15. Mai 2018

„Wann wird Interpretation zu Manipulation, und wie weit darf Wissenschaft gehen?“

Literaturwissenschaft arbeitet mehrperspektivisch. Vielfältig in den Methoden schürfen ihre Vertreterinnen und Vertreter disziplinübergreifend in den Sedimenten und Stoffen ihrer Forschungsgebiete. Die 2016 im Wiener Böhlau Verlag erschienene Dissertation (summa cum laude) von Michaela Nowotnick mit dem Titel „Die Unentrinnbarkeit der Biographie. Der Roman ‚Rote Handschuhe‘ von Eginald Schlattner als Fallstudie zur rumäniendeutschen Literatur“ leistet in der so verstandenen Weise literaturwissenschaftlich einen unschätzbaren Beitrag zur Aufklärung einer bislang vorherrschenden Intransparenz zu Leben und Werk des polarisierend rezipierten siebenbürgisch-sächsischen Schriftstellers.

„Rote Handschuhe“ im Kontext europäischer Literatur

Michaela Nowotnick blickt tiefenscharf und erkenntnisfördernd durch das Brennglas eines einzigen Romans in die Jahrzehnte der Diktatur des Ceaușescu-Regimes. Sie entfaltet einerseits die historischen Zusammenhänge anhand der Biografie des Schriftstellers Eginald Schlattner, andererseits fächert sie dessen zweiten Roman „Rote Handschuhe“, der im Jahr 2000 im Wiener Verlag Paul Zsolnay erschienen ist, auch mit textimmanenten Mitteln auf. Sie belegt damit, dass es sich um ein komplexes, hochaufzulösendes literarisches Kunstwerk handelt, das – wie man ergänzen sollte – die Linie der Deportations- und Gefangenheitsliteratur von Dostojewski, Tschechow, Kafka, Zweig und Solschenizyn fortsetzt. Es handelt sich demnach nicht etwa um die sachtextartigen Aufzeichnungen von Begegnungen und Begebenheiten, in denen lediglich die Namen der aufgeführten Personen ausgetauscht oder verfremdet sind, sondern um wesentlich mehr. Das „Goethe-Institut InterNationes“ zählte den Roman zu den 100 besten 1999-2001 in deutscher Sprache geschriebenen Büchern.

Die Lager der Guten und Bösen unter rumäniendeutschen Literaten

Wissenschaftlich Handelnde wie Michaela Nowotnick tragen dadurch zum intersubjektiven Erkenntnisfortschritt bei, weil sie ihre Forschungsgegenstände erst im zerlegten Kontext ihrer Bezüge (Dekonstruktion) analysieren. Sie evakuiert „Eginald Schlattner“ als Mensch und Autor sowie den Roman „Rote Handschuhe“ als Politikum aus dem aufgetürmten Abraum rumänischer Securitate-Maschinerie. Zu den Aufschüttungen gehören auch die Regale füllenden Rechtfertigungen, Ablenkungsmanöver und Bezichtigungen aller Involvierten und Verstrickten. Die vorliegende Fallstudie „rückt einen literarischen Text in den Mittelpunkt, an dem zahlreiche Konflikte ausgetragen wurden und werden“, schreibt die Autorin zu Beginn ihrer Veröffentlichung. So gerät die öffentliche Darstellung des Einzelschicksals Eginald Schlattners exemplarisch zum Stein des Anstoßes, stellvertretend und symptomatisch für das Schicksalswirrwarr der gesellschaftspolitischen Entwicklung in Rumänien zwischen 1950 und 1989. Der rumäniendeutsche Literaturbetrieb spaltet sich, wie der Studie zu entnehmen ist, bis heute an der Interpretation von Leben und Werk des Eginald Schlattner in die lebensfremden Lager der Guten und der Bösen.

Methodenpluralismus und mehrperspektivischer Forschungsansatz

Michaela Nowotnick deckt anhand der Quellen aus den sich zögerlich öffnenden Securitate-Archiven diese irreführenden Lagerkämpfe auf. Glaubwürdig legt sie von Anfang an ihre eigenen Karten und Pläne bereitwillig auf den Tisch und nimmt dabei die Leserschaft Schritt für Schritt selbstreflektierend mit.

Während die Autorin in den ihr bisher bekannt gewordenen wissenschaftlichen Arbeiten zu Schlattner als Person und zu Schlattners Werk die Securitate-Akten als „unterrepräsentiert oder eindimensional“, lückenhaft und mit „wissenschaftlichen Falschdarstellungen“ einschätzt, stellt sie auch sich die Frage: „Wann wird Interpretation zu Manipulation, und wie weit darf Wissenschaft gehen, um eine These zu stützen?“ Die Literaturwissenschaftlerin glaubt, die Manipulationsgefahr durch ihren mehrperspektivischen Ansatz eines „Methodenpluralismus, der eine differenzierte Annäherung an den Gegenstand ermöglicht“, zu mindern. Denn sie gewinnt ihre Einschätzungen auf 360 Seiten durch Vernetzen mindestens der folgenden identifizierbaren Disziplinen, um ihre vielperspektivischen Forschungsziele zu erreichen: Ethnologie, Ethik, Germanistik, Geschichts- und Kulturwissenschaft, Philosophie, Politologie, Psychologie und Rumänisches Recht.
Dr. Michaela Nowotnick, aufgenommen im ...
Dr. Michaela Nowotnick, aufgenommen im Teutschhaus im September 2015. Foto: Konrad Klein
Dieses interdisziplinäre Vorgehen führt zu einem dauerhaften, bewusst anvisierten prozessimmanenten Perspektivenwechsel. Sie folgt hierbei dem Philosophen Michel Foucault, nach dem jedes Wissen grundsätzlich einen „interdisziplinären Charakter“ habe. Der Germanist und Literaturwissenschaftler Moritz Baßler beschreibt literarische Texte „als ‚ein Gewebe aus Diskussionsfäden‘“. In dieser Metadiskussion bietet Michaela Nowotnick der rumäniendeutschen Germanistik, die in den Jahrzehnten vor 1989 gezwungenermaßen ideologielastig sein musste und vielleicht deswegen biographielastig aus der Zeit der staatskommunistischen Diktatur hervorkam, eine erweiternde Perspektive.

Zur Einschätzung von biographischen und literarischen Texten

Als würde die vorliegende „Fallstudie“ an dieser Biographielastigkeit anknüpfen, schreibt Michaela Nowotnick im Titel ihrer Dissertation „Die Unentrinnbarkeit der Biographie“ Schlattners Schicksal scheinbar unausweichlich fest. Eine „Unentrinnbarkeit“ (Determinismus) anzunehmen, führt aber jede (mehrperspektivische) wissenschaftliche Anstrengung ad absurdum. Die Festlegung, dass etwa Schlattners Biographie von vorne herein oder in einer Nachbetrachtung vorbestimmt sei, ist eine mythologische oder religiöse Spekulation. Dieses Diktum löst sich allerdings im Verlaufe der Darstellung zwangsläufig schon dadurch auf, dass die Autorin immer wieder kundig belegt, wie sehr die Bezichtigungen gegenüber Schlattner haltlos sind. Zwar wurde erst im Jahre 1990, also nach dem Ende der Ceaușescu-Diktatur, „Eginald Schlattner als Opfer des Kommunismus anerkannt“, während die anderen Protagonisten gegenseitiger Beschuldigungen bereits 1968, also innerhalb der Ceaușescu-Diktatur, „dem Würgegriff der Geschichte“, wie Michaela Nowotnick die Lektorin Brigitte Hilzensauer zitiert, entkommen und als regimetreue Autoren rehabilitiert werden. Aber ist diese Nachricht in der rumäniendeutschen Literaturszene dauerhaft im Bewusstsein verankert, obwohl diese unterschiedlichen Rehabilitationsdaten schon fast drei Jahrzehnte bekannt sind?

Die Literaturforscherin beanstandet, wie sehr die literarischen Werke Eginald Schlattners im Rahmen der rumäniendeutschen Literaturrezeption monothematisch und verurteilend fast ausschließlich an vermeintlich biographischen Bezügen gedeutet werden. Die Autorin überwindet den Hang zur eindimensionalen autobiographischen Betrachtung von Literatur, die meist zugleich auch einen chronologischen Ablauf und dokumentarisch verbürgte Ereignisse verlangt. Sie legt im Roman „Rote Handschuhe“ eine „homodiegetische Fiktionalität“ frei – der Erzähler ist Teil der Erzählung – und schlussfolgert im Zuge ihrer ausführlichen textimmanenten Analyse, dass sich die einzelnen Begebenheiten nicht notwendig so abgespielt haben müssen, um literarische Bedeutsamkeit zu erreichen. So ließ Schlattner im Rahmen einer Lesung in Kronstadt eine Lehrerin für Deutsch als Muttersprache einmal enttäuscht zurück. Sie schlussfolgerte aus ihrer Lesart die „Verlogenheit“ der Schlattner-Romane, weil die Bahnlinie zwischen Klausenburg und dem Ankunftsort einer Romanfigur nie existiert habe. Es konnte sie auch nicht überzeugen, als der Autor zu erklären versucht, dass die Bahnlinie im Roman aber existieren müsse: „Wie sonst hätte diese Dame dort hinkommen können?“ Der Schriftsteller stellt in Gesprächen die Gestaltung seiner Prosa immer wieder so dar, dass alle Vorkommnisse in seinen Romanen sich genau so abgespielt hätten, aber nicht unbedingt an dem beschriebenen Ort und nicht unbedingt mit den handelnden Figuren. Und damit definiert er als Literat fiktionale Literatur.

In ihrer Romanbetrachtung merkt Michaela Nowotnick in einem weiteren Aspekt der Textgestaltung bei Schlattner „nicht immer klar definierte Gattungsgrenzen“ zwischen Roman, Bericht und Essay an. Nach Definition der Philosophen Michel Foucault und Jacques Derrida schließt jedoch ein Text unbegrenzt das Nicht-Gesagte oder das Nicht-Geschriebene mit ein. Im Prozess einer Dekonstruktion von Texten wird transparent, wie sehr schon die Auswahl von Zitaten Tendenzen in sich trägt. Deshalb stellt unsere Autorin wiederum folgerichtig in ihrem Fazit fest, dass „Eine Herausforderung [...] zweifelsohne in der Deutung, Einordnung und Interpretation von Geheimdienstakten“ liege, die zur Einschätzung von biographischen und literarischen Texten herangezogen werden. Bezogen auf die eigene Interpretationstätigkeit gibt die Germanistin an, selbst „ohne Zugang über den Autor“ zu ihren literaturwissenschaftlichen Ergebnissen zu „Rote Handschuhe“ gelangt zu sein. Und genauso habe die Leserschaft zu diesem Roman die freie Wahl, einen „autofiktionalen“ oder einen „autobiographischen“ Text vor sich zu haben. Michaela Nowotnick beruft sich dabei noch einmal auf Michel Foucault, der einen Autor generell als „unwichtig“ ansieht (vgl. „Was ist ein Autor?“, 1969). Foucaults „Diskurstheorie“, die die Funktion des Autors, ja, den Autor selbst als „Konstrukt“ seiner Rezipienten ansieht, bildet den kategorischen Kontrapunkt gegenüber einer traditionellen Personalisierung und den geradezu zelebrierten Egozentrismen innerhalb rumäniendeutscher Autorenschaft. Erhellend blättert sie dazu die Werkgeschichte der „Roten Handschuhe“ mit dem Ursprungstext „Weiße Flecken“ auf. Hierbei wird exemplarisch offenkundig, wie vieler Schritte, Stationen und sachverständig Mitwirkender es bedarf, um ein bedeutsames literarisches Kunstwerk zu kreieren. So gesehen war Autorenschaft schon immer auch Teamarbeit, die im Schaffensprozess des einzelnen Künstlers Ausdruck findet.

Paradigmenwechsel in der rumäniendeutschen Literaturwissenschaft

Eginald Schlattners Werke erwachsen, wie Michaela Nowotnick immer wieder nachweist, aus einem historisch-politischen Kontext. In ihrer Dissertation belegt sie, dass Schlattner unter anderem die „historischen und politischen Entwicklungen Rumäniens mit dem Fokus auf die deutsche Minderheit des Landes erzählt“. Aufgeführt werden dazu alle gesellschaftlich relevanten Prägungen Rumäniens einschließlich der Deportationsgeschichte. Muss man diese Zeiten im Umfeld Betroffener miterlebt haben, um darüber forschen zu können? Michaela Nowotnick entstammt einer anderen Zeit mit einer anderen Sozialisation. Daraus ergibt sich eine wohltuende wissenschaftliche Distanz. Diese wissenschaftlich zulässige Gegebenheit müsste nicht sonderlich hervorgehoben werden, wenn nicht auch hier das besagte Lagerdenken vorherrschte. Noch vor wenigen Jahren war ein führender rumäniendeutscher Literaturwissenschaftler zu erleben, der auf einer Germanistentagung in seiner Funktion als Workshop-Moderator all denen einschüchternd gegenübertrat, die es im Sinne wissenschaftlicher Freiheit für selbstverständlich hielten, sich in den rumäniendeutschen literaturwissenschaftlichen Diskurs einzubringen, ohne möglichst noch vor 1940 in Siebenbürgen oder dem Banat zur Welt gekommen zu sein.

Eine junge Dozentin aus Klausenburg, deren 20-minütiger Beitrag zum Roman „Rote Handschuhe“ im Programmheft angekündigt war, wurde zunächst daran gehindert ihren wissenschaftlichen Vortrag zu halten, weil dem Moderator das Manuskript vor der Veranstaltung nicht vorgelegt worden sei. Niemandem im Saal war dieses Junktim auf dieser Tagung bislang und danach begegnet. Mit stockendem Atem schienen alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieses Workshops in Temeswar wie in einer Anschlusstagung des „letzten deutschen Schriftstellerkongresses in der Rumänischen Volksrepublik“ im Jahre 1957 zu sitzen. Michaela Nowotnick wäre es damals mit einem eigenen Vortrag möglicherweise ähnlich ergangen. Heute legt sie nicht zuletzt in der Ausleuchtung der Securitate-Machenschaften gegenüber Eginald Schlattner ein neues Fundament der Grundlagenforschung. Die aktuelle und nachkommende Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird auf die investigative Grundlagenarbeit von Michaela Nowotnick zurückgreifen können. Zudem arbeiten die Lehrerinnen und Lehrer und die Schülerinnen und Schüler der rumänischen Lyzeen mit Deutsch als Muttersprache (DaM) in den Klassen 8 bis 12 mit DaM-Lehrwerken des Hermannstädter Schiller-Verlags, in denen der Paradigmenwechsel bezüglich der Einschätzung von Biographie und Werk des siebenbürgischen Gefängnispfarrers und Schriftstellers bereits ab 2002 vollzogen ist. Auch für die Germanistischen Abteilungen an rumänischen Universitäten stehen diese DaM-Lehrwerke zur Verfügung.

Literaturwissenschaftliche Forschung im Hinblick auf Menschenrechte

Die Eginald Schlattner und sein Werk betreffenden Kapitel in den DaM-Lehrbüchern sowie auch die Beiträge des im Temeswarer Artpress-Verlag 2008 erschienenen Dokumentationsbuches zum internationalen Unterrichtsprojekt „Literatur und Landschaft (LiLa)“ fußen bereits auf der von Michaela Nowotnick bestätigten Aktenlage des Archivs der Securitate (CNSAS). Danach ist durch keine einzige Stelle der Securitate-Akten zu belegen, dass der rumänische Staatsbürger Eginald Schlattner mit siebenbürgisch-sächsischer Abstammung je für die Securitate gearbeitet hat.

Bisher wuchsen vor allem in der Desinformiertheit über den Securitate-Staat die Ressentiments gegenüber seiner Person. Vor diesem Hintergrund ist Michaela Nowotnicks Einschätzung, dass die „Vorbehalte“ hinsichtlich Autor und Werk „sich auf die nachfolgenden Generationen“ übertragen, zwar verständlich, aber gerade auch dank ihrer eigenen Forschungsarbeit ist ihre These als zu pessimistisch einzustufen. Im Gegenteil: Ihre literaturwissenschaftlichen Ergebnisse auf der Basis eines vorbehaltslosen Quellenstudiums motivieren zu neuen Forschungsvorhaben. Um die Forschungsmethodik Michaela Nowotnicks, bezogen auf das Securitate-Thema, besser nachvollziehen zu können, lohnt es sich, den Aufbau ihrer Dissertation näher zu betrachten.

Michaela Nowotnick gliedert ihre Dissertation im Hauptteil in drei große Kapitel. Die Einleitung beinhaltet zuvor aber schon eine „Fallbeschreibung“ im Kontext des Romans „Rote Handschuhe“, das „methodische Vorgehen“ der Wissenschaftlerin und ihre „Einordnung“ des Forschungsvorhabens. Das 1. Kapitel widmet sie den historischen Grundlagen der Geschichte Rumäniens von 1918 bis 1960 und den biographischen Angaben zum Leben Eginald Schlattners. Das 2. Kapitel handelt von Schlattners Roman „Rote Handschuhe“ im Hinblick auf Vorgeschichte, Genese und Textanalyse. Das 3. Kapitel stellt die Rezeptions- und Interpretationsentwicklung zum Roman „Rote Handschuhe“ dar. Schließlich dokumentiert der Anhang ein langes Gespräch zwischen Michael Nowotnick und Eginald Schlattner.

Das vorliegende Buch widmet der Überwachungsmaschinerie kein eigenes Kapitel. Das ist deswegen gerechtfertigt, weil den Machenschaften der Securitate eine nicht eingrenzbare Querschnittswirkung eingeräumt werden muss. Alle Kapitel der Studie sind durchzogen vom Leitmotiv der Securitate-Omnipräsenz, weil alle Auftraggeberinnen und Auftraggeber, alle Protagonistinnen und Protagonisten, alle Opfer und alle Täterinnen und Täter an Fäden hängen und an Fäden ziehen, um bewusst oder unbewusst ein Geflecht der Unentrinnbarkeit zu hinterlassen. Michaele Nowotnick bietet in der Aufarbeitung dieses vielschichtigen Forschungskomplexes in verdienstvoller Weise ein erstes ausführlicheres Zitatenpanorama, um das Wesen der Securitate kenntlich zu machen; denn „Die Aussagen der Zeugen sind bekanntlich durch Erpressungen, Drohungen mit Gefängnis, psychischen und psychischen Druck zustande gekommen.“, wie sie William Totok wegweisend aus der 2012 erschienenen Veröffentlichung „Empathie für alle Opfer. Eginald Schlattner, ein Leben in Zeiten diktatorischer Herrschaft“ erklären lässt.

Vorläufer dieses Ansatzes gibt es bereits um die Jahrtausendwende. In einer öffentlichen Lesung Eginald Schlattners in der Reihe „Bücher anders kennen lernen“ (BAK) des Pädagogischen Lyzeums in Hermannstadt wurden erstmals Argumente eingebracht, deren Resonanz 2015 in Kapitel 5 des im Hermannstädter Schiller-Verlag erschienenen „DaM-Textbuch Deutsch 3 & 4“ einen Widerhall gefunden haben. Gegen einen empörten Teil des zahlreichen Publikums wurde damals Schlattners Verhaftung und die der anderen Schriftsteller, der Gefängnisaufenthalt, die Gründe der Inhaftierung, die Haftbedingungen, die Verhörpraxis als Foltermaßnahmen im Unrechtsstaat etikettiert. Allein einen Menschen zwei Jahre in einer 7 m²-Zelle zu halten, ohne Hofgang, ohne Sonnenlicht, ohne jegliche Nachricht von draußen, erfüllt unbestreitbar den Tatbestand der Folter.

Die dazu im DaM-Textbuch formulierten „Artikel zu Folter“ beziehen sich auf die Antifolterkonvention der Vereinigten Nationen von 1987, das Manifest von „amnesty international“ aus den 1960er- Jahren und auf die „Erklärung der Menschenrechte“ von 1948. Artikel 15 der Erklärung der Menschenrechte legt fest, dass „Aussagen, die nachweislich durch Folter herbeigeführt worden sind, nicht als Beweis in einem Verfahren verwendet werden“ können. Sowieso kann niemand sagen, wie lange er selbst Pressionen standhalten würde, irgendwelche Äußerungen zu treffen oder sie zurückzuhalten. Insofern ist das literaturwissenschaftlich gerechtfertigte Quellenstudium zu den Verhaltensindikatoren „Verrat“ und „Widerstand“ im Eigentlichen keine Angelegenheit vielperspektivischer Forschungsmethoden. Letztlich geht es dabei um Fragen von Empathie, Nächstenliebe, Ethik und Menschenrechte.

Michaela Nowotnick legt viele Zusammenhänge aus den Konvoluten zu den politischen Prozessen wie dem Schriftstellerprozess der 1950er Jahre frei. Sie eröffnet uns den Blick auf Gemeinheiten, Menschenverachtendes, aber auch auf Banalitäten und Dilettantismen der schreibenden Securitate-Agenten. Es sind Texte, die die beteiligten Autorinnen und Autoren unter existenziellem Druck im Überlebenskampf zwischen Macht und Ohnmacht anfertigen mussten. Die Securitate wirkt aber ruhelos auch zwischen den Zeilen und als allgegenwärtiges Medium herrschender Verhältnisse in die „biographischen Grundlagen“ der aufgeführten Opfer hinein. Das Despotische, Heimtückische, Spalterische, ja Diabolische des Securitate-Handelns wird durch Michaela Nowotnicks wissenschaftliche Analyse der Ceaușescu-Zeit unübersehbar. Die wissenschaftsethische Frage, die nicht vorrangig an die Promovendin zu richten ist, lautet: Warum muss die Germanistik so defensiv sein, um einen neutral erscheinenden Nimbus zu wahren, obwohl die Menschenwürde oberster Maßstab auch in der Arbeit der Wissenschaften sein muss? Im vorliegenden, gepflegt moderaten akademischen Duktus liest sich das Hintertreiben, Attackieren und Foltern der Securitate-Praxis mit Rücksicht auf die Promotionsordnung so: Die personifizierte Securitate „befragt“, sie bereite die Gerichtsverhandlung „hinreichend vor“, sie habe „belastendes Material zusammengetragen“, die Autoren werden „vielfach verhört“, „der Ausschuss bezieht sich auf“, „Zur Last gelegt wird den Autoren ferner“, Aussagen werden „wiedergegeben“, „Es wird nach Fakten gefragt“. Die Securitate erscheint in den gewählten Formulierungen vor allem in den Prädikaten der Satzteile bagatellisierend als unverzichtbarer Bestandteil bürokratischer Abläufe.

Wissenschaftliches Modell zur Überwindung des klassischen Täter-Opfer-Schemas

Insgesamt verstärkt sich von Michaela Nowotnicks Veröffentlichung an die Zuversicht, dass reflexartige Reaktionen in der rumäniendeutschen Literaturwissenschaft keine Nachahmer mehr finden. Die Wissenschaftlerin entlarvt den „Inszenierungscharakter“ des „Schwarze-Kirche-“ oder„Schriftstellerprozess“. Demnach gilt für Securitate-Zeiten: Verstrickung ist nicht zugleich Schuld, und Verhaftung ist kein Beweis.

Unabhängig von Schuld und Verstrickung zerlegen Folter und Zwänge die betroffenen Menschen und ihre solidarische Gemeinschaft, wie Michaela Nowotnick den namenlosen Ich-Erzähler der „Roten Handschuhe“ (RH) im Securitate-Gefängnis versteht: „Personifizierungen ‚Eine Nase war zu sehen. Zu mir sagte sie [...]‘ (RH, 36), oder ‚eine abgehakte Hand gießt die braune Brühe in mein Blechkännchen‘ (RH, 43) zeigen den Verlust von Menschlichkeit. Das Gefängnispersonal, die Menschen ‚draußen‘, werden nicht als solche wahrgenommen, sondern lediglich als Teile eines Körpers, als ‚Werkzeuge‘.“

In die gleiche Richtung zielt 1980 auch Hans Bergel, den die Wissenschaftlerin zum Schriftsteller-Prozess so zitiert: „Man ist künstlich zu etwas konstruiert worden, das ist ja das Schauerliche. Der Mechanismus steht über dem Menschen. Das System steht über dem Menschlichen, dem Humanen.“ Und 1995 gesteht Hans Bergel, das Securitate-Opfer und zugleich dauerhafter Erzfeind Eginald Schlattners, noch Folgendes zu: „Es war eine Absicht unserer Peiniger, Freundschaften zu zerstören – durch kaum erträgliche psychische, nervliche Belastungen, denen sie uns aussetzen.“

Trotz dieser (Selbst-) Erkenntnisse konnte in der rumäniendeutschen Literaturwissenschaft bisher die systematische und systemische Aufarbeitung noch nicht geleistet werden. Noch stehen sich Lager im klassischen Opfer-Täter-Schema gegenüber. Das hat, über Jahrzehnte gesehen, folgende Konsequenz: „Die abstrakte dumpfe Bösartigkeit eines Geheimdienststaates muss offenbar auf Menschen projiziert werden, auf die man zeigen kann“ (DaM-Textbuch 3 & 4, Seite 122).

Die vielfältigen Verdienste des Forschungsprojekts von Michaela Nowotnick für einen Paradigmenwechsel liegen auch in der alltagsrelevanten Methodik während des gesamten Arbeitsverlaufs der Dissertation. Sie hat nicht nur über die Akteure, sondern auch mit den Akteuren gesprochen. Nur schade, dass Hans Bergel ihr das Wort verweigert hat. Das ausführliche Interview mit Eginald Schlattner in der Dissertation ergänzt die literaturwissenschaftliche Prosa in gleichrangiger Weise. Eginald Schlattner, dessen Vita über Jahrzehnte zur ablenkenden Projektionsfläche wurde, erhält die Gelegenheit, seine Sicht auf die Dinge authentisch zu formulieren. Lebensetappen des Gefängnispfarrers werden plastisch und tragen zur Aufklärung bei.

Mit Michaela Nowotnicks Buch stehen künftigen Generationen in der rumäniendeutschen Literaturrezeption nicht nur reichhaltige Informationen zur Verfügung, sondern auch das wissenschaftliche Modell eines mitmenschlichen Dialogs.

Rolf L. Willaredt


Dr. Rolf L. Willaredt arbeitet derzeit als Programmleiter des Deutschen Sprachdiploms in Nordrhein-Westfalen (DSD NRW) bei der Bezirksregierung Arnsberg. Im Handlungsfeld „Zuwanderung aus Südosteuropa“ bietet er Fachtage zur EU-Binnenwanderung am Beispiel Rumäniens an. Der promovierte Germanist lebte als Lehrkraft, Dozent und Fachberater/Koordinator zwischen 1998 und 2013 elf Jahre in Rumänien. In dieser Zeit entstanden unter seiner Koordination und Herausgebertätigkeit unter anderem die aktuellen fünf Lehrbücher für Deutsch als Muttersprache (DaM) in Rumänien von Klasse 8 bis 12.

Michaela Nowotnick: „Die Unentrinnbarkeit der Biographie. Der Roman ,Rote Handschuhe‘ von Eginald Schlattner als Fallstudie zur rumäniendeutschen Literatur“ (Studia Transylvanica, Band 45). Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar, 2016, 359 Seiten, 50 Euro, ISBN 978-3-412-50344-4.

Schlagwörter: Rezension, Dissertation, Schlattner, Literaturwissenschaft, Geschichte, Rumänien, Siebenbürgen, Securitate, Roman

Bewerten:

36 Bewertungen: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.