22. November 2019

Tübingen im Spiegel des schriftstellerischen Bewusstseins der Exil-P.E.N.-Autoren

Die Schriftstellervereinigung des Exil-P.E.N., Sektion deutschsprachiger Länder, war schon früher da: in Tübingen, der Stadt Hölderlins, Stadt der Gelehrsamkeit, Mittelpunkt des schwäbischen Kulturprotestantismus, wo auch Uhland, Schelling, Hegel und Mörike lebten. Die aus verschiedenen Ländern Europas stammenden Autoren versammelten sich vom 25.-27. Oktober dort, obwohl der 250. Geburtstag von Hölderlin erst 2020 gefeiert wird.
Ausgangs- und Mittelpunkt der Tagung waren die Beiträge der Schriftsteller zum Thema „Schreiben im inneren Exil“. Präsident Professor Dr. Wolfgang Schlott eröffnete die Begrüßung der Teilnehmer mit den Versen: „Mit gelben Birnen hänget/ Und voll mit wilden Rosen/ Das Land in den See …“. Vizepräsidentin Ilse Hehn rezitierte Zeilen aus Hölderlins Gedicht „An die Parzen“, das wir noch aus unserem Deutschunterricht kannten. Schlott verwies in seinem Vortrag über die Diätetik des Leibes und der Seele bei Friedrich Hölderlin auf letzte Forschungsergebnisse, die den Wahnsinn des Dichters negieren, indem sie behaupten, dass er nur „eine Flucht nach innen“ angetreten hatte, „nach außen hin wütete er oft, schrie und zerstörte sein Klavier“. Die gescheiterten Ideen der Französischen Revolution lösten wohl „die schöpferische Krise Hölderlins bei der Einlösung seiner großen schriftstellerischen Ziele aus, eine psychische Krise“, so Schlott. Erst 2006 hat Christian Oestersandfort festgestellt, dass die Herstellung der so genannten „Turmgedichte“ Hölderlins „für den Autor selbst eine gleichsam diätetische Funktion, den Status von Überlebenshilfe und Selbsttherapie hatte“. Eine Flucht ins innere Exil: Seine listigen Kommunikationsformen (Schreiben mit Pseudonym Scardanelli usw.) waren eher zeittypisch, als dass sie dem Wahnsinn des Dichters zuzuschreiben seien. Seine Gedichte waren ein Heilmittel für ihn, ein Rückzug. Sie lassen aber Fragen offen, nach Wolfgang Schlott: Was sind nun die Grundzüge einer diätetischen Poetik? Die Diskussionsforen zum Thema des „inneren Exils“ der Schriftsteller waren eröffnet.
Gruppenbild der Teilnehmer der Exil-P.E.N.-Tagung ...
Gruppenbild der Teilnehmer der Exil-P.E.N.-Tagung in Tübingen 2019. Foto: Erwin Țigla
Nach einem Stadtrundgang entlang des Neckars zum Hölderlinturm und der Stiftskirche setzte sich die Tagung fort mit einer Lesung der aus Polen stammenden Dichterin Malgorzata Ploszewska, Mitglied der Internationalen Lyrikergruppe „QuadArt“, aus ihrer Geschichte „Das Brot“. Die aus Temeswar stammende Autorin Katharina Sigrid Eismann, die von Ilse Hehn als „Beschreiberin der Realität in surrealistischen Bildern“ eines „Irrsinnes des Alltags“ vorgestellt wurde, las Gedichte. Sie habe in ihrem lyrischen Zyklus „Paprikaraumschiff“ im Gedichtband „Reise durch die Heimat – von Offenbach nach Temeswar“ (2017), aber auch im neuen Buch „Paprika-Raumschiff“ (Verlag danube books) den Horizont einer umgedrehten Welt aufgedeckt. Tamara Labas, Autorin aus Kroatien, die „Poesie in Nuancen“ betreibe, schreibe keine reinen Naturgedichte, sondern füge der Feinfühligkeit ihrer Naturlyrik auch eine erotische Note bei. Sie las aus ihrem Band „Zwölf“ (Größenwahn Verlag).

Der Nachmittag war der Prosa gewidmet: Moderatorin Katharina Kilzer stellte Dagmar Dusil vor, die zum ersten Mal beim Exil-P.E.N. aus ihren Büchern las. Dusil, die im September den Literaturpreis 2019 in der Sparte Prosa der Künstlergilde Esslingen erhalten hat, las aus ihrem Buch „Auf leisen Sohlen. Annäherungen an Katzendorf“ (POP-Verlag) ihre Beobachtungen als Dorfschreiberin in Katzendorf 2018 im siebenbürgischen Schriftstellerhaus, von dem Filmemacher und Schriftsteller Frieder Schuller initiiert. Horst Samson stellte seinen neuen Band „Das Meer im Rausch“ (POP-Verlag) mit einfühlsam grundierten Gedichten in vielen existentiellen Aspekten vor. Balthasar Waitz, der frisch gekürte Preisträger des Donauschwäbischen Kulturpreises 2019, erheiterte das Publikum mit Erzählungen aus Birda und Wolfsberg, erschienen in dem kleinen Bändchen „Wolfsberg. Geschichten aus dem Banater Bergland“ (Verlag „Banatul Montan“). Samuel Beer las Kindheitserinnerungen aus Neppendorf und Johann Schuth, Vorsitzender des Vereins der Ungarndeutschen, stellte die Tätigkeit seines Vereins vor.

Moderator Horst Samson präsentierte am Sonntag Iris Wolff mit einem Essay „Lesen und warum ich Bücher liebe“. „Bücher bewahren die Zeit auf“, so Iris Wolff in ihrem Vortrag über Bücher, ihre Leser und über Bibliotheken mit Anregungen und Buchempfehlungen in einprägsamer Sprache, ein Text, den sie bereits in Graz vorgetragen hatte. Eva Filip begeisterte mit Textausschnitten aus ihrem Roman „Nichtschweigen. Im rumänischen Gulag“ (KLAK Verlag), der 2018 erschienenen ist und einen authentischen Fall vom Leben in den Gefängnissen der rumänischen Arbeitslager in den 1950er Jahren schildert. Der unter den Mitgliedern weilende Hans Bergel erfuhr aus einer Passage Erlebnisse seines inhaftierten Bruders, des Musikers Erich Bergel. Wolfgang Schlott ehrte anschließend die Mitglieder Herbert Somplatzky (Bundesverdienstkreuz) und den aus Reschitza angereisten Erwin Țigla für deren Auszeichnungen. Tübingen war literarisch und gesellschaftspolitisch ein sehr guter Auftritt des Exil-P.E.N. deutschsprachige Länder. Der Präsident schlug vor, einen Aufruf gegen Antisemitismus zu veröffentlichen, der auf der Facebook-Seite sowie der Webseite des Vereins https://www.exil-pen.de/exil-pen-zentrum nachzulesen ist. Die Versammlung endete mit der Aufnahme von fünf neuen Mitgliedern und dem Versprechen des Wiedersehens in Berlin 2020, dem Paul-Celan-Jahr anlässlich des 100. Geburtstags des in der Bukowina geborenen Dichters.

Katharina Kilzer

Schlagwörter: Schriftsteller, Tagung, Exil-P.E.N., Tübingen, Lyrik, Literatur

Bewerten:

81 Bewertungen: ––

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.