20. November 2018

Antisemitismus und das Schweigen der Mitte: Diskussion mit Felix Klein in München

München - Zu einem Gesprächsabend über Judenfeindlichkeit und Rassismus hatte das Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde am 15. November ins Jüdische Gemeindezentrum in München eingeladen. Klare, kühle Novembernacht über dem St.-Jakobs-Platz. Seine zwölf Jahre junge monumentale, symbolstarke Architektur vermag noch den Blick des termingetriebenen Passanten zu fesseln. Zentral und selbstbewusst dominiert der Sakralbau der Ohel-Jakob-Synagoge („Zelt Jakobs“) den Platz im Herzen der Stadt, zwischen Sendlinger Tor und Viktualienmarkt. Soll bedeuten: Das Judentum ist wieder in der Mitte dieser Stadt und unserer Gesellschaft angekommen.
Zu dem Gebäudeensemble gehört neben dem am 9. November 2006 eingeweihten Gotteshaus das Jüdische Museum und das Gemeindezentrum samt Schule und Kindergarten, Rabbinat, Kultur- und Jugendzentrum, nicht zu vergessen das koschere Restaurant Einstein. Ein lebendiger, ein potenziell bedrohter Ort. Der Weg in den Saal führt durch die obligatorische Sicherheitsschleuse. „Die Situation ist außerordentlich ernst“, stellt Michel Friedman eingangs der Debatte fest.

Dr. h. c. Charlotte Knobloch begrüßt das Publikum in dem bis auf den letzten Platz gefüllten Saal. In ihren einführenden Worten beklagt die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern den wahrnehmbar wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft und gebraucht das trübtraurige Hannah-Arendt-Zitat (aus einem 1941 in New York veröffentlichten Artikel der jüdischen Philosophin): „Vor Antisemitismus aber ist man nur auf dem Monde sicher“. Auf der Bühne nahmen nebeneinander Platz der bekannte TV-Moderator, Publizist und Jurist Prof. Dr. Dr. Michel Friedman, Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Dr. Ludwig Spaenle, Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung für Jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungskultur und geschichtliches Erbe, sowie der Moderator der Gesprächsrunde, Dr. Elio Adler, Vorstandsvorsitzender des Vereins für jüdisch-deutsche Positionen, WerteInitiative e.V.

Ludwig Spaenle beklagte das „Phänomen Judenhass in seiner ganzen perversen Vielfalt“. Wir befänden uns an einer „Zeitnaht“, an der die Erinnerungskultur weiter gedacht werden müsse. Die Zeitzeugen der Shoah stünden uns kaum mehr zur Verfügung; daher gelte es, das historische und kulturelle jüdische Erbe stärker in den Blick zu nehmen, um Fehlentwicklungen gegenzusteuern.
Diskutierten engagiert im Jüdischen ...
Diskutierten engagiert im Jüdischen Gemeindezentrum in München, von links: Prof. Dr. Dr. Michel Friedman, Dr. Felix Klein, Dr. Ludwig Spaenle, Dr. Elio Adler. Foto: Christian Schoger
Der siebenbürgische Wurzeln besitzende Karrierediplomat Felix Klein sprach über eines seiner ersten Großprojekte, den am 1. November in Berlin gegründeten Bundesverband RIAS (Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus). Der zivilgesellschaftliche Verein soll bundesweit antisemitische Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze erfassen. Man benötige ein differenziertes Lagebild über die polizeiliche Kriminalstatistik hinaus, die schließlich nur die Spitze des Eisbergs zeige. 94 Prozent der Straftaten würden dem rechtsextremen Umfeld zugewiesen, so Klein. Antisemitismus sei jedoch viel verbreiteter. Seine Bekämpfung dürfe man nicht den Juden allein überlassen, dies sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, und dafür sollte die Gesellschaft sensibilisiert und aufgeklärt werden.

Nunmehr könnten Betroffene bei RIAS Vorfälle melden, zunächst online (in deutscher, englischer und russischer Sprache: https://report-antisemitism.de/#/de/report), und sich in ihrem jeweiligen Fall beraten lassen hinsichtlich einer sinnvollen Reaktionsweise. Derzeit werde überall in Deutschland nach Partnern gesucht. In Bayern habe man einen solchen mit dem Landesjugendring bereits finden können, dank der Hilfe des Antisemitismusbeauftragten Spaenle. Klein, seit einem halben Jahr im Amt, sah seine Aufgabe darin, die Akteure zusammenzubringen. Das Bundesfamilienministerium werde das Projekt finanziell unterstützen. Als Resultat solle eine Art Atlas entstehen, der deutschlandweit die Fälle von Antisemitismus sichtbar mache. Dazu würden für die betroffenen Regionen „passgenaue Strategien“ entwickelt. Es gebe schon erste Veränderungen, Medien berichteten stärker über antisemitische Vorfälle, zudem sei die Öffentlichkeit „etwas sensibilisierter“ im Vergleich zu früher.

Plädoyer für Erinnerungskultur, Bildung und begeisterte Demokraten

Michel Friedman machte die aktuelle Situation, die „außerordentlich ernst“ sei, an verschiedenen Faktoren fest. Alarmierend sei, dass so viele Deutsche, nach eigenem Bekunden Protestwähler, inzwischen eine Partei wählten, „deren Kern Menschenhass ist“ und die versuche, den Holocaust zu relativieren. Während der Publizist das persönliche Engagement von Klein und von Spaenle ausdrücklich anerkannte, kritisierte er scharf die personelle und finanzielle Ausstattung der Antisemitismusbeauftragten als unzureichend („nicht einmal fünf Mitarbeiter, nicht einmal 100 000 Euro Budget“).

Im Grunde genommen gehe es beim Antisemitismus um Judenhass, um Menschenhass. In diesem Kontext besorgte Friedmann „das sich verändernde Koordinatensystem“, allen voran der „Demokratieverlust der Gesellschaft“. In etlichen europäischen Ländern, darunter Ungarn, Polen, Italien und Österreich, seien „Nationalisten und Demokratiefeinde an der Regierung“. Viel mehr als eine ritualisierte Solidarität mit den Juden brauche es heute „Engagement für Demokratie“. Das Publikum applaudiert. Friedman empört der „Alltagsrassismus von nicht so vielen“, indes „die Vielen taub, stumm und blind“ seien.

Zustimmung auch seitens der Diskussionspartner. Spaenle forderte von Christen etwa beim diskriminierenden Gebrauch von „Jude!“ als Schimpfwort eine „Kultur des Hinschauens“ und bekräftigte: „Nur wer für die Juden schreit, darf gregorianisch singen“. Den CSU-Politiker erzürnte das Erstarken von „rechtem Abschaum“.

„Der innere Kompass ist in unserer Gesellschaft verloren gegangen.“, beklagte auch Felix Klein und unterstrich den fundamentalen Wert von Erziehung und Bildung, von Erinnerungskultur. So könnten insbesondere Menschen, die in der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem geehrt werden, Vorbildfunktion für uns haben. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung nannte beispielhaft den deutsch-jüdischen Widerstandskämpfer Herbert Baum, der jüdische Zwangsarbeiter unterstützte und von der Deportation bedrohten Juden beim Untertauchen half. Baum starb 1942 in Gestapo-Haft unter ungeklärten Umständen.

Der bayerische Antisemitismusbeauftragte Ludwig Spaenle sah die Gesellschaft vor einer großen Herausforderung. Das gelte nicht zuletzt auch für Lehrkräfte an den Schulen angesichts junger Muslime, deren Eltern in Ländern aufgewachsen seien, „in denen Judenhass und der Gedanke der Vernichtung Israels zur Staatsräson gehören“.

Die lebhafte Debatte auf der Bühne mündete dann in ein nicht minder engagiertes Gespräch mit dem einbezogenen Publikum, das sich eifrig zu Wort meldete. Dabei wurde wiederholt moniert, dass den Worten auch Taten folgen müssten. Antisemitische Vergehen sollten noch konsequenter als bisher von Staat und Gesellschaft geahndet werden. Nur „begeisterte Demokraten können Rassismus wirksam bekämpfen“, sagte Michel Friedman aus tiefer Überzeugung.

Als der zugleich an- und aufregende Diskussionsabend mit einem Schlusswort von Yehoshua Chmiel, Vizepräsident der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, sein Ende findet, verlässt man das Gemeindezentrum wieder durch eine doppeltürige Schleuse. Auf dem nachtverhangenen Platz liegt jetzt eine Stille, die - irgendwie beunruhigend - sättigt.

Christian Schoger




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