23. April 2018

Der Todeszug von Iași

Ein heute wenig bekanntes Kapitel der rumänischen Geschichte wird in Cătălin Mihuleacs Roman „Oxenberg & Bernstein“, der in Rumänien 2014 unter dem Titel „America de peste pogrom“ erschien, aufgeschlagen. Unter der Bezeichnung „Todeszug von Iași“ oder „Iași-Pogrom“ wird die Ermordung von Tausenden von Juden am 29. Juni 1941 verstanden – eine Woche nach Eintritt Rumäniens in den Zweiten Weltkrieg unter Diktator Ion Antonescu.
Um es vorwegzunehmen: Dieser Roman ist ein großartiges, ungewöhnliches Werk, aber zugleich ein verstörend grausames. Das Geschehen entwickelt sich parallel auf zwei Handlungsebenen: Die eine spielt in unserer Gegenwart (von 2000 bis 2015) mit wechselnden Schauplätzen in Iași und Washington, aber auch in Paris und Wien, die andere in den 1930er und beginnenden 1940er Jahren vorwiegend in Iași und Umgebung. Die beiden Erzählstränge wechseln sich im Handlungsverlauf ab, wobei dies für die Leser anfangs nicht erkennbar ist, zumal da keine Verbindung zwischen ihnen zu existieren scheint.

Der Prolog allerdings – verfasst von einer Suzy Bernstein aus Washington, D.C. – gibt ein paar diesbezügliche Hinweise: Sie hat (angeblich) einen Autor namens Cătălin Mihuleac beauftragt, ihre Erlebnisse – literarisch veredelt – zu erzählen und „zum Zweiten hatte er eine Geschichte so mit einer anderen Geschichte zu verflechten, dass die Spannung des Buches erhalten bleibt. Jene andere Geschichte habe ich als fertige Geschichte geschenkt bekommen, Sie werden sehen, wann und wie. Schließlich habe ich ihm erlaubt, das Werk mit seinem Namen zu versehen.“ Ob sich Mihuleac durch diesen Kunstgriff hinter einer von ihm (teilweise) fingierten Geschichte verbirgt oder das Erzählte beglaubigen will, bleibt offen. Spannend sind aber beide Geschichten erzählt. Und nicht nur das: Sie sind humorvoll, mit viel Wortwitz und Situationskomik, wenn einem das Lachen auch – angesichts der historisch verbürgten schrecklichen Ereignisse – meist im Halse stecken bleibt.

Der Roman besteht aus vier Teilen, die in Kapitel untergliedert sind. Sie beginnen mit der „Karriere“ der 33-jährigen Sanziana Stipiuc, der Buchhalterin des Kaufhauses Moldova, die Dora Bernstein und deren Sohn Ben aus den USA als Stadtführerin 2001 durch Iași begleitet. Schnell gewinnt sie deren Vertrauen und durch eine Heirat mit dem 50-jährigen Ben gelangt sie in die Vereinigten Staaten. Die jüdischen Bernsteins betreiben ein lukratives Secondhand-Kleidergeschäft („Bernstein-Vintage“) und dehnen mit Hilfe von Sanziana, die jetzt Suzy heißt, den Handel erfolgreich auf Rumänien aus. Diese Geschäfte werden detailliert und sarkastisch geschildert.
Parallel werden der berufliche Werdegang des begnadeten und geschäftstüchtigen Gynäkologen Jacques Oxenberg und sein Familienleben mit Ehefrau Roza sowie den Kindern Lev und Golda erzählt. Er behandelt vor allem Patientinnen der „gehobenen“ Gesellschaft und ist sehr gefragt wegen der perfekten Ausführung des Kaiserschnitts. Dies erweckt Neid und Hass, vor allem bei rumänischen Männern, die es nicht ertragen können, dass ihre Frauen von einem Juden „befingert“ werden. Schon während seines Medizinstudiums hatte er den rumänischen Antisemitismus zu spüren bekommen. Trotz der sich häufenden Schikanen durch faschistische „Legionäre“ absolviert er das Studium in Iași, während viele seiner jüdischen Kommilitonen emigrieren. Die sich häufenden Anfeindungen rumänischer Nationalisten und Faschisten erkennt er nicht als Zeichen der Zeit; er „hatte den Antisemitismus stets als eine vorübergehende Modeerscheinung gehalten“. Nach der heimlichen Entbindung der Geliebten eines einflussreichen Politikers glaubt Oxenberg einen „Schutzengel“ gefunden zu haben, der ihn und die Seinen vor Verfolgungen bewahren wird.

Doch die politischen Ereignisse überstürzen sich in den nächsten Jahren. Schließlich entlädt sich der Judenhass in dem mehrtägigen Pogrom Ende Juni 1941, bei dem über 13000 Juden sterben. Auch die Familie Oxenberg wird zerrissen. Die Verbindung zum Erzählstrang um die Familie Bernstein wird erst am Schluss aufgedeckt.

Problematisch ist die mitunter sehr drastische, z.T. obszöne Schilderung sexueller Handlungen, die der Autor in einem Interview mit Mirko Schwanitz im Deutschlandfunk Kultur (die Sendung „Lesart“ vom 20. März ist über die Mediathek abrufbar) zu erklären versuchte. Problematisch scheint mir auch die Verwendung von (anti)semitischen Klischees (z.B. Geschäftstüchtigkeit, Geldgier u.a.), die zu einer ungewollten bzw. missverständlichen Lesart des Erzählten führen könnten.

Die Übersetzung durch Ernest Wichner ist sehr gut gelungen, wie stichprobenartige Vergleiche mit der rumänischen Fassung ergeben. (Anm. d. Red.: Wichner war für diese Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2018 nominiert.) Fazit: Ein wichtiger Roman, der über die furchtbaren historischen Ereignisse in Iași aufklärt, die von der rumänischen Geschichtsschreibung lange vernachlässigt wurden. Bertolt Brechts oft zitierter Satz „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das Unheil kroch“ aus seinem Theaterstück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ (geschrieben 1941, erschienen 1957) bleibt nach wie vor aktuell.

Konrad Wellmann


Cătălin Mihuleac: „Oxenberg & Bernstein“. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien, 2018, 368 Seiten, 24 Euro, ISBN 978-3-552-05883-5.
Oxenberg & Bernstein: Roman
Catalin Mihuleac
Oxenberg & Bernstein: Roman

Paul Zsolnay Verlag
Gebundene Ausgabe
EUR 24,00
Jetzt bestellen »

Schlagwörter: Roman, Rezension, Zweiter Weltkrieg, Juden, Geschichte, Jassy

Bewerten:

15 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.