7. Dezember 2019

„Auf dem Weg zum finis saxoniae?“ Siebenbürgische Geschichte(n) in einem sehenswerten Film von Manuel Stübecke

Noch ein Film über Siebenbürgen? Geschichten, nicht Geschichte? Ehe Sie, geneigte Leserin und geneigter Leser, diesen Beitrag überspringen wollen, weil Sie sich vielleicht medial überflutet fühlen, möchte ich Sie einladen, sich mit mir auf Manuel Stübeckes Erstlingswerk, den Film über „Erinnerungen und Entwicklungen in Siebenbürgen“ einzulassen – und ich verspreche Ihnen ein besonderes intellektuelles und emotionales Erlebnis. Stübecke, der als Pressereferent der Evangelischen Akademie Siebenbürgens unsere Heimat und ihre Bewohner kennen und schätzen gelernt hat, befragte im Rahmen seines Bachelor- und Masterstudiums zahlreiche Zeitzeugen, die ihm in Interviews ihre ganz persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen mitgeteilt haben.
Es kommen sechs bekannte Siebenbürger Sachsen aus der älteren Erlebnisgeneration zu Wort: der Historiker Paul Philippi, Altbischof Christoph Klein, das Pfarrerehepaar Inge und Heinz Galter, der Pfarrer und Humorist Walter Gottfried Seidner und der Schriftsteller Frieder Schuller.

In der frühen Jugend des ältesten, Paul Philippi, gingen unter den Siebenbürger Sachsen (mal wieder?) Untergangszenarien um, für die Karl Kurt Klein den Begriff „Finis saxoniae“ prägte. Er versah ihn mit einem Fragezeichen und gab die aus seiner Sicht einzig mögliche Antwort „Nein!“ Manuel Stübecke versucht nun mit seinen Gesprächspartnern der Frage nachzugehen, ob wir Sachsen in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich den Weg zu unserem Ende eingeschlagen haben. Der Film lässt die Zeit von etwa 1925 bis 1990 in chronologisch zusammengeschnittenen Erinnerungsfragmenten Revue passieren. In der Wortwahl unaufdringlich und mit leisen Tönen, aber vielfach in starken Bildern und Metaphern fügen die Befragten geschichtliche Fakten und ganz persönliche Erinnerungen zu einem lebendigen Puzzle sächsischer Geschichte im 20. Jahrhundert.
Es geht unter die Haut, wenn Paul Philippi ohne Schnörkel erzählt, wie nationalsozialistisches Gedankengut die sächsische Gesellschaft stetig vergiftete, und wenn Frieder Schuller den zähen Widerstand seines Vaters als Katzendorfer Pfarrer gegen Wilhelm Staedel und die Vereinnahmung der Schulen durch die Volkgruppe evoziert. Es fällt schwer, die Fassung zu behalten, wenn Walter Seidner („Voltaire“), stets mit Schalk in den Augenwinkeln, von Alojoscha erzählt, dem 1944 einquartierten Russen, der jeden Abend die vier Pfarrerskinder zeichnete und sich dabei in Sehnsucht nach seinem eigenen Nachwuchs verzehrte. „Pasărea mălai visează“ – Der Vogel träumt vom Maismehl – mit diesem Zitat quittiert Pfarrer Seidner ein skurriles Missverständnis: Zwei Frauen des Dorfes beobachten ihn, als er die alljährliche Schriftprobe seiner Schreibmaschine bei der Polizei abliefert und unterstellen ihm, eine Liste jener Familien angefertigt zu haben, deren Ausreise er verhindern wolle…

Zutiefst erschüttert lauscht man Pfarrer Heinz Galter, der seine Erlebnissen aus der Zeit der Deportation in die Sowjetunion schildert; soll man lachen oder heulen, wenn er berichtet, dass er auf der Rückfahrt nach Hause nicht mehr hungern wollte und sich mit einem Topf Fett und darin eingelegten Wurststücken versorgte, was den Neid der Menschen auf der Durchfahrt und zu Hause auf sich zog: „Ein Russlandheimkehrer, der mehr zu essen hatte, als sie selber …“

Christoph Klein und Paul Philippi umreißen schließlich die Entwicklung der Kirche angesichts des schrittweisen Aderlasses durch den „Ausverkauf“ der Sachsen. Begleitet werden die Interviews durch Einschübe von Daten, Fakten und Zeitdokumenten, nicht zuletzt auch von einer Art Fieberkurven der Auswanderung, zweigeteilt, mit jährlichen Zahlen für die Zeit vor und nach 1990, die das Ausmaß der äußeren Veränderungen eindringlich widerspiegeln. Walter Seidner aber fasst die emotionale Seite dieses Prozesses in Worte: „Im 90er sind mir 700 Seelen fortgestrebt, 700 Seelen habe ich abschreiben müssen, 700 aus dem Herzen herausgezogen.“ Und heute, dreißig Jahre später? Heinz Galter: „Auch bei uns in Kaufbeuren treffen wir uns, verbringen einen Nachmittag mit Grillen, mit Bier, mit Gemeinschaft. Es geht um den Zusammenhalt… Wieso ist das so? Na ja, das ist halt so, und fertig!“
Der Film endet mit einem eingeblendeten Zitat: „Es geht in diesen schicksalhaften Tagen um das Heute und Morgen, um das Leben oder Sterben. Und wir wollen leben. Darum fordere ich Euch auf, den Blick von dem Vergangenen abzuwenden und von heute an nur noch an die Gegenwart und die allernächste Zukunft zu denken.“ Hätten Sie es erraten? Es stammt von Hans Otto Roth, geschrieben sieben Tage nach dem Sturz des Diktators Antonescu im Jahre 1944. Finis saxoniae? Mit „Ende … kein Ende…“ klingt dieser erste von zwei geplanten Interviewfilmen in einer Art Schwebe aus. Man darf auf die Fortsetzung gespannt sein.

Und nun, geneigte Leserin, geneigter Leser, habe ich Ihre Neugierde wecken können? Ich hoffe doch! Der Film ist sofort verfügbar und eignet sich bestens als Gabe zum Weihnachtsfest. Die DVD enthält zudem Interviews weiterer Zeitzeugen und ein Booklet mit dem Titel „Auf dem Weg zum finis saxoniae?”. Der Preis beträgt 25,00 Euro (zuzüglich 2 Euro Versandkostenpauschale pro Stück in Deutschland; Ausland evtl. höher), zu bestellen direkt beim Filmemacher Manuel Stübecke, E-Mail: mail [ät] geschichtsdramaturgie.de, Telefon in Deutschland: (02845) 3799840 (Anrufbeantworter – bitte genaue Anschrift und Telefonnummer angeben).

Hansotto Drotloff

Schlagwörter: DVD, Film, Siebenbürgen, Paul Philippi, Siebenbürgen, Geschichte

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  • 01.01.2020, 16:55 Uhr von Äschilos: K.K.Klein hatte die Gretchenfrage gestellt. Sie bleibt offen ! [weiter]

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