20. Oktober 2018

Matthias Buth und Gert Fabritius bei der Stuttgarter Vortragsreihe

Eine beeindruckende Symbiose von Poesie und Bildender Kunst erlebten die Besucher am 28. September im Stuttgarter Haus der Heimat. Zu den Gedichten des Autors Matthias Buth, geboren 1951 in Wuppertal-Elberfeld, zeigte der mit ihm befreundete siebenbürgische Künstler Gert Fabritius zwölf Werke, die von ihm als „Tagebuch-Auf-Zeichnungen“ geführt werden. Der in Bukarest geborene Grafiker, Holzschneider und Maler ist einer der bedeutendsten siebenbürgischen Künstler mit Ausstellungen in vielen Museen im In- und Ausland sowie zahlreichen Bildern in öffentlichen Sammlungen und in sakralen Räumen. Eigentlich ein Spannungsverhältnis zwischen Text und Bild – doch die zwölf von Fabritius gezeigten Collagen, Grafiken und Installationen waren kongeniale, angemessene Werke der Bildenden Kunst, die geistig und künstlerisch dem Niveau der vorgetragenen Gedichte voll entsprachen.
Seit 1973 veröffentlicht der promovierte Jurist Matthias Buth Lyrik und Prosa. Als Referatsleiter zur deutschen Kultur Ostmitteleuropas im Bundesministerium des Innern entdeckte er seine Empathie für Osteuropa, Rumänien und Siebenbürgen.

Zu Beginn seiner Lesung zitierte Buth aus seinem politischen Feuilleton „Vaterland und Muttersprache – Das beständige Wort der Dichter“ (Beitrag vom 16. Augsut 2018 im Deutschlandfunk Kultur). Darin würdigte er die Kraft der Lyrik von Reiner Kunze, der an diesem Tag seinen 85. Geburtstag feierte, und kritisiert die Worthülsen und die schwammige Verlautbarungssprache vieler Politiker sowie ihren Eiertanz um Begriffe wie Nation, Vaterland und Deutschland. Es ist die Muttersprache, die Heimat und Wärme stiftet. Buth ist fasziniert vom „Feingefühl der deutschen Sprache“ und würdigt die Kraft des Dichterwortes, das oft beständiger ist als das Wort der Politiker. So verlangt Buth genaues Hinschauen, nicht Wegschauen und sorgfältiges Denken. Denken ist vor allem Schreiben und Sprechen: „Ohne Sprache vergehen wir aber, halten wir uns nicht aus.“

Der Großteil der Gedichte, die Matthias Buth anschließend im Haus der Heimat vortrug, sind dem 2017 erschienenen Gedichtband „Gott ist der Dichter“ entnommen, dessen Umschlag eine Grafik von Gert Fabritius ziert. Das erste Gedicht „Gemeinde“ ist Eginald Schlattner, dem dichtenden Pfarrer aus Rothberg, gewidmet. In traditionellem „vollem Ornat“ geht der Geistliche zur Kirche und schreitet durch die „schwer atmende Tür“ in den Gottesdienstraum, wo er nur noch „leergebetete Bänke“ findet. Der Leere und Verlassenheit des einstigen Versammlungsortes der Rothberger Siebenbürger Sachsen entspricht akustisch die Stille: „Die Orgel tropft Stille/ Im Chor spielen die Fenster“. Die Pfeifen der traurigen schweigenden Orgel scheinen zu weinen, während der Pfarrer im prächtigen siebenbürgischen Ornat einem zurückgebliebenen Statisten auf geräumter Bühne gleicht: „Dann breitet er seine Arme/ Und tröstet Gott// Bis auch/ Er nicht mehr kommt“. Selbst Gott scheint sich aus dem einsamen, verlassenen Kirchenraum entfernt zu haben. Treffend der Kommentar von Dr. Walter Hinck in der FAZ vom 24. August 2007 zu diesem Gedicht: „Selten habe ich in der Gegenwartslyrik für unendliche Verlassenheit poetische Bilder von solch tragischer Ironie gefunden. Eine tief melancholische Stimmung liegt über der vom Verfall bedrohten, altväterlich gediegenen Stätte einstiger Andacht.“
Passend zum Gedicht „Gemeinde“ war eine Tageszeichnung von Gert Fabritius zu sehen, die einen Menschen zeigt, der sich mit ausgebreiteten Armen vornüber auf ein Kreuz hin bewegt. Oder steht er auf und entledigt sich des Kreuzes? Doppeldeutig sind die menschlichen Figuren in den Bildern des Künstlers und wie so häufig finden wir ihnen die Kreuzsymbolik, stehen Menschen im Fadenkreuz und sind dem Leid, den Machtgelüsten von Herrschern sowie den Gefährdungen und Versuchungen dieser Welt ausgesetzt. Neben den mythologischen Leitbildern in seiner Bilderwelt wie Sisyphos und Minotaurus greift Fabritius immer wieder auf die christliche Bildertradition zurück, z. B. der Tod als Sensenmann und Knochengerippe. Biblische Geschichten sind für ihn Parabeln des Gegenwärtigen, Gleichnisse für das Menschenschicksal. In den großformatigen Bildern, oft in nur drei Leitfarben (Rot, Schwarz und Weiß) gemalt, wirken die Figuren – Fabritius bevorzugt Männer – kraftvoll und mächtig und scheinen sich auf den Betrachter zuzubewegen.

Viele seiner Bilder sind beschriftet, enthalten Texte, kurze Sätze oder Worte. Für Fabritius ist die Beheimatung in der Sprache sehr wichtig. Steht er doch jener Gruppe Czernowitzer Dichter nahe, die ihr „Mutterland Wort“ (Rose Ausländer) als das kostbare Erbe der versunkenen Donaumonarchie über die Zeiten hinüberzuretten bestrebt waren. In der Biographie von Gert Fabritius gibt es Berührungspunkte mit Immanuel Weissglas, dem Schulkameraden und Jugendfreund Paul Celans. Dessen Lyrik, entstanden aus dem Erlebnis der Todeslager in Transnistrien, ist für Fabritius eine Inspirationsquelle geworden: „Und fliehen vor dem Fluch, im einzigen Hemde/ Aus fremder Heimat in die Heimatfremde“.

Der Schriftsteller Matthias Buth beschäftigt sich viel mit Musik, da ihn dieser „Welteninnenraum in der Musik“ (Emil Cioran) fasziniert. Musikstücke und Komponisten sind Gegenstand von Gedichten, von denen zahlreiche in Kammermusik und Chorwerken vertont wurden. Daher der melodische Rhythmus in vielen seiner Gedichte. Im „Orgelstück“ für Ursula Philippi umarmt der Novemberschnee, poetisch „Siebenbürgens zärtlicher Tod“ genannt, die Kirchen: „Zurückgelassene Andacht/ Bei offenen Dächern“.

Siebenbürgen ist für Buth nicht nur eine wortreiche, sondern auch eine bilderreiche Landschaft. Alles atmet in diesem Landstrich Geschichte und erzählt vom Glanz ferner Zeiten, von Wachstum und Niedergang, Blühen und Verfall. Der Lyriker „verdichtet“ die einzigartige Landschaft in poetische Bilder von tragischer Schönheit: „Milch perlt aus den Manualen/ Wenn der Alte/ Seine Orgel pflügt“ und „Der Schnee stellt seine Leiter/ An die Ringmauer“ im Gedicht „Großau“; in „Kirchgang“ geht der Küster durch die Bänke „um vergessene Gebete in die Sakristei zu bringen“. Die ökumenische Vielfalt in Rumänien, viele Jahrhunderte ein einzigartiger Ort der religiösen Toleranz in Europa, spiegelt sich in zahlreichen Gedichten: der evangelische Pfarrer Bruno Fröhlich, der Sonntag „von Kirche zu Kirche“ fährt, „denn/ Siebenbürgen bestickt den Himmel mit Türmen“; der katholische Bischof Kräutner aus Temeswar: „Mit dem Brotmesser/ Segnet er den Morgen im Schnaps“; der orthodoxe greise Pope spricht in der „Biserica Sf. Treime“ in Sibiel „aus dem Schnee/ Und er versteht die Sprache Pestalozzis/ Nach 15 Jahren Gefängnis in Bukarest“.

Über Siebenbürgen hinaus haben in die lyrische Welt Buths auch Rumänien („Manole“), Jerusalem mit der Klagemauer, Zypern („Zypern dreifaltig“) und das Schicksal der auf Lampedusa gestrandeten Flüchtlinge Eingang gefunden. Aufrichtig und genau ist seine Sprachkunst, mit der er Ereignisse in Politik und Gesellschaft beschreibt. Buths poetische Bilder kreisen um Begriffe wie Verlust und Verlorenheit, Verhängnis und Vergeblichkeit und bringen sie mit der „großen Wunde Gott“ in Beziehung, die allein erträglich wird durch poetische Bilder der Sehnsucht und des Heimwehs. „Die Heiterkeit der alten Worte“ kennt kein Ende. Für Buth ist Gott der Dichter.
Im Gedicht „Evangelischer Friedhof Volberg in Hoffnungsthal“ schätzt der Dichter angesichts von Tod und Vergänglichkeit die katholische Frömmigkeit wegen ihrer „poetischen Öffnung zum Gebet/ Das etwas bewirken soll/ Und die Fernen/ Innig ins Wort nimmt// Das Himmel bereitet/ Und zurückführt zum Anfang“. Während der Lyriker sein Gedicht vortrug, konnte man auf der Leinwand Fabritius‘ Tagebuch-Zeichnung mit dem Text „Vino-Veritas“ und „Sein Leib“ sehen (datiert 15.06.2017). Der Gekreuzigte mit den roten Wundmalen und dem Dornenkranz auf dem Haupt sitzt im Schneidersitz vor dem Kreuz. Aus dem Kreuzbalken rinnt Blut in eine mit „Veritas“ beschriftete Weinflasche. Im Wein liegt die Wahrheit. Auf den ersten Blick eine blasphemische Aussage. Doch sie illustriert, wenn auch in ungewohnter Weise, die christliche Abendmahlslehre: Im Sakrament des Abendmahles wird vom Geistlichen Brot als „Leib Christi“ und Wein als „Blut Christi“ gereicht. Die tiefe Gemeinschaft mit dem in Brot und Wein anwesenden Auferstandenen stiftet enge Verbundenheit mit Gott und bewirkt Vergebung der Sünden. Fremde und Ferne sind in inniger Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit miteinander verbunden.

Psalmen sind für Buth Liebesgedichte. In den „Zehn Psalmen“ finden wir das Zentrum der biblischen Botschaft, die christliche Auferstehungsbotschaft, in Metaphern ausgedrückt, die an die Sprache der Mystikerinnen und Mystiker erinnert: Zwar spiegelt die „Karfreitagsverlassenheit“ auch unser Schicksal, doch „Schon jetzt ist er möglich/ Der Himmel/ Dann wenn Du mit mir/ Hinabsteigst in die innerste Mitte“. In der Tiefe unseres Herzens findet die Begegnung und Verschmelzung mit Gott statt. Denn Gott irrt umher, bis er Ruhe findet in uns Menschen.
Treffend dazu die Tagebuch-Auf-Zeichnung von Gert Fabritius mit dem Titel „Wohin“? Ein Mann in der Hocke, in typischer Haltung, die an einen Ski-Abfahrtsläufer erinnert, wird in einer übergroßen Hand (Hand Gottes?) aufgefangen, gehalten. Die rote Farbe deutet auch in diesem Bild auf das Leiden und auf die Leidenschaft hin, die zu dieser Haltung des Auffangens und der Geborgenheit dazugehören. In dieser Welt, die für Menschen unausweichlich mit dem Tod endet, voller Unwägbarkeiten und Widersinnigem, Rätselhaftigkeiten und Absurditäten, gibt es trotzdem Sinn, Halt und Geborgenheit um nicht am Absurden zu verzweifeln. Das künstlerische Schaffen ist für Fabritius der Ort der Kraft um im Angesicht des Todes bestehen zu können. Man kann diese Haltung und dieses Lebensgefühl als „expressionistisch“ bezeichnen, denn das Rezept gegen Einsamkeit, Angst und Verzweiflung fordert dem „Absurden ins Auge zu sehen“. Aber ohne Pathos und Selbstbetrug. So geht die Leidenschaft, das Mitgefühl und die Teilnahme am menschlichen Schicksal beim Künstler Hand in Hand mit Humor, Ironie und Satire.

Die deutsche Sprache hat noch Wohnungen in Siebenbürgen und im Banat – daran erinnert zu haben ist Buths großes Verdienst. Erinnerung ist nach seinen Worten „die Suche nach uns selbst, nach dem Verlorenen, nach der Landschaft, die in uns liegt“. Ohne Erinnerung ist Literatur nicht möglich. Erinnerungsbefähigte Menschen sind stets auch gute Erzähler. Der Nichtsiebenbürger Matthias Buth bewahrt, wie auch viele Schriftsteller und Lyriker aus Siebenbürgen und dem Banat, die wortreiche Landschaft und Geschichte vor dem Vergessen. Die Wirkung seiner Gedichte und Texte sowie der Fabritius-Bilder auf die Besucher war nachhaltig – ein niveauvoller Abend, da waren sie sich einig.

Helmut Wolff

Schlagwörter: Lesung, Lyrik, Stuttgarter Vortragsreihe, Gert Fabritius, Bericht

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