4. April 2018

Helmut Erwert legt mit "Elli oder Die versprengte Zeit" einen vielschichtigen zeitgeschichtlichen Roman vor

Die umfangreiche Erzählung überschaut das vergangene Jahrhundert, die beiden Weltkriege mit Blick auf den Südosten Europas. Von der Jahrtausendschwelle wird Rückschau gehalten auf die 30er und 40er Jahre mit der kriegerischen Unterwerfung Jugoslawiens 1941 durch das Dritte Reich, dem Einmarsch der Roten Armee im Oktober 1944 und die Gewaltexzesse der Tito-Partisanen in ihrem Gefolge. Diese überindividuellen Verhängnisse spiegeln sich im Leben der Kleinstadt Weißkirchen/Bela Crkva im westlichen Banat, der Geburtsstadt des Romanautors Helmut Erwert, an der Nahtstelle zwischen Mitteleuropa und dem Balkan. Fünf Kapitel der Erzählung sind durch jeweils eine Seite mit Fotos zum Zeitkolorit illustriert.
Formal gesehen ist Erwerts Roman „Elli oder Die versprengte Zeit“ in eine Rahmenhandlung eingebettet: Im Auftrag des Internationalen Tribunals in Den Haag wendet sich der Brüsseler Diplomat Jérôme an seinen pensionierten Berufskollegen Ferdinand Weinhöpl, bittet ihn um Hilfe bei der Aufklärung über das Leben der Hauptperson Elli, die einen Briefwechsel mit einem gesuchten jugoslawischen Fliegeroffizier namens Tihomir ivković pflegte. Die Anfrage steht in Zusammenhang mit dem Internationalen Strafgerichtshof, der einem als Kriegsverbrecher Verdächtigen unter diesem Namen auf der Spur ist. Daraufhin erzählt Weinhöpl den Lebensablauf seiner Cousine, mit der er stets eng verbunden war. Er beabsichtigt, Elli von jedem Verdacht zu befreien, und schildert ihre humane, allem Militärischen abholde Einstellung. Sie begegnet den in der Stadt lebenden Minderheiten interessiert und respektvoll und bewegt sich gewandt in ihren Milieus.
Romanautor Helmut Erwert auf der Frankfurter ...
Romanautor Helmut Erwert auf der Frankfurter Buchmesse 2017. Foto: Thomas Dapper
Der Autor arbeitet mit szenischen Rückblenden. In der Rolle von Ellis Sohn Reinhard – seinem Alter Ego – ergänzt und kommentiert er den Haupterzähler durch eingeschobene kindlich-spontane, aus der unmittelbaren Wahrnehmung stammende und daher lyrisch anmutende Tagebuchnotizen. Protokollartige Beobachtungen, die von dem Weißkirchener Bürger Anton Baumgärtel über die Zeit der Verfolgung und Internierung der Deutschen überliefert sind, streut Erwert grau hinterlegt ein. In ihrer orthografischen Fehlerhaftigkeit sind sie ein Indikator für die rudimentäre muttersprachliche Beschulung des Schreibers in dem südslawischen Vielvölkerstaat und wirken doch erschütternd zeitnah.

Gemälde eines pulsierenden Lebens

So entfaltet sich das Gemälde eines pulsierenden Lebensraums mit levantinischer Exotik. Eine heute längst durch den Schwund der deutschen, jüdischen und russischen Minderheiten in diesem Gebiet verarmte und durch Normierung, Massenkonsum und Globalisierung eingeebnete Welt feiert hier Auferstehung. Die Deutschen, die einst in Weißkirchen die Mehrheit bildeten, sind in ethnologischer, sprachlicher, kultureller und historisch-geografischer Hinsicht authentisch dargestellt, ebenso alle anderen Völkerschaften dieses multiethnischen Mikrokosmos’ – Serben, Kroaten, Bosnier, Tschechen, Ungarn und Rumänen, auch Juden, Zigeuner und Exilrussen.

Unter „Beschreibungsimpotenz“ (P. Handke) leidet der Autor Erwert definitiv nicht. Ihm gelingt es vielmehr, nicht nur Szenen und Bilder, sondern auch komplexe Zusammenhänge anschaulich darzustellen und in gültige Sätze zu gießen, die prägnanter kaum sein könnten. So bringt er Sitten und Gebräuche der Banatschwaben, ihre Küche, das übliche Heiratsverhalten, ihr bäuerliches Leben auf den Punkt, schildert das Treiben auf dem Marktplatz in Gradište, beschwört den ländlichen Frieden in seiner „Herzensheimat“ Sartscha herauf, ebenso den täglichen Viehtrieb, die beginnende Verwesung einer aufgebahrten Leiche, die Melonenkühlung im Radbrunnen. Atmosphärisch bestechend entsteht vor dem geistigen Auge des Lesers ein Panorama des kulturellen Reichtums einer gesellschaftlichen Gemengelage mit ihrer zivilisatorischen und religiösen Farbigkeit.
Der stellvertretende Ministerpräsident Thomas ...
Der stellvertretende Ministerpräsident Thomas Strobl (links) überreicht dem Romanautor Helmut Erwert die Urkunde über die Zuerkennung der Ehrengabe des Donauschwäbischen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg 2017. Foto: Katharina P. Müller, HdH BW
Elli steht in der Tat in Beziehung zu einem umtriebigen Testpiloten mit dem gleichen Namen wie der vom Tribunal gesuchte Verdächtige. Wegen seiner Dienstverpflichtung ist ihr Freund oft lange abwesend, sein Aufenthalt in der Fremde ist wegen militärischer Geheimhaltung undurchsichtig. Trotz ihrer kulturübergreifenden Aufgeschlossenheit entscheidet sich die junge, attraktive Frau letztlich für den Kaufmann Johann Willar aus ihrem eigenen Kulturkreis, dessen politikferne Menschlichkeit, mit Zivilcourage gepaarter Pazifismus, seine musische Sensibilität und solide Bescheidenheit ihren Eindruck auf Elli nicht verfehlen. Das Paar gründet eine Familie, baut eine wirtschaftliche Existenz auf.

Gewalt und Terror führen zu einem radikalen Zivilisations- und Kulturbruch

Was mit einem Beziehungsdrama begann, entwickelt sich zu einem Familienroman in bürgerlicher Existenz und verwandelt sich allmählich zu einer zeitgeschichtlichen Tragödie. Der Einmarsch der Deutschen in Jugoslawien, der Zwietracht säende Einfluss eines fernen Führers und seiner NS-Partei bedeuten in diesem serbischen Teil des Banats die Umstrukturierung der Verwaltung, die Umbenennung von Straßen und Ortsnamen. Zunehmender Mangel an Waren des täglichen Bedarfs macht die Veränderungen spürbar. Nationalistische Engstirnigkeit und ideologische Verblendung züchten gegenseitiges Misstrauen und Feindseiligkeit, zerstören das bis dahin gute Zusammenleben der Ethnien und führen durch Gewalt und Terror in einen radikalen Zivilisations- und Kulturbruch.

Elli ergreift mit ihren Kindern rechtzeitig die beschwerliche Flucht nach Deutschland und entgeht so dem Schicksal ihrer zurückbleibenden Landsleute, die vom kommunistischen Partisanen-Regime unter Tito entrechtet und enteignet, ausgeplündert, zur Zwangsarbeit interniert, in die Sowjetunion deportiert werden. Speziell die besitzenden und einflussreichen Mitglieder der deutschen Volksgruppe fallen bestialischer Folter und zahlreichen Massenerschießungen zum Opfer, während man die nicht Arbeitsfähigen in einem System von Todeslagern durch Hunger, Kälte und Krankheit dezimiert. Auch Serben und Angehörige anderer Volksgruppen werden von den neuen Machthabern als Kollaborateure hingerichtet, wenn sie – wie etwa der feinsinnige Richter Nikšić – nach allen Seiten gerecht zu handeln versuchen.

Während des Krieges ist Ellis Kontakt zu ihrem an der Front stehenden Mann nie abgerissen. In Zeiten des Friedens kann sie aber trotz aller Suchmeldungen übers Rote Kreuz keinen Kontakt mehr zu ihm herstellen. Erst als ihr früherer Freund, der Fliegeroffizier, am Schluss des Romans wieder auftaucht und sie in ihrer ärmlichen Wohnung in Deutschland besucht – auch er von Krieg und Verlust gezeichnet und seiner in Hass und Niedertracht versunkenen Heimat entflohen –, klärt sich das Vermisstenschicksal ihres Manns auf.

Der unerwartete Besucher berichtet, wie der Soldat Willar, der sich offenbar keiner persönlichen Schuld bewusst sein konnte, freiwillig in seine jugoslawische Heimat zurückkehren will, dabei in britische Kriegsgefangenschaft gerät. ivković begleitet zu dieser Zeit als Verbindungsoffizier die Transporte von deutschen Kriegsgefangenen, die von der britischen Besatzungsmacht bedenkenlos nach Jugoslawien ausgeliefert werden, und sieht Johann Willar noch einmal lebend, bevor dieser zusammen mit anderen Deutschen von Partisanen ermordet und in eine Schlucht gestürzt wird.

Tihomir ivković macht der noch jungen Frau in ihren Dreißigern jetzt endlich einen Heiratsantrag, doch in ihrer Treue zu Mann und Kindern bringt sie es nicht fertig, eine neue Partnerschaft einzugehen. Der Roman endet mit dem Tod Ellis, der Stellvertreterin aller schuldlos bestraften und ins Unglück gestürzten Jugoslawiendeutschen. Der Ring schließt sich. Während Elli das Morden in Sarajewo auf der Mattscheibe verfolgt, sinkt sie leblos zusammen. Hier treffen sich die „Ereignislinien“ der unschuldigen Opfer von damals und heute. Die Verbrechen gegen Minderheiten, die Opferlisten, die Foltermethoden und Massenmorde wiederholen sich in den jugoslawischen Sezessionskriegen, abermals tobt sich die „dumpfeste Unvernunft“ aus. Ein Finale als Menetekel.

Gleichnis von störanfälligen multiethnischen Balancezuständen

Im Ganzen macht dieser Roman die Vergänglichkeit aller etablierten Verhältnisse deutlich. Er kann als Gleichnis auf die Störanfälligkeit von multiethnischen Balancezuständen gesehen werden, gleichgültig, ob der Störenfried von außen oder von innen kommt. Das Zusammenleben in Vielfalt kann gelingen, ist äußerst interessant und anregend, jedoch stets auch fragil und gefährdet. Im Banat und in der Woiwodina war ein eng zusammenlebendes Europa im kleinen Maßstab schon einmal musterhaft gelungen. Der Autor singt das hohe Lied einstiger Harmonie, unterschlägt aber auch nicht den tragischen Umschwung in Hass und Verfolgung, den unwiderruflichen Untergang sich gegenseitig bereichernder Verschiedenheit. Mit einer Konstellation von ausgeprägten Charakteren zeigt der Erzähler, wie die Strömung der Zeit sie fortreißt, sie verschlingt oder sie schwimmen lehrt und verwandelt wieder an Land setzt.

Südosteuropäische Lebenswelten, Polarisierungen und Katastrophen

Helmut Erwert ist ein Zeitgenosse mit viel Lebenserfahrung geworden, bis er das Erscheinen seines ersten Romans erleben durfte, womöglich zugleich des letzten Romans aus der Feder eines noch im Jugoslawien der Vorkriegszeit geborenen Volksdeutschen. Er ist aber kein Spätberufener, denn schon als Gymnasiast lockte ihn das belletristische Schreiben, trug er Romanstoffe in sich herum, motiviert vor allem durch die dramatischen Umstände seines eigenen Lebens im serbischen Banat. Als Flüchtlingskind und Sohn einer Kriegerwitwe, die im zerstörten Deutschland drei unmündige Kinder durchzubringen hatte, wagte er nicht, sich Träumen von einer Existenz als Literat hinzugeben. Er studierte in München Germanistik, Anglistik und Geschichte, wurde Gymnasiallehrer, publizierte Aufsätze zur Spracherforschung und konzipierte Lehrbücher zur Sprachvermittlung. Aus der Geburtsheimat herausgerissen, verlor Erwert als Kind den Vater und die Großeltern durch Kriegsverbrechen, wuchs bei einer überforderten allein stehenden Mutter im Unvertrauten auf, entwickelte ein starkes Bestreben, sich neu zu verwurzeln. Zwanzig Jahre lang widmete er sich der jüngeren Geschichte seiner Zweitheimat in Niederbayern, schöpfte aus amerikanischen Quellen, um fundierte regionalhistorische Werke zu verfassen, für die er vom Kreistag des Landkreises 2015 mit der Josef-Schlicht-Medaille ausgezeichnet wurde. Die Vorgänge in seinem südosteuropäischen Herkunftsraum verlor er jedoch ebenso wenig aus den Augen wie sein Romanprojekt. Viel zu sehr brannte ihm das Schicksal seiner Generation, die Erinnerung an die verlorene Heimat auf der Seele. Er führte Interviews mit inzwischen verstorbenen Zeitzeugen aus Pannonien, las Quellen und zeitgeschichtliche Bücher, die er auswertete und rezensierte. Im Laufe besonders seiner Pensionistenjahre entstanden Gedichte und kleine Erzählungen, die ihm den epischen Raum öffneten, eine südosteuropäische Epoche mit ihren Lebenswelten und Mentalitäten, Polarisierungen, Umbrüchen und Katastrophen darzustellen. Dabei ist ein nahezu lebenslang gereifter Roman entstanden, der autobiografische Tatsachen und historische Hintergründe verflicht und personalisiert, in repräsentativen Figuren berührend individuell macht und ins Poetische hebt – in eine Fiktion, die gesättigt ist mit geschichtlicher Realität.

Hochaktuelles Werk über Flüchtlingsströme

Der Roman „Elli oder Die versprengte Zeit“ leistet ehrliche Aufarbeitung und verlangt sie zugleich. Denn – wie der Epilog verrät – alles Vergangene bleibt unabschließbar gegenwärtig. Immer noch sind die Beziehungen zwischen den Völkern und Minoritäten in Ostmitteleuropa von einstigen Freveltaten kontaminiert. Nur ehrliche, vorbehaltlose Annäherung kann sie entschärfen und weiteren Wiederholungen vorbeugen. Dieser Satz ist explizit nirgends im Roman zu finden, nirgends wird hier Moral gepredigt oder mit erhobenem Zeigefinger operiert, auf keiner Seite werden Rezepte erteilt. Dennoch ist dieses literarische Werk angesichts der weltweiten gesellschaftlichen und politischen Unverträglichkeiten und der neuen Flüchtlingsströme hochaktuell. Aus seiner poetischen Wirklichkeit erschließt sich eine Reihe von nachdenklich stimmenden Folgerungen. Gewissenhaft und unparteiisch überliefert und verdichtet hier ein Zeitzeuge leidvolle geschichtliche Umwälzungen, macht als selbst zutiefst erschüttertes und bekümmertes Opfer anschaulich, wie einst friedlich miteinander lebende Gesellschaften schuldhaft eine blühende Welt toleranten Neben- und Miteinanders zerstörten. Eindrücklich stellt der Autor den Nachfahren als Aufgabe anheim, niemals ein Fehlverhalten – gleich von welcher Seite – zu unterschlagen und nie Versöhnung zu suchen, die statt echter nur einseitige oder pauschalisierende Aufarbeitung leistet.

Nach Erscheinen seines Romans hat Helmut Erwert sein Werk auf der Frankfurter Buchmesse am Stand des Patrimonium-Bernardusverlags vorgestellt und Interviews gegeben (siehe Youtube: Interview 1 und Interview 2) und ist kurz danach mit dem Ehrenpreis des Donauschwäbischen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet worden. Dies ehrt die Jury, lässt auf weitere Anerkennung hoffen und empfiehlt den Roman der breiten Öffentlichkeit.

Stefan P. Teppert

Helmut Erwert: Elli oder Die versprengte Zeit. Roman, Patrimonium-Verlag, Heimbach/Eifel, 324 Seiten, 14,80 Euro, ISBN-10: 3-86417-100-8

Schlagwörter: Rezension, Flucht und Vertreibung, Südosteuropa, Banat, Donauschwaben, Roman

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