27. Juli 2018

Leben und Lieben in Zeiten von Facebook

Am Ende ist Liebe. So viel kann man verraten über „Null Komma Irgendwas“, den ersten Roman der rumänischen Schriftstellerin Lavinia Braniște, der zur diesjährigen Leipziger Buchmesse, bei der Rumänien Gastland war, auf Deutsch erschien. 2016 unter dem Originaltitel „Interior Zero“ beim Jassyer Verlag Polirom veröffentlicht, wurde das Buch im selben Jahr mit dem Preis „Nepotul lui Thoreau“ (Thoreaus Neffe) als bester rumänischer Roman 2016 ausgezeichnet. Der auf E-Books spezialisierte Berliner mikrotext Verlag hat in Manuela Klenke die perfekte Übersetzerin für den Roman gefunden und mit „Null Komma Irgendwas“ im Frühjahr 2018 sein erstes gedrucktes Buch vorgelegt.
Cristina ist 32 Jahre alt, kurzsichtig, konfliktscheu und „ein Mensch, bei dem die Wut spät ausbricht“. Sie hat zwei Mastertitel, beherrscht mehrere Fremdsprachen und arbeitet im Bukarester Stadtteil Tineretului als „Sekretärin bei einer Firma, die Projekte für öffentliche Bauvorhaben anleitet“: Kaffee kochen (wenn wichtiger Besuch kommt), kopieren (wenn es Papier gibt), Telefondienst; gelegentlich übersetzt sie Verträge und Aufgabenlisten und darf ihrer Chefin beim Formulieren einer E-Mail an die spanischen Geschäftspartner helfen. Natürlich ist sie überqualifiziert für den Job, aber das Gehalt wird einigermaßen pünktlich gezahlt und in ihrer Branche gibt es kaum adäquate Stellen: „… ich tröste mich damit, dass ich dafür mehr Geld bekomme, als ich im Kulturbereich je verdienen könnte“. Für ihre Chefin Liliana empfindet Cristina zunächst Bewunderung, die aber sehr schnell in Ernüchterung umschlägt. „Anfangs habe ich sie ehrlich bewundert und all den Schwachsinn, den sie mir erzählt hat, geglaubt. (…) Später habe ich gemerkt, dass wir in ihren Augen alle dumm sind.“ Liliana ist zerstreut, chaotisch und cholerisch, was Cristina vor jeder neuen Aufgabe erzittern lässt („Ich habe Angst, jedes Mal, wenn sie etwas von mir verlangt, egal was.“) und ihr Überstunden beschert: „Fast immer gehe ich als Letzte, weil Liliana verpeilt ist und während der Arbeitszeiten nicht in der Lage ist, mir genug zu tun zu geben.“ Tagsüber vertreibt sie sich die Zeit im Internet, spendet „ab und zu fünfzig Lei an Wikipedia, für die vielen Inhalte, die ich dort während der toten Zeit im Büro lerne“, und wartet auf den „Feierabend. Für diesen Augenblick lebe ich“. Für die Kollegen ist Cristina Kummerkasten, Blitzableiter, Prellbock, Spitzel: Weil sie schweigen kann („Ich bin stumm wie ein Fisch“), klagen ihr alle ihr Leid und zerreißen sich über die anderen das Maul, erwarten absolute Loyalität („Sie verlangen von mir, dass ich für sie lüge, falls die Chefin nachfragen sollte“) und glauben, dass sie über alle Vorgänge in der Firma Bescheid weiß („Alle haben den Eindruck, dass ich eins mit den Wänden bin und alles höre“). Die einzige Möglichkeit, der verfahrenen Situation zu entkommen, scheint die Auswanderung zu sein, worin Cristina von ihrer besten Freundin bestärkt wird. „In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft habe ich mich bei einem Deutschkurs angemeldet. (…) Otilia versichert mir, dass es noch Hoffnung gibt. Ich habe noch Zeit, um auszuwandern und neu anzufangen. Ob das die Lösung ist?“
Neben der Arbeit schlägt sich Cristina via Skype mit ihrer Mutter herum, die seit vielen Jahren in Spanien in der Tourismusbranche arbeitet und nur einmal im Jahr zu Besuch kommt, aber Geld und Pakete mit spanischen Lebensmitteln schickt. „Je mehr Essen, desto mehr Liebe.“ Wenn sie in Bukarest ist – meist im Winter, denn da ist in Spanien keine Saison –, fühlt Cristina sich verpflichtet, mit ihr etwas zu unternehmen, damit sie einander in ihrer Einzimmerwohnung nicht auf die Nerven gehen. Trotz der Entfremdung durch die lange Trennung ist die Mutter wohl ihre wichtigste Bezugsperson. Sie stellt die Verbindung zum Heimatort Brăila und zur dort lebenden Großmutter dar, erdet sie mithin auf Grundlage der familiären Vergangenheit, und sie kommt sofort, als Cristina sich einer Operation unterziehen muss. „Sie ist mein Schutzengel“, konstatiert die Tochter, die wohlweislich einen Termin in einer Privatklinik ausgemacht hat, in der „alles glänzt, so dass man den Eindruck bekommt, man könne auch in Rumänien angemessen sterben“. In dieser Episode kann Lavinia Braniște das rumänische Gesundheitssystem in all seiner Absurdität en passant in die Geschichte einfließen lassen. Sie tut das ohne erhobenen Zeigefinger, sondern schreibt einfach auf, wie es ist, die Verhältnisse sorgen für den sarkastischen Twist.

Mihai, Cristinas „Fernbeziehung“, lebt in Klausenburg. Sie sehen sich alle paar Monate und müssen sich jedes Mal wieder neu aufeinander einstellen. „Diese Verwirrung, die uns bei jedem Treffen und über das Treffen hinaus beherrscht, angefangen mit den kleinsten Gesten – küsse ich ihn oder nicht? – bis zu den schwierigsten Entscheidungen – was bist du für mich?“ Die Zeit dazwischen füllen sie mit Nachrichten über Facebook; das erste und einzige Mal, dass sie sich bei Skype zu einem Videochat treffen, weil Mihai sich davon ein sexuelles Abenteuer verspricht, endet zumindest für Cristina eher unbefriedigend. „Mir ist das alles jetzt sehr unangenehm“, denkt sie ziemlich bald und ist am Ende frustriert. „Ich hasse diese Technologie, die mich dazu bringt, mich primitiv zu fühlen.“ Sex zwischen den beiden ist ohnehin ein leidliches Thema; er findet statt, so oft sie sich sehen, wird aber von ihr nur als das, „was getan werden muss“, tituliert. Erfüllung sieht anders aus, aber was kann man erwarten von jemandem, der bei jeder Begegnung „wie ein fremder Mensch“ erscheint?

Lavinia Braniște hat mit Cristina eine Figur erschaffen, die man tröstend in den Arm nehmen und zugleich ohrfeigen möchte, damit sie sich zusammenreißt. Sie steht mit ihren Sorgen und Nöten exemplarisch für eine ganze Generation junger Rumänen, die zum oder spätestens nach dem Studium hoffnungsvoll in die Hauptstadt ziehen auf der Suche nach Wohnung, Arbeit, Liebe – einem erfolgreichen Leben eben. Ihre Sprache ist lakonisch, reduziert, trocken, so dass die sparsam eingesetzten Bilder und Metaphern eine außergewöhnliche Wirkung entfalten. Wenn „der heilige Springerstiefel Gottes vom Himmel herabsteigt“ und Cristina an ihren Platz „zurück in den Schlamm“ schubst, wenn sie sich fühlt „wie eingefrorenes Gemüse, eine im Herbst am Stängel auf dem abgeernteten Feld vergessene Paprika“, oder eine ihrer Kolleginnen als „eine im Fell festgehakte Distel“ bezeichnet, scheint ein subtiler Witz auf – obwohl der Witz bei Braniște meist darin besteht, dass es kein Witz ist.

„Null Komma Irgendwas“ ist ein Buch über das Frausein in der heutigen Gesellschaft, die Liebe und das (fremdbestimmte) Leben in Zeiten von Facebook, über die einzigartige Verbindung zwischen Müttern und Töchtern, den Moloch Bukarest, die Korruption an allen Ecken und Enden und wie sie den Alltag beherrscht und beeinflusst. Zugleich hat Lavinia Braniște einen Generationenroman vorgelegt, der tiefe Einblicke gewährt in die Lebenswelt, die Chancen und Hoffnungen der jungen Rumänen zwischen 30 und 40 – und das in einer eindringlichen Unmittelbarkeit, die sich einerseits aus ihrem Schreibvermögen speist, aber ebenso aus ihrer Biographie. 1983 in Brăila geboren, gehört sie selbst dieser Generation an und hat ihrer Romanfigur Cristina einige offensichtlich autobiographische Züge mitgegeben.

Schön wäre es, wenn auch Lavinia Braniștes Kurzgeschichtenbände „Cinci minute pe zi“ (2011) und „Escapada“ (2014) auf Deutsch erschienen, um die Entwicklung dieser Autorin von der kurzen hin zur langen Erzählform nachvollziehen zu können – und einfach, um weitere Texte von ihr zu lesen, denn ihr Stil macht Spaß und Lust auf mehr.

Doris Roth


Lavinia Braniște: „Null Komma Irgendwas“. Roman. Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke. mikrotext, Berlin, 2018, 288 Seiten, 21,99 Euro, ISBN 978-3-944543-60-4.
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Schlagwörter: Roman, rumänische Literatur, Bukarest, Arbeitsmarkt, Generationen

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