9. November 2019

Erinnerung an 1989

Dem Mauerfall in Deutschland vor 30 Jahren gingen bewegte Wochen voraus – und auch danach blieb es spannend. Roland Barwinsky, 1963 in Sachsen-Anhalt geboren, erinnert sich an den Mauerfall und das Jahr 1989, in dem er zum wiederholten Mal eine Reise nach Siebenbürgen unternahm.
Die Erinnerungskultur in Deutschland hat Glück. Der 30. Jahrestag des überraschenden Mauerfalls fällt auf einen Samstag. Und Termine an Wochenenden sind immer gut für ein weiteres Kapitel der Erinnerungskultur. Ich habe am 9. November 1989 die bewegendste Nacht der jüngeren deutschen Geschichte verschlafen, weil es in unserem Haushalt keinen Fernseher sowie Telefon gab und deshalb die bahnbrechende Pressekonferenz eines holprig wirkenden SED-Funktionärs an uns vorüberzog. Umso mehr staunte ich am anderen Morgen, einem nebligen Freitag. Im Radio schwelgten euphorisch wirkende Bürger aus der „Ohne-Bananen-Republik“ in Erinnerungen. Sie berichteten von nächtlichen Besuchen auf dem Ku‘damm in West-Berlin. Sätze wie „Die Mauer ist weg“ oder „Die Grenzen sind offen“ fielen immer wieder.
Bibliothek: Roland Barwinskys Arbeitsplatz im ...
Bibliothek: Roland Barwinskys Arbeitsplatz im Jahr 1989
Wie gewohnt, brachte mich der Frühbus in eine Zentralbibliothek, meine damalige Arbeitsstelle. Die befand sich in einem kleinen ostthüringischen Ort. Vorbei ging es an dem Volkspolizei-Kreisamt der vogtländischen Stadt, wo ich damals wohnte. Riesige Menschenschlangen bildeten sich davor. Alle wollten den begehrten Ausreise-Stempel, alle wollten in den Westen. Ich nicht. Jedenfalls nicht sofort. Das gefühlte Chaos an den Grenzen schien mir zu groß zu sein. Ende November gelang zusammen mit meiner damaligen Freundin doch noch der Seitenwechsel. Und zwar über die berühmte Glienicker Brücke zwischen Potsdam und West-Berlin, wo einst hochkarätige Spione zwischen Ost und West ausgetauscht wurden. Zubringer lotsten uns in das Zentrum der wohl schillerndsten Stadt des Kalten Krieges. Von dort ging es flugs nach Kreuzberg. Dass dieser Stadtbezirk ein ganz besonderes Refugium war, wussten wir. Bunte Aussteiger, schräge Hausbesetzer, schrille Typen überall, eben das ganze Kontrastprogramm live! Das musste begutachtet werden! Mein Begrüßungsgeld reichte für einige heiß ersehnte Scheiben von „Ton Steine Scherben“, der irren Band um Rio Reiser, die jahrelang den musikalischen Soundtrack für unvergessene Kreuzberger Szenenächte lieferte. Der Heimweg war müßig. Von Ost-Berlin bis tief hinein in den Süden des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden – so etwas dauerte.
Urkunde: Im September 1989 begann der Autor eine ...
Urkunde: Im September 1989 begann der Autor eine Ausbildung zum Bibliotheksfacharbeiter. Wenige Wochen später fiel die Mauer und am vorletzten Tag der DDR gab es den Facharbeiterbrief. Diese Ausbildung wurde übrigens im wiedervereinigten Deutschland anerkannt.
Der Realsozialismus erreichte seine Zielgerade. Der anarchisch ablaufende Mauerfall beschleunigte den Abgesang. Dabei fing das Jahr 1989 recht ruhig an. Die Silvesternacht feierten wir in Liebling, einem Dorf in Westrumänien. Banater Schwaben luden die aus dem Nichts gekommenen Abenteurer spontan ein. Erstmals hielt ich in dieser Nacht einen bundesdeutschen Reisepass in der Hand. Der Besitzer des Dokuments – ein sich auf Heimatbesuch befindlicher Spätaussiedler – scherzte laut und verlangte sofort die deutsche Einheit. Damit wir uns fortan nicht mehr hier unten treffen müssten. Klar, ernst nahm diese Worte niemand.
Mit diesen Ausweisen trampte der Autor jahrelang ...
Mit diesen Ausweisen trampte der Autor jahrelang durch Osteuropa und verliebte sich dabei in Siebenbürgen. Repros: Autor
Zugespitzt hatte sich die Lage zwischen Ostsee und Erzgebirge nach der Kommunalwahl Anfang Mai. Dieses „Zettelfalten“ galt zuvor als ungeliebte Pflicht. Aber dieses Mal konnte die ostdeutsche Opposition den Wahlbetrug nachweisen. Parallel dazu kündigte die ungarische Regierung den Abbau der Grenzanlagen zu Österreich an. Umgehend ging ich zur Polizei, um ein Visum für Bulgarien zu beantragen. Unruhe lag in der Luft. Was bringt die nahe Zukunft?
Dieses Foto entstand zu Pfingsten 1989 im ...
Dieses Foto entstand zu Pfingsten 1989 im siebenbürgischen Großau. Dass ein halbes Jahr später die Mauer fiel, wusste damals niemand. Ein geplanter Weihnachtsausflug nach Rumänien musste vom Autor aufgrund der blutigen Ereignisse in diesem Land kurzfristig abgesagt werden.
Anfang August begann meine letzte Tour durch den sich gerade auflösenden Ostblock. Fluchtwillige DDR-Bürger suchten bereits verstärkt die bundesdeutsche Botschaft in Budapest auf. Eine befreundete deutsche Familie in Siebenbürgen erzählte auf der Durchreise von dem Paneuropäischen Picknick an der ungarischen Grenze, von wo aus Hunderte Ostdeutsche ungehindert nach Österreich liefen. Sie hatten heimlich Radio Free Europe gehört. Auf der Heimreise sprach uns in Budapest ein Taxifahrer an, ob wir uns nicht zu den DDR-Bürgern in den Flüchtlingslagern gesellen wollten. „Alle von dort fahren bald in den Westen“, sagte der Mann. Erstaunlich, erstmals gab es in diesem Spätsommer ausreichend Platzkarten für den Zug nach Dresden. Früher war das in der Hochsaison kurzfristig völlig undenkbar gewesen.

Zu Hause bereitete sich die Arbeiter- und Bauernrepublik fieberhaft auf ihren 40. Jahrestag vor. Dabei litt das ganze Land längst an einer „schweren Grippe“. Montagsdemos in Leipzig gewannen an Zulauf und Ausreisewillige fanden ein neues Schlupfloch – das Palais Lobkowitz in Prag. Alle kennen die bewegenden Bilder und den Auftritt des damaligen Außenministers Genscher in der Botschaft. Züge fuhren wenig später bis nach Hof, über DDR-Gebiet, eine logistische Fehlleistung der ostdeutschen Noch-Machthaber in Reinkultur. Jetzt explodierte das Pulverfass. In Dresden, in Reichenbach und anderswo. Am 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, hielt ich mich in Leipzig auf. Von dieser Stadt aus schaffte es eine Ausreisewillige zuvor legal nach drüben. Von ihr bekamen wir rechtzeitig den passenden Wohnungsschlüssel.

Leipzig geriet in Bewegung. Straßenbahnen stoppten weit vor dem Zentrum. Der 9. Oktober brachte in dieser Stadt die Entscheidung. Die Friedliche Revolution siegte. Im vogtländischen Plauen gingen am letzten Geburtstag der ostdeutschen Republik ebenfalls Tausende auf die Straßen. Eine beherzte Rentnerin schmuggelte Aufnahmen davon ins Oberfränkische. Und so erfuhr die ganze Bundesrepublik über die Frankenpost und danach in der Tagesschau davon.
Erst im August 1990 kam Roland Barwinsky wieder ...
Erst im August 1990 kam Roland Barwinsky wieder nach Siebenbürgen. In Großau, wo dieses Foto entstand, waren aber bereits alle seine Bekannten nach Deutschland ausgewandert.
Gewonnen hatten in den folgenden Wochen die Mutigen. An allen Ecken und Enden der DDR blühte eine bis dato unbekannte Demonstrationskultur auf. Ihren ersten sowie intellektuellen Höhepunkt erlebte diese am 4. November auf dem Ostberliner Alexanderplatz. Ein Generalsekretär verschwand. Retten konnte das die Macht einer sozialistischen Einheitspartei aber nicht. Nachdem die zwischenzeitlich geschlossene Grenze zur damaligen CSSR wieder geöffnet wurde, nahm der Flüchtlingsstrom erneut Fahrt auf. Ost-Berlin wirkte konfus und sorgte ungewollt für einen reizvollen Höhepunkt der deutschen Geschichte.
Silvester 1989 ...
Silvester 1989
Ich schaffte es im Dezember erstmals nach Oberfranken und kam bis nach Marktredwitz. Kurz vor Silvester stand unser Bekannter Alfred vor der Tür. Er nahm uns mit in seine Heimatstadt Hof. In einer Gaststätte unweit des Bahnhofes verlebten wir den Silvesterabend. Das neue Jahr wurde begrüßt, das genauso spannend weiterging wie das alte.

Roland Barwinsky

Schlagwörter: Jubiläum, Mauerfall, DDR, Erinnerungen, Zeitzeuge, Barwinsky

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