29. Dezember 2018

Schauerroman de luxe: „Karpathia“ von Mathias Menegoz

Der Roman „Karpathia“ von Mathias Menegoz ist ein dicker Wälzer. Auf 630 Seiten erzählt der französische Autor die Geschichte des Grafen Alexander Korvanyi und seiner Frau Cara, die nach ihrer Hochzeit aus Wien nach Siebenbürgen auf den jahrzehntelang verwaisten Stammsitz der Korvanyis inmitten der ausgedehnten gräflichen Ländereien, der Korvanya, ziehen. Als einziger männlicher Erbe ist es dem als Hauptmann dienenden Grafen, der „weder eine besondere Neigung noch sonst eine schwärmerische Begeisterung für die Laufbahn und das Leben als Soldat verspürte“, ganz recht, die Hauptstadt zu verlassen und im wahrsten Sinne des Wortes das Weite zu suchen (die Reise in die Korvanya dauert sechzehn Tage) – zumal er sich gerade erst wegen Cara mit einem Rittmeister duelliert hat und dieses Erlebnis hinter sich lassen möchte.
Die Geschichte ist allerdings gar nicht so entscheidend wie die historische Wirklichkeit, die Menegoz damit illustriert. 1833, als die Romanhandlung einsetzt, hat das Habsburgerreich eine enorme Ausdehnung erreicht und vereint Menschen unterschiedlichster Sprache, Kultur und Religion unter seiner Herrschaft. Im Fürstentum Siebenbürgen, Schauplatz des Romans, sind das Magyaren (Ungarn), Siebenbürger Sachsen (Deutsche), Walachen (Rumänen) und Zigeuner, zwischen denen vielfältige offenkundige, aber auch subtile Beziehungen bestehen, denen Graf Korvanyi erst auf die Spur kommen muss, will er sich als Großgrundbesitzer und Burgherr behaupten. In zahlreichen Szenen lässt der Autor Menegoz Gesinnungs- und Mentalitätsunterschiede zu Tage treten, beleuchtet mal aus Sicht der adligen Magyaren, mal aus Sicht der rumänischen Bauern die lokale, regionale und politische Situation, lässt den Popen genauso wie den Gutsverwalter und den umherziehenden Zigeuner zu Wort kommen und erschafft so ein sehr komplexes historisches Bild Siebenbürgens und seiner Bewohner.
Sehr deutlich betont wird der Unterschied zwischen den „germanischen“ und den „romanischen“ Ländern, an deren „alpiner Nahtstelle“ sich das „katholische Österreich“ befinde, wie Menegoz eine seiner Romanfiguren ausführen lässt. Die sechzehn Tage lange Reise als Übergang zwischen westlicher und östlicher Sphäre erinnert an Jonathan Harkers Fahrt von England in die Karpaten zu Dracula in Bram Stokers gleichnamigem Roman und schafft so eine Verbindung zum Genre des Schauerromans, dem Menegoz einige Elemente für sein Werk entnimmt. So besteht der Stammsitz der Korvanyis aus der „Weißen“ und der „Schwarzen“ Burg; letztere ist seit dem Aufstand der Walachen 1784, bei dem viele gräfliche Ahnen ums Leben gekommen sind und der noch 50 Jahre später eine „Demütigung für die verletzte Ehre“ der Familie ist, nicht mehr betreten worden und kann nur mit Mühe wieder zugänglich gemacht werden. Fast bricht der Schlüssel im Schloss ab, aber dann öffnet sich unter den Händen des jungen Grafen das Tor – und damit sinnbildlich auch die Büchse der Pandora? Die Bediensteten, die Angst vor der „Schwarzen Burg“ haben, mögen das glauben, und was noch folgt, gibt ihnen Recht …

Mathias Menegoz, 1968 als Sohn einer Donauschwäbin und eines Franzosen geboren, hat mit seinem Romandebüt „Karpathia“, dessen französische Originalausgabe 2014 für den Prix Goncourt nominiert und mit dem Prix Interallié ausgezeichnet wurde, ein schillerndes, lehrreiches und sprachlich geschliffenes Panorama erschaffen, das sich, wenn man viel Zeit und einen etwas längeren Atem hat, gut an langen, dunklen Winterabenden lesen lässt und Lust auf Beschäftigung mit der Geschichte des Habsburgerreichs im Allgemeinen und Siebenbürgens im Besonderen macht.

Doris Roth


Mathias Menegoz: „Karpathia“. Roman. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 2017, 640 Seiten, 28 Euro, ISBN 978-3-627-00238-1.

Schlagwörter: Roman, Besprechung, Siebenbürgen, Geschichte, Habsburg

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