23. September 2018

Wenn die Welt zerbricht: Erzählungen von Varujan Vosganian

„Das Schicksal ist kein sonderlich gut temperiertes Instrument, es kennt allerlei Nuancen.“ Mit diesen Nuancen, vor allem den dunklen, macht uns Varujan Vosganian in seinem Erzählungsband „Als die Welt ganz war“ schmerzhaft bekannt. Seine Figuren sind Grenzgänger, Wanderer zwischen den Welten: der vergangenen und der gegenwärtigen, der realen und der imaginären, zwischen oben und unten, Licht und Dunkelheit, Tod und Leben. Ein solcher Dualismus bildet das Gerüst jeder der vier Erzählungen, die 2013 im rumänischen Original erschienen sind und von Ernest Wichner ins Deutsche übertragen wurden. Zwischen den verschiedenen Welten lässt Vosganian „Grenzgebiete“ entstehen, graue Räume zwischen „Kopf und Zahl, Weiß und Schwarz“, durch die es – bisweilen unter Qualen – zu gelangen gilt oder in denen sich entscheidet, auf welcher Seite man endgültig verweilen will.
In der Geschichte „Ein Bund Liebstöckel“ sieht sich Rada, die in einer „Unstimmigkeit zwischen ihr und der sie umgebenden Welt“ lebt, unvermutet ihrem einstigen Peiniger gegenüber und muss über 20 Jahre nach den traumatischen Ereignissen ihr Leben gegen seins aufrechnen. Er ist krank, sie gesund – zumindest körperlich –, er hat ein Kind und sie ... hätte eines, wäre er nicht gewesen, er ist arm und arbeitslos, sie hat einen angesehenen Job. Varujan Vosganian wechselt übergangslos von der Vergangenheit in die Gegenwart und verwebt die Zeitebenen in dieser Erzählung so nahtlos, dass man den Wechsel immer erst nach einigen Sätzen bemerkt. Diese Erzählweise spiegelt den Gemütszustand seiner Hauptfigur, die ebenso unvermittelt von ihren Erinnerungen an Gefängnis und Folter übermannt wird wie der Leser vom Perspektivwechsel.

Der Bettler Coltuc, „nur ein Rumpf“ ohne Beine und mit zu kurzen Armen, sitzt Tag für Tag auf einem Brett mit Rollen in der Stadt und sieht „Vogel-Menschen, Tier-Menschen, Blumen-Menschen“ vorbeihasten; in diesen Momenten kreuzen sich seine ­(Lebens-) Welten: die imaginäre und die reale. Zu Hause bei seiner Schwester Melania, die ihn aufopferungsvoll pflegt, liest er, denn „Lesen war die einzige Tätigkeit, die er allein verrichten konnte, von vorne bis hinten“; dann sieht er die Welt „ganz, rund“ und ist kein Krüppel mehr, sondern ein gesunder junger Mann. Aber Vosganian hält in der Geschichte „Als die Welt ganz war“ kein gutes Ende für Coltuc bereit und lässt ihm ausgerechnet das Lesen zum Verhängnis werden.
In einem „Grenzgebiet“, der Station für Komapatienten, arbeitet die Ärztin Cosmina und kümmert sich besonders um einen jungen Mann, der sich vom Balkon seiner Wohnung im fünften Stock gestürzt hat und nun zwischen „Kopf und Zahl, Weiß und Schwarz“, eben zwischen Leben und Tod schwankt. Ihr Großvater, der lange Jahre im Gefängnis, einer „Welt ohne Schatten“, war, erzählt derweil ihrem Freund Filip seine Lebensgeschichte, denn erst „jetzt, da so viel Zeit vergangen ist, kann er über sich wie über etwas anderes sprechen“ – zu belastend waren die Erlebnisse. „Der Wunsch, uns umzubringen, war der einzige Wunsch, der uns am Leben hielt“, sagt er so paradox wie plausibel, der Tod erschien wie „ein warmes Nest“. Parallel dazu wird die Geschichte von „Jacob, Sohn des Zevedei“, erzählt. Was hat es mit ihm auf sich? Ist auch er ein Wanderer? Ist er überhaupt ein Mensch oder nur die Stimme einer längst vergangenen Erinnerung aus einer anderen Welt?

In der Erzählung „Das letzte Gericht der Statuen“ steigt Petrache jeden Tag von der Stadt, die „eine ziemlich schiefe Welt“ ist, zum Museum auf dem Hügel, seinem Arbeitsplatz „viel zu hoch droben über der Stadt“, wie seine Mutter findet, aber ihm gefällt es. Dort oben geht die Sonne viel früher auf als unten im Talkessel, was jeden Morgen einer Erweckung gleichkommt, und wenn er tagsüber im laufenden Museumsbetrieb den Menschen aus dem Weg gehen will, wechselt er erneut die Ebenen und steigt „die Wen­deltreppen hinab in die Kellerräume zu den Büchern“. Diese Routine des „oben und unten“ wird durchbrochen, als das Reiterstandbild im Atrium des Museums plötzlich ein Eigenleben entwickelt.

Varujan Vosganian, der mit seinem armenischen Familienepos „Buch des Flüsterns“ (2013) international bekannt wurde, kam 1958 in Craiova zur Welt und wuchs in Focșani auf. Er war von 2006 bis 2008 rumänischer Finanz- und Wirtschaftsminister sowie von 2012 bis 2013 Minister für Handel und Industrie und ist Präsident der Vereinigung der Armenier in Rumänien. Der vorliegende Band versammelt Erzählungen über Menschen „zwischen den Welten“, deren Schicksale individuell sind, aber von der großen Klammer der rumänischen Geschichte zusammengehalten werden. Viele einschneidende Ereignisse des 20. Jahrhunderts sind in Rumänien noch nicht oder erst unzureichend aufgearbeitet. Varujan Vosganian trägt wie viele zeitgenössische Schriftsteller seines Landes mit seinen Erzählungen dazu bei, einen Teil dieser Ereignisse literarisch ans Licht zu holen und so ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Das ist nicht immer angenehm, aber heilsam – wie ein Pflaster, das beim Entfernen schmerzt, dafür aber rosige, wenn auch gelegentlich vernarbte Haut zum Vorschein bringt.

Doris Roth


Varujan Vosganian: „Als die Welt ganz war“. Erzählungen. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2018, 336 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-552-05886-6.

Schlagwörter: rumänische Literatur, Erzählungen, Rezension, Vosganian

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