17. Oktober 2009

Editorische Glanzleistung: Anthologie deutschsprachiger Judendichtung der Bukowina

Im Verlag des Münchner Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) ist vor wenigen Wochen ein Buch erschienen, das den Anspruch erheben darf, als wichtiger Akt literaturhistorischer Quellensicherung und als editorische Glanzleistung wahrgenommen zu wer­den. Es handelt sich um eine Sammlung von rund 400 deutschen Gedichten jüdischer Autoren aus der Bukowina, die der Lyriker Alfred Margul-Sperber im Laufe von Jahrzehnten zusammengetragen hatte, und die nun aus seinem in Bukarest befindlichen Nachlass herausgegeben wurde.
Offenbar hatte Margul-Sperber, „Spiritus rec­tor, Integrationsfigur und unermüdlicher Förde­rer“ der deutschsprachigen Literatur der Buko­wina, wie er im „Editorischen Bericht“ zu der Münchner Ausgabe genannt wird, sich seit An­fang der 1930er Jahre mit dem Gedanken getragen, eine repräsentative Anthologie buchenländischer deutsch-jüdischer Lyrik herauszugeben. Jedenfalls datieren die ersten im Bukarester „Nationalmuseum der rumänischen Litera­tur“ erhaltenen Briefe, in denen das Projekt Gestalt annimmt, aus dem Jahre 1932. Mit der Auffor­derung um Gedichtproben schreibt Sperber, der 1927, nach dem Tod seiner Mutter deren biblischen Vornamen Margula (Margarete) in der abgewandelten Form „Margul“ seinem Nachna­men hinzugefügt hatte, alle ihm erreichbaren Bukowiner Autoren um Textproben für seine Sammlung an, die schließlich Gedichte von 32 Beiträgern umfasst, unter ihnen so be­deutende wie Rose Ausländer oder Moses Rosenkranz. Doch die Drucklegung wird durch die Machter­greifung der Nationalsozialisten in Deutsch­land erschwert, bis sie schließlich ganz unmöglich gemacht wird, als nämlich Goebbels 1938 die Schließung auch der letzten jüdischen Verlage im Reich anordnet. Nach dem Krieg nimmt Sper­ber in Bukarest die Arbeit an der Sammlung wieder auf, fügt neuere Texte bereits vorhandener Beiträger hinzu, auch Gedichte von zwei weiteren Autoren, darunter des von ihm besonders geförderten Paul Antschel, d. i. Paul Celan, einer der bedeutendsten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts, von dem in die Anthologie 17 seiner frühen Gedichte aufgenommen wurden. Doch es verhindert in den Nach­kriegsjahren die nächste Diktatur, die kommunistische, ihre Drucklegung erneut, und das gesamte Material landet nach Sperbers Tod 1967 in dessen Nach­lass, der heute aufgrund einer testamentarischen Verfügung des Dichters im genannten Literaturmuseum aufbewahrt wird.

Der Bukarester Germanist George Guțu, der sich seit Jahren um die Sichtung und Auswer­tung von Sperbers literarischer Hinterlassen­schaft verdient macht, sowie der Literaturwissen­schaftler Peter Motzan, dessen Untersuchungen zur Dichtung der Bukowina zu den Standard­texten der einschlägigen Fachliteratur gehören, haben nun im Verein mit Stefan Sienerth, dem Direktor des Münchner Instituts, die Druckle­gung der Anthologie unter dem noch von Sper­ber gewählten Titel „Die Buche“ besorgt. Er­gänzt wird die Sammlung von drei aufschlussreichen Wortmeldungen Sperbers zur Literatur des Buchenlands: dem 1928 erschienenen Auf­satz „Der unsichtbare Chor“, den Sperber mit „Entwurf eines Grundrisses des deutschen Schrifttums in der Bukowina“ untertitelte und im Czernowitzer Morgenblatt veröffentlichte, dazu von einem „Deutschen Brief aus der Bukowina“, der allem Anschein nach 1931 für die Berliner Zeitschrift Die Literatur abgefasst wurde, und, als Erstdruck, von dem Text eines Vortrags über die „Jüdische Dichtung in der Bukowina“, den Sperber 1936 gehalten hat. Versehen ist der Band mit einem einleitenden „Editorischen Be­richt“, einem „Biobibliografischen Anhang“ und einem umfangreichen „Nachwort“, das anhand von zahlreichen Archivalien die Entstehungsge­schichte der Antholo­gie nachzeichnet.

Beim Durchblättern der Sammlung stellt der Leser fest, dass es sich in der Hauptsache um na­turmagische Texte und Liebesgedichte handelt; wohl auf die widrigen Zeitumstände ist es zurück­zuführen, dass Sperber bei der Zusammenstel­lung der Anthologie sozialkritische oder gar poli­tisch akzentuierte Wortmeldungen ausgeklammert hat: Jüdische Dichtung war in den 1930er Jahren ab ovo mit dem Stigma der „Artfremdheit“ behaftet, um so mehr, wenn sie gesellschaftliche Schieflagen oder Spannungen thematisierte. Jenseits dessen aber zeugen die Texte von der außergewöhnlichen poetischen Potenz und dem eindrucksvollen Reichtum, die dem Geistesleben des buchenländischen Judentums vor allem in der Zwischenkriegszeit eigen waren.

Für die editorische Bedeutung der Münchner Ausgabe spricht allein schon der Umstand, dass von den annähernd 400 erfassten Gedichten über 100, also mehr als ein Viertel, hier überhaupt zum ersten Mal im Druck erscheinen. Darüber hinaus ist der von Peter Motzan gelieferte biobibliografische Apparat eine Glanzleistung. In aufwendigen Recherchen hat der Wissenschaft­ler die Lebensläufe der teilweise wenig bekannten Beiträger soweit möglich rekonstruiert (bloß bei zwei Autoren waren die biografischen Daten nicht zu ermitteln), hat Werkverzeichnisse er­stellt, die sich in den meisten Fällen der Vollstän­digkeit rühmen dürfen, ist Gedicht für Gedicht den möglicherweise vorhandenen Druckvarian­ten samt deren Datie­rung nachgegangen und hat sie akribisch aufgeführt. Praktisch gibt es in dieser Anthologie kaum einen Text, der nicht stichhaltig mit bibliografischen Hinweisen und Ergänzungen „abgesichert“ wäre.

Für den Fachmann verleiht das dem Band außerordentlichen Wert. Daneben aber findet auch der gewöhnliche Freund guter Lyrik darin Texte von eigener Schönheit wie etwa die letzten Zeilen in Rose Ausländers bislang ungedrucktem Gedicht „Mondnacht“, wo es heißt: „Wir wachen auf vom Schlaf verschlossner Tage / und alle Dinge scheinen so verschieden. / Der Mond steigt nieder, wie in einer Sage, / und trägt die volle Last der Erdenklage / hinauf in seinen grenzenlosen Frieden.“

Hannes Schuster



„Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina.“ Zusam­mengestellt von Alfred Margul-Sperber. Aus dem Nachlass herausgegeben von George Guțu, Peter Motzan und Stefan Sienerth. IKGS Verlag, München 2009, 470 Seiten, ISBN 978-3-9809851-4-8 und 978-89086-516-4, 28,50 €.

Schlagwörter: Rezension, Lyrik, Bukowina

Bewerten:

18 Bewertungen: ++

Neueste Kommentare

  • 17.10.2009, 22:18 Uhr von pedimed: Die in der K.u.K.-Zeit übliche Literatur der Bukowina war gebietstragend. Dass der Österreichische ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.