16. März 2018

Zweiter Band des Kronstädter Museums zu Geschichte und Identität der Siebenbürger Sachsen

Die Studie des Ethnographischen Museums Kronstadt „Sașii despre ei înșiși – Die Siebenbürger Sachsen über sich selbst“ erschien 2015 im Verlag Transilvania Expres der Stadt. Die zweisprachige Publikation enthält Interviews, die fünf Wissenschaftler – Historiker und Volkskundler – unter der Leitung von Dr. Ligia Fulga in den Jahren 1999-2000 und 2013-2014 mit Gewährspersonen aus Neustadt im Burzenland geführt hatten. Der Kronstädter Kreisrat finanzierte die Ausgabe.
Das von Ligia Fulga in der Einleitung erklärte wissenschaftliche Anliegen der Untersuchung war es, das Verhältnis von Gedächtnis (Erinnerung) und Identität zu erforschen, die Dynamik von Tradition sowie den Urbanisierungsprozess einer Dorfgemeinschaft am Beispiel Neustadts in der Zwischenkriegszeit und während des Kommunismus in Rumänien zu dokumentieren. Dass solches erst nach dem massiven Exodus auch der Neustädter Sachsen geschah, ist zwar bedauerlich, jedoch auch folgerichtig nicht nur, weil erst aus der retrospektiven Distanz das Erlebte den Menschen bewusst wird, sondern weil die Forschung Daten erfassen wollte und musste, bevor sie verlorengehen. Der erste Band einer geplanten Reihe galt den Gemeinden Deutsch-Weißkirch und Meschendorf (2009).

Anhand von sechs Schlüsselthemen hat ein Wissenschaftlerteam das von Neustädtern „über sich selbst erzählte Leben als Archiv für künftige Generationen“ angelegt und Geschichte realer Lebensverhältnisse und deren Selbstinterpretation durch Betroffene in Beziehung gesetzt. Dieser Forschungsansatz für Prozesse in der jüngsten Geschichte der Siebenbürger Sachsen ist neu und interessant.

Allgemeine Einführungen am Anfang des Bandes zu Geschichte und Identität der Siebenbürger Sachsen stammen von Dr. Konrad Gündisch und Dr. Ligia Fulga, eine Beschreibung des Burzenlandes von Dr. Alina Mandai. Als wissenschaftlicher Gutachter des Forschungsunternehmens fungiert der Kulturhistoriker und Denkmalpfleger Dr. Dr. h. c. Christoph Machat, der seit Jahren die Tätigkeit der Kronstädter Ethnologen beratend unterstützt.

Bei den beiden Befragungsaktionen wurden 29 Gewährspersonen, Frauen und Männer, kontaktiert, andere haben ihr Wissen in Briefen und Telefonaten übermittelt. Den Nachlässen von Lehrer Michael Farsch (Geschichte der Blasmusik und ehemalige Lehrertracht) und Martha Galter/Hergetz wurden Kapitel und Passagen entnommen. Eine detaillierte, vollständige Bestandsaufnahme der Gewerbe- und Industriebetriebe in Neustadt zwischen 1848 und 1948 – ein sehr nützliches Dokument – hat Helfried Götz, Vorsitzender der HOG Neustadt, geliefert. Die fachlich und stilistisch einwandfreie Übersetzung der rumänisch geführten und von Kassetten transkribierten Interviews ins Deutsche stammen vom Literaturwissenschaftler Dr. Horst Schuller. Bei der Einordnung, Überprüfung und Korrektur von Fakten und Daten in den Antworten der Befragten ist Rosemarie Chrestels eine wichtige Rolle zugefallen, ihre Kommentare stehen jeweils am Seitenrand blau markiert.

Themenbereiche der Befragungen sind „Dorf, Haus und Hof“, „Berufe und Handwerk, Werkstätten und kleine Fabriken“, „Gemeindeleben im Jahresverlauf“, ein sehr umfangreiches und ins Detail gehendes Kapitel wird „Kleidung, Tracht und Zeitmode“ gewidmet, „Schule fürs Leben“ schließt den Band ab. Jedem der sechs größeren Themenbereiche geht jeweils eine wissenschaftliche Zusammenfassung voraus, die es dem Leser ermöglicht, die Ergebnisse der Feldforschung einzuordnen. Der Anhang enthält bibliographische Angaben zu jedem Kapitel und die Liste einer Auswahlbibliographie. Nützlich ist auch ein zweisprachiges Glossar von Wörtern im Neustädter Dialekt, das Rosemarie Chrestels erstellt hat.

Reichhaltiges Bildmaterial, Karten, Fotos aus Archiven, Sammlungen des Kronstädter Museums und des Neustädter Schulmuseums, aber auch von mehreren Privatpersonen sowie die Fotos der Befragten illustrieren die Texte, sie wurden von Árpád Udvardi fachmännisch bearbeitet und reproduziert.

Die Studie ist kein Heimatbuch und auch keine Ortschronik, aber sie enthält eine Vielzahl von Daten, die durchaus hineingehören würden. Durch das lebendige Erzählen über „Gewesenes“ von mehreren Personen zum gleichen Thema und als Wiederholung im Abstand von zehn Jahren auf dem Hintergrund wissenschaftlichen Kommentars erschließt sich dem Leser nicht nur das Leben einer Dorfgemeinschaft mit unzähligen Details, die ein Heimatbuch gar nicht aufnehmen könnte, die aber Geschichte veranschaulichen. Auf diese Weise ist ein eindrucksvolles Panoramabild aus vielen Mosaiksteinen über die Gemeinde Neustadt entstanden mit besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Blütezeit Neustadts in der Zwischenkriegszeit. Dass viele positiv gewachsene Strukturen und Werte durch den radikalen Umbruch nach 1945 vernichtet wurden, ist mehreren Schilderungen der Befragten zu entnehmen. Überraschend ist aber gleichzeitig, dass ideelle Werte, Haltungen, Arbeitsethos, handwerkliches Können, Gewohnheiten, Rituale, Bräuche trotz brutaler politischer Einschnitte wie Deportation, Enteignung, Zwangsaufenthalt und Entrechtung weitergegeben und bis ins heutige Leben der Diaspora erhalten wurden. Zu solchen Werten gehören eben auch die Erinnerung und der Transfer von historischem Wissen, was die bebilderten Erzählungen und deren wissenschaftliche Auswertungen im Buch illustrieren. So ist die vorliegende breit angelegte ethnologisch-ethnographische Studie des Kronstädter Museums sehr zu loben und den Wissenschaftlern ist für ihre Arbeit sehr zu danken, aber auch ihren Dialogpartnern, die sich und ihr Wissen zur Verfügung gestellt haben, sowie allen anderen Mitwirkenden.

Gudrun Schuster



Ligia Fulga (coord./Hg.) Sașii despre ei înșiși – Die Siebenbürger Sachsen über sich selbst. Vol. II/Band II, Cristian/Neustadt bei Kronstadt. Editura/Verlag Transilvania Expres, Brașov/Kronstadt 2015, 374 Seiten, ISBN 978-606-634-122-6, erhältlich zum Preis von 95 Lei im Ethnographischen Museum (Muzeul de Etnografie), Bulevardul Eroilor 21A, 500030 Brașov, und ALDUS Antiquariat bei der Schwarzen Kirche, Piața Sfatului 18, 500031 Brașov.

Schlagwörter: Forschung, Buchvorstellung, Geschichte, Kronstadt, Museum

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