich der Stephanskrone hinaus. Von den Ungarn oder Szeklern brauchten sie diese nicht zu erhoffen, die anderen Deutschen oder auch anderen Sprachgruppen waren zu wenig organisiert oder schon zu stark magyarisiert, also blieben nur die Sachsen als helfende Partner übrig. Man brauchte unbedingt deren ausdrückliche Zustimmung zum Anschluss, um diesen vor der Weltöffentlichkeit als legitim darstellen zu können. Und deswegen stellten die rumänischen Politiker den Sachsen weitreichende Freiheiten in Aussicht, die über die Karlsburger Erklärung deutlich hinausgingen. Rückblickend stellte ein seinerzeitiger Akteur der Sachsen fest: „Unsere Hoffnungen und Pläne hatten keine Grenzen. Man träumte von einer Auferstehung des Königsbodens und überbot sich an Forderungen. Die Lawine des Optimismus war nicht aufzuhalten. Schließlich verlangten wir auch eine eigene sächsische Eisenbahndirektion.“ (Otto Fritz Jickeli) Das war der Dezember 1918. Als Elend und Chaos, Hunger und Tod weite Teile Europas fest im Griff hatten, zog eine Woge der Euphorie durch die Schreibstuben der sächsischen Städte. Nach jahrzehntelanger ungarischer Demütigung und nach Jahren des Krieges nun berechtigte Hoffnung auf die Wiedererlangung sächsischer Freiheiten. Wahrscheinlich eine Stimmung ähnlich den Wochen nach dem Tod Josephs II., als die Sächsische Nation 1790 wiedererrichtet wurde und man die alten Urkunden in feierlicher Prozession über den Großen Ring zurück zum Alten Rathaus trug und auf einem Banner „In Privilegiis Securitas“ schwenkte.
Nun aber, 1918, entstand ein Konzept für ein selbstverwaltetes „Munizipium Sachsenland“, das autonome sächsische Verwaltungseinheiten vorsah – ähnlich dem alten Königsboden (bis 1876), der noch ein deutlich greifbarer Sehnsuchtsort im kollektiven Bewusstsein war. Die sächsische Politik hatte nicht nur die Notwendigkeit erkannt und akzeptiert, sich in das Unvermeidliche zu fügen, sondern eben auch die Chancen dieses Neuanfangs gesehen, den sie von Anbeginn aktiv mitgestalten wollte. Das ausgeprägte Selbstbewusstsein, in jener Situation als „Volk“ zu agieren und nicht etwa als Sprachminderheit, war in jeder politischen Äußerung wahrnehmbar. Ein Berliner Diplomat hielt fest: „Im allgemeinen macht sich bei den Sachsen eine ziemlich optimistische Auffassung über das zukünftige Geschick ihres Volkes geltend. In nationaler Hinsicht erhofft man infolge der kulturellen Überlegenheit der Sachsen eine große Entfaltung des deutschen Einflusses, die durch den starken Antagonismus zwischen Rumänen und Magyaren in der günstigsten Weise gefördert werden würde.“ (Generalkonsulat Budapest 24.12.1918) In den sächsischen Gremien wurde während des Dezember eifrig an einem Forderungskatalog gearbeitet, der der rumänischen Seite übergeben werden sollte und den man eigentlich vor der eigenen, verbindlichen Anschlusserklärung so weit wie möglich bestätigt, rechtlich belastbar zugesichert haben wollte. Dazu gehörte als erster und wichtigster Punkt das Selbstverwaltungsgebiet, dann folgten Fragen der Kirchenautonomie, des Nationalvermögens, des Fürsorge- und des Schulwesens, der sächsischen Offiziere, einer deutschen Universität und manches mehr. Diese Forderungen, ein hundertseitiges Memorandum, wurden der in Hermannstadt neu eingerichteten Übergangsregierung, dem Rumänischen Regierungsrat für Siebenbürgen, übergeben – und zwar fast zeitgleich mit der Einladung zur Abhaltung einer sächsischen Nationalversammlung, also um die Jahreswende 1918/19. Die Ereignisse überstürzten sich nämlich ab Mitte Dezember: Die Mitglieder des Regierungsrates waren als Minister ins Bukarester Kabinett aufgenommen worden, König Ferdinand von Rumänien bestätigte die Karlsburger Beschlüsse durch ein Vereinigungsdekret und das rumänische Militär besetzte immer größere Teile Siebenbürgens. Die Sachsen wollten also nicht zu spät kommen, denn nur wenn die rumänische Delegation bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen mit der sächsischen Zustimmung als Ass im Ärmel punkten konnte, waren die Hoffnungen der Sachsen auf rumänische Gegenleistung berechtigt.

Mediascher Anschlusserklärung der Siebenbürger Sachsen

Als Nationalversammlung wurde der erweiterte Zentralausschuss definiert, also die Vertreter aus den bisherigen Wahlkreisen zum Reichstag, sowie der Deutsch-sächsische Nationalrat, eine Art Interimsleitung seit November – alles in allem 138 stimmberechtigte männliche Mitglieder. Sie fanden sich am 8. Januar 1919, einem Mittwoch, hier in Mediasch ein. Acht Stunden dauerte die teils leidenschaftlich geführte Debatte. Es gab durchaus Kritik und Skepsis, weil es im Vorfeld nicht gelungen war, verbindliche Zusicherungen der rumänischen Seite für die sächsischen Hauptanliegen zu erreichen. Die Trennung von Ungarn stand außer Frage, schließlich hatte der Nationalrat mit dem Aufruf von Ende November, den Einberufungsbefehlen zur ungarischen Armee keinesfalls Folge zu leisten, auch öffentlich den Bruch mit dem bisherigen Staat vollzogen. Allerdings hatten nicht wenige Teilnehmer der Nationalversammlung ein mulmiges Gefühl dabei, ohne echte Rechtsgrundlage eine Entscheidung zu fällen. Denn die Sachsen waren, etwas anders als in ihrer von Theologen geprägten Geschichtsschreibung oft suggeriert, die Sachsen waren in erster Linie ausgezeichnete Juristen und Ökonomen. Doch die Macht der Verhältnisse und die immer wieder ausgesprochene Hoffnung auf gute Entwicklungschancen gaben die einzig mögliche Lösung vor: „So erwächst gerade für uns Sachsen eine neue, freudige Aufgabe. Entscheidend (ist), daß wir (unser) Kraftreservoir verteidigen; das können wir nur durch den Anschluss“ – so der Aufruf des wahrscheinlich jüngsten Mitglieds gegen Schluss der Versammlung, des Nationalratssekretärs Hans Otto Roth. Die Entscheidung fiel einstimmig und wurde noch am gleichen Tag unter der Überschrift „An unser Volk!“ an die Zeitungen gegeben und als Flugblatt in Umlauf gebracht.
Wir alle kennen den Text der Anschlusserklärung und konnten ihn in den vergangenen Monaten an verschiedenen Stellen von Neuem lesen oder hören. Wir können uns daher hier auf wenige Passagen beschränken und vor allem einige Inhalte hervorheben. Die sächsische Nationalversammlung trat wie ein Souverän auf, sie vertrat „ihr Volk“ – niemand anderer hätte für die Sachsen sprechen können. Das entsprach durchaus auch der zeitgenössischen Wahrnehmung durch die Siebenbürger Rumänen, und auch sie sprachen in der Karlsburger Erklärung von popoare, von „Völkern“, nicht von Nationalitäten oder gar Minderheiten. Die Sachsen entschieden ausdrücklich selbst den Anschluss an das Königreich Rumänien, niemand bestimmte über sie. Sie grüßten das rumänische Volk brüderlich, begrüßten mithin das bei ihnen einziehende Königreich – so wie die einziehenden rumänischen Truppen in den einzelnen Städten feierlich begrüßt wurden. „Das sächsische Volk Siebenbürgens trägt damit nicht nur der weltgeschichtlichen Entwicklung Rechnung, sondern auch dem innern Rechte des rumänischen Volkes auf Vereinigung und Staatenbildung und spricht die zuversichtliche Erwartung aus, daß sich das rumänische Volk und der rumänische Staat, dem das sächsische Volk seine altererbte Tüchtigkeit zur Verfügung stellt, ihm gegenüber immer durch vornehme und gerechte Gesinnung leiten lassen wird.“ (aus der Anschlusserklärung)
Dies war nun das Vertragsangebot, das die sächsischen Vertreter dem größer werdenden Königreich Rumänien unterbreiteten, die ausgestreckte Hand zu einem neuen Verhältnis. Die Rechtsgrundlage für ihre Entscheidung bildeten ausdrücklich die Karlsburger Beschlüsse. Nun wurden die Sachsen erst einmal gefeiert, nachdem sie die Mediascher Entschließung zunächst dem Regierungsrat in Hermannstadt und dann Ende Januar in Bukarest König und Regierung übergaben. Auch hier sicherte man ihnen vieles zu, der König selbst wollte ihren Besitzstand in Kultur und Wirtschaft „mit aller Kraft fördern“. Vor allem aber nutzte die sächsische Anschlusserklärung zunächst der rumänischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris, die damit die Rechtmäßigkeit ihres Anspruchs auf Siebenbürgen und implizite Transsilvanien (nach neuem Verständnis) belegen konnte. Diese Eindeutigkeit der Entscheidung zweier „Völker“ und die überaus rasche Umsetzung des Anschlusses mag im Übrigen auch mit dazu beigetragen haben, dass es in Siebenbürgen friedlich blieb und die bürgerkriegsähnlichen Zustände, mit denen die meisten gerechnet hatten, nicht eintraten. Ja, die wehrfähigen sächsischen Männer trugen ihren Teil unmittelbar dazu bei, als sie sich umgehend für die rumänische Armee rekrutieren ließen und etwa an der Niederschlagung der kommunistischen Räteregierung in Budapest 1919 beteiligt waren.

Ernüchterung und harte Landung

So überschwänglich der Empfang für die sächsische Delegation in Bukarest mit Empfängen, einer Hoftafel, einem Bankett und sonstigen Ehren auch war, so hart sollten die Sachsen in den kommenden Monaten landen. Es stand nun nämlich an, all die in das Memorandum gepackten Hoffnungen auf eine zukunftsfrohe Existenz in Rumänien auszuverhandeln. Und da stellte sich allmählich heraus, dass die Siebenbürger Rumänen selbst schon recht bald machtlos waren, durch die neue Hauptstadt der Möglichkeiten beraubt, ihre fraglos aufrichtigen Zusagen einzulösen. „Ein Jahrzehnt der Angst, der Ernüchterung und der Erfahrungen“ sollte einer der Wortführer der Siebenbürger Rumänen im Rückblick die nun folgenden Jahre umschreiben (Alexandru Vaida-Voevod 1928). So schwer es auch war, die Mediascher Anschlusserklärung in der breiten Masse des sächsischen Volkes verständlich zu machen, so standen jene, die die Anschlussentscheidung gefällt hatten, doch auf Dauer treu zu ihrer Position und künftig loyal zum neuen Staat. Auch wenn dieser es ihnen nicht leicht machte und die Zusagen der Karlsburger Beschlüsse lange gar nicht, dann aber spät, wohl zu spät und vor allem unter falschem ideologischen Vorzeichen einlöste.

Positive Bilanz: Siebenbürger Sachsen als Mitbegründer des rumänischen Staates

Für die sächsische Geschichte aber war dieser Wendepunkt hier in Mediasch abermals ein wundersamer Glücksfall. Uneinigkeit, eine ausbleibende oder gar eine falsche Entscheidung hätte diese an Zahl kleine Gruppe im neuen Machtgefüge zerreißen, völlig aufreiben können, ihre gemeinschaftliche Fortexistenz in Frage stellen können. So aber gab es einen Aufschwung – trotz etlicher Rückschläge und markanter Verluste und trotz vieler unerfüllter Hoffnungen. Es gab einen Aufschwung, weil sie als Helfer im richtigen Moment vom neuen Zentrum künftig nicht ganz ignoriert werden konnten, weil sie dadurch auf Dauer im moralischen Vorteil waren, aber auch weil sie eine deutlich eigenständigere kulturelle Position als im dualistischen Ungarn erringen konnten, weil die Hoffnung auf die Erfüllung früherer Zusagen zugleich Antrieb für eine konstruktive Politik war, weil sie so zu politischen Sprechern einer deutlich größer gewordenen Sprachgruppe werden konnten. Und weil sie – nun unversehens im Zentrum Großrumäniens – die neuen wirtschaftlichen Herausforderungen ausgesprochen geschickt zu nutzen verstanden. Eigentlich eine Erfolgsgeschichte, die leider meist in den Schatten der Verbitterung über nicht erfüllte Hoffnungen und vor allem in den Schatten späterer, wahrhaftig finsterer Epochen gerät, eine Erfolgsgeschichte, die hier vor bald hundert Jahren begann. Es gibt noch einen wichtigen Aspekt der Mediascher Anschlusserklärung, der bis heute nachwirkt – oder jedenfalls bis heute nachwirken kann, wenn er bewusst ist und genutzt wird. Durch den Beschluss vom 8. Januar 1919 wurden die Sachsen und mit ihnen die Deutschen Rumäniens zu Mitbegründern des vergrößerten Rumänien, sie sind ein konstitutives Element dieses Landes und eben nicht Eingeladene wie sie es vordem waren. Sie sind ein Teil der gewachsenen, ererbten Vielfalt und damit des Reichtums dieses Landes. Dieses immer wieder bewusst zu machen, der deutschen wie der rumänischen Seite gleichermaßen, und an den fortschrittlichen Geist der Karlsburger Beschlüsse sowie an deren Versprechen zu erinnern, gibt es im Gedenkjahr 2018/19 wiederholt Anlass. Mögen zumindest Teile jener Hoffnungen, die die Mediascher Versammlung geleitet haben, auch heute Antrieb sein und in ein weiteres Jahrhundert weisen.

Harald Roth

Schlagwörter: Harald Roth, Festvortrag, Sachsentreffen, Mediasch, Rumänien, deutsche Minderheit, Siebenbürger Sachsen

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