4. Mai 2018

„Rumänien liegt im Herzen“

Gibt es ein Rumänien jenseits des Klischees? Das fragen sich Michaela Nowotnick und Florian Kührer-Wielach im Vorwort der von ihnen heraus­gegebenen und zur diesjährigen ­Leipziger Buchmesse erschienenen Anthologie „Wohnblockblues mit Hirtenflöte. Rumänien neu erzählen“. Antworten liefern insgesamt 27 Beiträge unterschiedlichster Couleur von 20 Autoren, die auf die eine oder andere Art mit Rumänien verbunden sind. Der augenzwinkernde Titel spielt mit dem erwähnten Klischee und verweist auf Gegensätze im Spannungsfeld von Stadt und Land, Moderne und Tradition; in Gedichten, Essays, Reiseberichten, Erzählungen, Erinnerungen manifestieren sich diese Gegenpole des Urbanen und Ruralen in Vergangenheit und Gegenwart und gehen eine reizvolle Verbindung ein.
Noémi Kiss schreibt im Reportagestil über die Auswirkungen der Revolution 1989 auf Stadtbild, Menschen, Kultur und Politik in Temeswar, während in Mara-Daria Cojocarus Spurensuche in Rumänien, einem Versuch der Annäherung an den Vater, die Lyrikerin und Philosophin durchscheint, die sie ist, und Elke Erb setzt sich mit dem Land in einer Collage aus Tagebucheinträgen, historischen Abhandlungen und Gedichten auseinander, die sich über 38 Jahre zieht. Uwe Tellkamp streift mit Mircea Cărtărescu (konsequent wie kryptisch MC genannt) durch Bukarest, das „einem Gewächs“ gleicht, besucht Kirchenburgen in Mediasch, Pretai, Birthälm und trifft schließlich in Rothberg das „Gedächtnis Siebenbürgens“, Eginald Schlattner. Jan Koneffke steuert Gedichte über zwei Grandes Dames bei: das große Bukarest und die große Dichterin Nora Iuga, und auch Roland Erb liefert Lyrik: über einen Flug – „flieg ich denn?“ – von Bukarest nach Berlin und eine „Oase“. Tanja Dückers erinnert sich an Ingeborg Bachmann als „Mitbringsel“ von ihrer Reise nach Sfântu Gheorghe, und Carmen-Francesca Banciu lädt zu einem sonntäglichen Familientreffen ein, dem letzten vor dem „Bruch zwischen Welten“.
Werner Söllner erzählt in Versen von Hunden und ihren Haltern; dazu passt Elmar Schenkels Dialog mit einer Bernsteinkatze. Alexandru Bulucz grüßt Rose (Ausländer) und denkt über die „Rumänische Moral“ nach, Jürgen Israel beschäftigt sich mit der Wechselwirkung Hameln – Siebenbürgen (die von den Brüdern Grimm aufgeschriebene Sage über die verschwundenen Kinder dient ihm dabei als Ausgangspunkt). Frieder Schullers vorab gedruckter Romanauszug über die Vernichtungslager Transnistriens und eine Aktion im Dezember 1941 ist brutal und blutig, aber so gut geschrieben, dass man wie im Rausch liest. William Totok sinnt über Alois Simtsik und seine Großmutter nach und handelt in zwei Gedichten mal eben 100 Jahre rumänischer Geschichte ab. Ein Auszug aus Eginald Schlattners neuem Band „Wasserzeichen“ könnte auch ohne Autorenangabe diesem in unverwechselbarem Duktus Schreibenden zugeordnet werden. Auch Iris Wolff hat trotz junger Schriftstellerkarriere schon ihren ganz eigenen Stil gefunden, in dem sie von einem Neubeginn im „Drachenhaus“ in der Kronstädter Schwarzgasse erzählt. Ihre fast gleichaltrige Autorenkollegin Dana Grigorcea porträtiert drei rumänische Frauen: eine Dichterin, die „Frau des Zwergs“ und „eine feine Dame aus Bukarest“. Mit Joachim Wittstock und seinem „Sanatorium Doktor Tartler“ unternimmt der Leser eine Reise durch die Zeit von 1880 bis heute und Franz Hodjak macht „Besuche“, inkl. Sinnsuche, Sehnsucht, Heimweh und einer Identitätskrise. Zum guten Schluss wird in einem Interview mit dem Schriftsteller Ingo Schulze aufgedeckt: Der gebürtige Dresdner hatte eine siebenbürgische Großmutter!

So vielfältig die Texte in „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“, so unterschiedlich deren Verfasser in Alter (die Geburtsjahre reichen von 1933 bis 1987) und Herkunft (Siebenbürger, Banater, Deutsche, Rumänen und Ungarn) auch sind, so einig zeigen sie sich in der Wahrnehmung Rumäniens als Sehnsuchtsland; es „liegt im Herzen, nirgendwo sonst“, wie Elmar Schenkel in seinem Beitrag schreibt und damit die Grundstimmung aller hier versammelten Stücke, sämtlich Erstveröffentlichungen, treffend einfängt. In dieser feinen Anthologie wird Rumänien tatsächlich „neu erzählt“, sie eröffnet andere Perspektiven und lädt zu einer literarischen Entdeckungsreise dieses südosteuropäischen Landes „zwischen Schwarzem Meer und pannonischer Tiefebene, Donautal und Karpatenrücken“ ein.

Doris Roth


„Wohnblockblues mit Hirtenflöte. Rumänien neu erzählen“, herausgegeben von Michaela Nowotnick und Florian Kührer-Wielach. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2018, 240 Seiten, 13,90 Euro, ISBN 978-3-8031-2794-5

Schlagwörter: Anthologie, Literatur, Rumänien, Rezension

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