30. Juni 2017

Luthers Erbe im Karpatenbogen

Der Historiker Dr. Dr. Gerald Volkmer hielt bei einer Festveranstaltung am 3. Juni 2017 in der St. Paulskirche in Dinkelsbühl einen hervorragenden Festvortrag zum Thema „500 Jahre Reformation und 60 Jahre Patenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen“, der im Folgenden ungekürzt wiedergegeben wird.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, haben Sie schon einmal von „kontrafaktischer Geschichte“ gehört? Diese von der Historikerzunft skeptisch beäugte Teildisziplin definiert sich vor allem durch eine Frage: Was hätte sein können, wenn …?

Das besonders in der angelsächsischen Literatur beliebte Genre erfreut sich inzwischen auch in Deutschland immer größerer Beliebtheit, z.B. durch Bücher wie „Nachdem Martin Luther Papst geworden war und die Alliierten den Zweiten Weltkrieg verloren hatten“ (Georg Ruppelt, Wehrhan Verlag 2007). Als mir der Titel in die Hände fiel, musste ich an folgende alte Lebensweisheit denken: Man schätzt die Dinge erst, wenn man sie verloren hat.

Angesichts unserer heutigen Festveranstaltung, die im Zeichen des Beginns der Reformation vor 500 Jahren steht, liegt die Frage auf der Hand: Wie sähe unsere Welt aus, wenn es Martin Luther nicht gegeben hätte? Oder präziser gefragt: Wenn Martin Luther im Oktober 1517 nicht seine 95 Thesen formuliert hätte – denn offensichtlich kann sich die kontrafaktische Geschichte Luther auch als Papst vorstellen.

Die Antwort ist natürlich nicht leicht zu finden. Bezogen auf unsere heutige Veranstaltung fallen mir dazu spontan folgende Fragen ein: Säßen wir dann überhaupt als Siebenbürger Sachsen hier? Welche Merkmale hätten unter diesen Umständen eine siebenbürgisch-sächsische Identität bestimmt?

Sie sehen, es kommt mir heute vor allem darauf an, die Auswirkungen des Wittenberger Thesenanschlags vor 500 Jahren in den Vordergrund zu heben. Die Reformation in Siebenbürgen stellte natürlich nur eine dieser Folgen dar. Die erste protestantische Messe wurde auf dem Gebiet der Siebenbürger Sachsen erst 1542, nämlich in der Kronstädter Stadtpfarrkirche, gefeiert, also genau 25 Jahre nach dem Ereignis, dessen wir heute gedenken. In der Hoffnung, dass wir uns in 25 Jahren wieder hier einfinden werden, um 500 Jahre Reformation bei den Siebenbürger Sachsen zu feiern, kehre ich nun zum Ausgangspunkt des Ereignisses „Reformation“ zurück.
Eine sehr frühe Ansicht von Kronstadt macht ...
Eine sehr frühe Ansicht von Kronstadt macht dieses „Geistreiche Cronstädtische Gesang-Buch“ von 1751 zur bibliophilen Kostbarkeit. Das typisch barocke Gesangbuch aus der Seulerschen Buchdruckerei mit dem Kupferstich als Frontispiz ist stark vom Geist des Pietismus geprägt. Archiv des Friedrich-Teutsch-Hauses Hermannstadt. Fotos und Bildtexte: Konrad Klein
Man kann sich Luthers Thesenanschlag wie einen Schneeball vorstellen, der nicht nur eine, sondern unzählige Lawinen ausgelöst hat, die sich in alle Richtungen über den gesamten Erdball ausgebreitet und die Welt verändert haben. Heute möchten wir aber nur den Karpatenbogen in den Blick nehmen. Da ich Sie nicht mit einem detaillierten chronologischen Durchgang durch die gesamte protestantische Kirchengeschichte Siebenbürgens langweilen möchte, konzentriere ich mich auf ein paar Wegmarken. Diese werde ich in Form von zwölf kurzen Querschnitten vornehmen, die im Abstand von fünf Jahren anzusetzen sind.

1. Querschnitt: Luthers Thesenanschlag: 1517

Luther protestiert gegen den Zustand und die Praktiken in der katholischen Kirche. Insbesondere der aufdringlich durchgeführte Ablasshandel erbost den Theologieprofessor aus Wittenberg und bewegt ihn, seine 95 Thesen zu formulieren.

2. Querschnitt: 5 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1522

Luther veröffentlicht im September 1522 die erste von ihm ins Deutsche übersetzte Ausgabe des Neuen Testaments. Gleichzeitig kursieren in Ungarn und Siebenbürgen die ersten Lutherschriften, die von Kaufleuten, Studenten oder Wanderpredigern aus Deutschland mitgebracht wurden. Die von ihnen vor allem in den deutschsprachigen Städten des Donau-Karpatenraums ausgelösten theologischen Debatten missfallen dem ungarischen König und dem Erzbischof von Gran.

3. Querschnitt: 10 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1527

Ungarn wird von einem erbitterten Bürgerkrieg erschüttert. Ein Jahr zuvor war das Heer des ungarischen Königs in der Schlacht von Mohács von Sultan Süleyman dem Prächtigen vernichtend geschlagen worden. Da der König dort den Tod fand, wurden anschließend sowohl Ferdinand von Habsburg als auch der siebenbürgische Woiwode Johann Szapolyai zu ungarischen Königen gewählt. Zum letzten Mal befasst sich der ungarische Reichstag 1527 mit der Religionsfrage und bedroht alle Lutheraner im Land mit der Todesstrafe.

4. Querschnitt: 15 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1532

In Deutschland hat sich mit dem Augsburger Bekenntnis von 1530 die lutherische Konfession als Kirche konstituiert. Um sich gegen die Habsburger behaupten zu können, unterstellte sich der ungarische Gegenkönig Johann Szapolyai dem Sultan als Vasall. Der Eingriff der Osmanen in den ungarischen Bürgerkrieg führte nach der ersten Belagerung Wiens (1529) im Jahr 1532 zum zweiten Angriff der Osmanen auf die habsburgische Metropole, deren Tore er aber nicht mehr erreichte. Unter diesen Umständen halten in Siebenbürgen nur noch die Hermannstädter den Habsburgern die Treue, eine Haltung, die ein gewisser Johannes Honterus, damals noch ein katholischer Humanist aus Kronstadt, sehr begrüßt, der sich gerade in Basel aufhält und seine dort 1532 herausgegebene Siebenbürgen-Karte dem „an Ehren reichen Rat von Hermannstadt“ widmet.

5. Querschnitt: 20 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1537

Die Bürgerkriegsparteien in Ungarn sind erschöpft und müssen erkennen, dass ein Sieg über die jeweils andere Seite nicht möglich sein wird. Die aufgenommenen Verhandlungen führen ein Jahr später zum Frieden von Wardein, der das Land in einen habsburgischen Westen und einen Szapolyai-Osten mit Siebenbürgen als Machtbasis teilt. Johannes Honterus, der in dieser Zeit vor allem als Drucker in Erscheinung tritt, wagt – wie andere Humanisten in Ungarn – noch nicht den offenen Bruch mit der katholischen Kirche, da die beiden ungarischen Könige, aber auch der Kronstädter Stadtrichter Lukas Hirscher, dem alten Glauben treu bleiben.

6. Querschnitt: 25 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1542

Der ungarische Bürgerkrieg ist erneut ausgebrochen, nachdem Johann Szapolyai 1540 gestorben ist und einen Säugling als Thronerben hinterlassen hat. Bevor die Habsburger die Oberhand gewinnen können, greift der Sultan entschlossen in Ungarn ein, besetzt dessen Hauptstadt Ofen 1541 und wandelt Zentralungarn in eine osmanische Provinz um.

Als ein Reichsheer im Auftrag der Habsburger 1542 Ofen angreift und vollständig scheitert, wird deutlich, dass es den Habsburgern auf absehbare Zeit nicht mehr gelingen wird, das gesamte Ungarn unter ihre Herrschaft zu bringen. Nicht zufällig wird in Kronstadt im Oktober dieses Jahres der erste lutherische Gottesdienst in der Stadtpfarrkirche gefeiert. Der neue Kronstädter Stadtrichter Johann Fuchs und Johannes Honterus bekennen sich nun offen zur Reformation und beginnen mit ihrer Verbreitung unter den Sachsen, zunächst im Burzenland. Im darauffolgenden Jahr wird auch in Hermannstadt mit Hilfe des Stadtrates die Reformation eingeführt.

7. Querschnitt: 30 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1547

Luther ist vor einem Jahr verstorben. Drei Jahre zuvor befürwortete er mit den Wittenberger Reformatoren Melanchthon und Bugenhagen das von Honterus verfasste „Reformationsbüchlein“. Auf dessen Grundlage beschließt 1547 ein von der Sächsischen Nationsuniversität eingesetzter „Rat gelehrter Männer“ die „Kirchenordnung aller Deutschen in Siebenbürgen“. Noch im selben Jahr wird sie in der Honterus-Druckerei verlegt.

8. Querschnitt: 35 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1552

Zwei Jahre zuvor, 1550, erklärte die Sächsische Nationsuniversität die neue „Kirchenordnung“ für das gesamte Selbstverwaltungsgebiet der Sachsen, den sogenannten „Königsboden“, als verbindlich. Sie verfolgte damit auch das Ziel, eine Spaltung der Sachsen in Glaubensfragen zu vermeiden. 1551 geschieht das Unerwartete: Den Habsburgern gelingt es, Siebenbürgen zu besetzen. Welche Auswirkungen würde dieses Ereignis auf die noch jungen lutherischen Gemeinden der Sachsen haben? Es hatte – ebenso unerwartet – keine.

Unter dem Eindruck heftiger osmanischer Angriffe ist die kleine habsburgische Söldnerarmee in Siebenbürgen auf die Unterstützung der inzwischen lutherischen Nationsuniversität der Sachsen, die König Ferdinand die Treue hält, angewiesen. Ferdinand ist darüber hinaus um einen Ausgleich mit den Lutheranern in Deutschland bemüht und schließt 1552 den Passauer Vertrag sowie drei Jahre später den Augsburger Religionsfrieden ab, der das Augsburger Bekenntnis reichsrechtlich anerkennt. Dieser Hintergrund macht deutlich, dass die Habsburger nicht in der Lage waren, eine Rückkehr der Siebenbürger zum katholischen Glauben gewaltsam zu erzwingen. Dementsprechend bekräftigt am 22. Mai 1552 der in Thorenburg zusammengetretene siebenbürgische Landtag, „es solle jedem gestattet sein, in dem Glauben zu bleiben, der ihm von Gott gegeben sei“.

9. Querschnitt: 40 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1557

Ein Jahr davor konnte Ferdinand von Habsburg dem militärischen Druck der Osmanen abermals nicht widerstehen und musste Siebenbürgen räumen. Diese Lage nutzten die zurückgekehrten Szapolyais und die siebenbürgischen Stände aus und beschlossen auf den Landtagen von Mühlbach und Klausenburg 1556 die Säkularisierung der katholischen Kirchengüter in Siebenbürgen.

Die Einnahmen der katholischen Kirche fließen ab 1557 – auf ihrem jeweiligen Gebiet – den protestantischen Ständen und ihren Pfarrern zu. Ebenfalls 1557 bestimmt der Thorenburger Landtag ausdrücklich die Freiheit der siebenbürgischen Stände, zwischen der alten Lehre und dem lutherischen Bekenntnis zu wählen und bei der Ausübung der jeweiligen Konfession nicht behindert zu werden.

10. Querschnitt: 45 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1562

Der ungarische Gegenkönig und siebenbürgische Landesherr Johann Sigismund Szapolyai befindet sich wieder im Krieg mit den Habsburgern. Dies schwächt die Stellung der katholischen Kirche in Siebenbürgen zusätzlich, sodass die Reformation auf dem Gebiet des ungarischen Adels und teilweise der Szekler noch rascher an Boden gewinnt. Insbesondere die calvinistische Strömung breitet sich von Klausenburg aus und wird zwei Jahre später, 1564, vom siebenbürgischen Landtag als dritte „rezipierte“ Konfession anerkannt.

11. Querschnitt: 50 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1567

Der siebenbürgische Herrscher Johann Sigismund Szapolyai fördert die radikalen Reformatoren an seinem Hof in Weißenburg und vollzieht mit ihnen innerhalb weniger Jahre den Wechsel vom Katholizismus zum Luthertum, dann zum Calvinismus und schließlich zum Unitarismus. Diese auch Antitrinitarier genannten Protestanten erhalten durch die Fürsprache ihres Landesherren 1568 die Anerkennung des siebenbürgischen Landtages als vierte „rezipierte“ Konfession. Die griechisch-orthodoxe Kirche wird, wie in der vorreformatorischen Zeit, weiterhin geduldet. Das bedeutete, dass sie keine überregionalen kirchlichen Strukturen entwickeln konnte, aber in der Religionsausübung nicht behindert wurde. Damit existierte in Siebenbürgen eine im europäischen Vergleich einzigartige religiöse Vielfalt, die darüber hinaus auch staatsrechtlich abgesichert war.

12. Querschnitt: 55 Jahre nach dem Thesenanschlag: 1572

In Siebenbürgen herrscht mit Stefan Báthory wieder ein katholischer Landesherr. Anders als sein 1571 verstorbener Vorgänger sieht er die konfessionelle Zersplitterung in Siebenbürgen nicht nur als ein Problem des Glaubens, sondern auch der Politik an. Diese wird stark von der Konkurrenz zwischen den drei protestantischen Gruppen geprägt. Vor diesem Hintergrund setzt Báthory 1572 im Landtag einen Beschluss durch, wonach keine weiteren Konfessionen die Anerkennung des Staates erhalten sollen. Dieses sogenannte „Innovationsverbot“ bewegt die Sachsen dazu, sich von den Calvinisten und Antitrinitariern durch die formelle Annahme des Augsburger Bekenntnisses abzugrenzen. Mit der „Formula Pii Consensus“ findet bei den Sachsen – 55 Jahre nach Luthers Thesenanschlag – der reformatorische Prozess einen Abschluss. Im gleichen Jahr erfolgt auch die Wahl des Birthälmer Pfarrers Lukas Ungleich-Unglerus zum Superintendenten (Bischof) der Landeskirche, und da er nicht gewillt ist, seine Pfarrei aufzugeben, verbleibt der Bischofssitz für annähernd 300 Jahre in Birthälm.

Lutherisch im Geist, neuartig als Bildidee: ...
Lutherisch im Geist, neuartig als Bildidee: Martin Luther als hl. Christophorus (griech. „Christusträger“) auf dem rechten Seitenflügel des Altars der ev. Kirche in Schirkanyen (1928). Ölbild von Eduard Morres (das Mittelbild des neugotischen Altars stammt entgegen einer Morres-Biografie nicht von Hans Hermann, sondern wurde bereits um 1870/75 vom Maler und Fotografen Samuel Herter gemalt).
Kommen wir nun auf die am Anfang gestellte Frage zurück: Was wäre gewesen, wenn es Luthers Thesenanschlag vor einem halben Jahrtausend nicht gegeben hätte? Welche Auswirkungen der Reformation wären folglich in der Geschichte der Siebenbürger Sachsen nicht zum Tragen gekommen?

Die von Bischof Georg Daniel Teutsch und seinem Sohn, Bischof Friedrich Teutsch, geprägten Meistererzählungen der siebenbürgisch-sächsischen Historiographie fanden dazu klare Antworten. Aus ihrer Sicht sicherte die Reformation nicht mehr und nicht weniger als die Einheit und die Bewahrung der „deutschen Identität“ der Siebenbürger Sachsen. In der Tatsache, dass auch die auf dem Adelsboden lebenden Sachsen sehr rasch den lutherischen Glauben angenommen hatten, erblickten Vater und Sohn Teutsch die Vorwegnahme der sächsischen Nation als ethnischer Verband im Verständnis des 19. Jahrhunderts. Friedrich Teutsch fasste diese Einsicht mit den Worten zusammen: „Das Siebenbürger Sachsenvolk wäre nicht deutsch geblieben, wäre es nicht evangelisch geworden“.

Die politische Dimension der Reformation ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Sie offenbart sich bereits in den Anfängen der Reformation. Ohne die Initiative der deutschen Reichsfürsten und Reichsstädte hätte Luther keinen Schutz vor der Verfolgung durch Kaiser und katholische Kirche und seine Lehre keine Chance auf Verbreitung erhalten. Nicht anders verhielt es sich in Siebenbürgen. Dort zeigten sich der ungarische Hochadel und die sächsischen Patrizier an der neuen Lehre interessiert, nicht nur aus theologischen, sondern aus sehr praktischen Erwägungen. Die Möglichkeit, das Kirchengut einzuziehen und selber das Patronat über die neuen Landeskirchen zu übernehmen, bot bislang ungeahnte ökonomische und politische Vorteile. Als Gegenleistung für den erhaltenen Schutz lieferten die aus humanistischen Kreisen stammenden Reformatoren die nötige inhaltliche Untermauerung der Trennung von der katholischen Kirche. Sie hatten gelernt, die damaligen Praktiken mit dem Blick auf die ursprünglichen Quellen des Christentums zu hinterfragen. Gegen den Pakt zwischen den lokalen politischen und geistigen Eliten war die katholische Kirche machtlos. Dies war insbesondere dann der Fall, wenn auf der übergeordneten politischen Ebene eine für Kaiser und Kirche ungünstige Lage vorherrschte. Die Forschung ist sich darin einig, dass ohne den im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation vorherrschenden Gegensatz zwischen Kaiser und Reichsfürsten, den zahlreichen Kriegen zwischen den katholischen Monarchen, z.B. zwischen dem Kaiser und dem König von Frankreich, sowie dem unaufhaltsam erscheinenden Vordringen des Osmanischen Reiches in die Mitte Europas die Reformation kaum eine Chance erhalten hätte. Wie wirkmächtig diese makropolitischen Konstellationen waren, zeigt sich an der Tatsache, dass die Strukturen der katholischen Kirche in Siebenbürgen innerhalb von eineinhalb Jahrzehnten nach der osmanischen Besetzung Zentralungarns implodierten. 1556 beschloss der siebenbürgische Landtag die Auflösung des für Siebenbürgen zuständigen Bistums von Weißenburg. Der Bischofspalast diente fortan den Fürsten von Siebenbürgen als Residenz. Nur noch einige Szekler Stühle hielten um 1570 an der alten Lehre fest. Dennoch bestand die katholische Kirche in Siebenbürgen fort und trug im Mit-, ­Gegen- und Nebeneinander mit den drei anerkannten protestantischen Konfessionen und der Orthodoxie dazu bei, dass sich Siebenbürgen zu einem Land der religiösen Vielfalt und einer Pionierregion der Religionsfreiheit in Europa entwickeln konnte.

Um auf die siebenbürgisch-sächsische Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zurückzukommen: Über das Theologische hinaus hatte die Annahme der Reformation durch die Siebenbürger Sachsen folgende zentrale Auswirkungen:

  • Sie konnten sich von den Strukturen der katholischen Kirche vollständig lösen und eine vollkommen eigenständige Landeskirche etablieren. Diese wurde von einem eigenen Superintendenten (später Bischof genannt) geleitet, den die Synode der sächsischen Pfarrer wählte.
  • Die deutsche Sprache bzw. der siebenbürgisch-sächsische Dialekt ersetzten im Gottesdienst das Lateinische, sodass auch die weniger gebildeten Menschen einen unmittelbareren Bezug zur christlichen Lehre erhielten.
  • Mit der Annahme des Augsburger Bekenntnisses trat die Kirche der Siebenbürger Sachsen in einen intensiven Austausch mit den lutherischen Kirchen Deutschlands ein, der vor allem über das Studium der sächsischen Elite an den protestantischen Universitäten Deutschlands ständig erneuert wurde.
  • Kulturelle Austauschprozesse kamen über die Reformation auch mit den Ungarn und Rumänen Siebenbürgens zustande. In rumänischer Sprache wurde erstmals 1544 in Hermannstadt ein Katechismus, in Kronstadt Evangelien- und Gottesdienstbücher gedruckt. Kaspar Helth legte eine Übersetzung der Bibel und des kleinen Luther-Katechismus ins Ungarische vor. Bis heute existieren im Burzenland lutherische Gemeinden der Ungarn.
  • Die 1550 von der Sächsischen Nationsuniversität für den sogenannten „Königsboden“ als verbindlich erklärte Kirchenordnung regelte über das kirchliche Leben hinaus auch zahlreiche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Siebenbürger Sachsen, zum Beispiel die Sozialfürsorge oder das Schulwesen.
  • Und damit spreche ich das vielleicht nachhaltigste Ergebnis der Reformation für die Entwicklung der siebenbürgisch-sächsischen Gesellschaft an: Die ausschließlich kirchliche Trägerschaft des deutschsprachigen Schulwesens über ziemlich genau 400 Jahre hinweg formte nicht nur die Basis des siebenbürgisch-sächsischen Bildungsbürgertums, nämlich die Symbiose aus Pfarrer- und Lehrerschaft. Vielmehr ermöglichte sie den Ausbau eines an mitteleuropäischen Standards ausgerichteten, ausdifferenzierten Bildungssystems, das über die Schulpflicht alle sozialen Schichten einbezog. Daraus resultierte auch eine hohe Bildungsaspiration bei den siebenbürgisch-sächsischen Frauen, deren Einfluss z.B. auf das sächsische Pfarrhaus als Institution nicht genug gewürdigt werden kann. Die von den siebenbürgisch-sächsischen Pfarrfrauen übernommene gesellschaftliche Verantwortung und die spätere Ordination sächsischer Frauen für den Pfarrdienst machen vielleicht am anschaulichsten den Unterschied zum katholischen Pfarrhaus deutlich.
Die aufgezählten Punkte erheben selbstverständlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie vermitteln aber eine Vorstellung über jene Aspekte, die ohne die Reformation in der weiteren Entwicklung der Siebenbürger Sachsen gefehlt hätten oder anders ausgefallen wären. Dennoch lohnte es sich, das Diktum der Teutsch-Bischöfe zu hinterfragen, ob „Das Siebenbürger Sachsenvolk nicht deutsch geblieben [wäre], wäre es nicht evangelisch geworden“. Hier ist nicht der geeignete Ort und die passende Zeit, um diesen Gedanken zu Ende zu denken. In der Historiographie findet sich oft der Hinweis auf die Banater Schwaben, die in Ermangelung eines deutschsprachigen konfessionellen Schulwesens die muttersprachlichen Kompetenzen zunehmend verloren. Folglich sprach die schwäbische Bildungselite vor dem Ersten Weltkrieg zu einem großen Teil Ungarisch, die Bauern verharrten in der Benutzung des donauschwäbischen Dialekts. Erst die Etablierung schwäbisch dominierter Strukturen innerhalb der katholischen Kirche nach dem Ersten Weltkrieg ermöglichte den Aufbau eines breiten deutschsprachigen Schulwesens bei den Banater Schwaben. Dieser direkte Vergleich mit den Donauschwaben verkennt jedoch, dass die Siebenbürger Sachsen bereits in der vorreformatorischen Zeit über eigenkirchliche Strukturen verfügten und schon im Mittelalter ihre Pfarrer und Pröbste selbst wählen konnten. Nicht zufällig befasst sich das erste Dokument des „Urkundenbuches zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen“, 1191 in Rom ausgestellt, mit der Ecclesia Theutonicorum Ultrasilvanorum. Diese Urkunde verweist auf die seit dem 12. Jahrhundert bestehende Sonderstellung der siebenbürgisch-sächsischen Kirche innerhalb der katholischen Universalkirche, insbesondere der Hermannstädter Propstei, die sich auf das Gebiet der Kapitel von Hermannstadt, Leschkirch und Schenk ausdehnte. Sie war nicht dem siebenbürgischen Bischof in Weißenburg, sondern dem weit entfernten Erzbischof von Gran unterstellt. Unter der Voraussetzung eines Erhalts dieser sonderkirchlichen Strukturen hätte vielleicht auch ein katholisches Schulwesen die Existenz eines deutschsprachigen Bildungssystems im 19. und 20. Jahrhundert garantieren können. Aber nun befinden wir uns wirklich auf dem Gebiet der Spekulationen, die der eingangs erwähnten „kontrafaktischen Geschichte“ einen gewissen Spaßfaktor verleihen.

60 Jahre Patenschaft des Landes NRW für die Siebenbürger Sachsen

Der könnte mich dazu verleiten, die gleiche Frage an das zweite Thema meiner heutigen Festrede zu stellen. Was wäre gewesen, wenn das Land Nordrhein-Westfalen vor 60 Jahren nicht die Patenschaft über die Siebenbürger Sachsen übernommen hätte? Sie werden es mir nachsehen, wenn ich diesen Aspekt nicht in den Mittelpunkt meiner weiteren Ausführungen stelle und mich stattdessen auf die Fakten konzentriere. Und dazu gehört die Feststellung, dass der Beginn der Beziehungen zwischen den Siebenbürger Sachsen und dem Land NRW nicht erst vor 60 Jahren, sondern vor mindestens 66 Jahren anzusetzen ist. Davon zeugt die aufwändig gestaltete Festschrift der nordrhein-westfälischen Landesgruppe „Wir sind daheim. 60 ­Jahre Siebenbürger Sachsen in Nordrhein-Westfalen“ die 2011 erschienen ist.

„Wir sind daheim“!

Ob das die Anwesenden der Gründungsversammlung des Landesverbandes am 28. Januar 1951 schon sagen konnten? Die etwa 800 Siebenbürger Sachsen, die damals in Nordrhein-Westfalen lebten und für die der Landesverband sprach, stellten im Vergleich zu den anderen Landesverbänden der „Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland“ eine deutliche Minderheit dar. Das sollte sich bald ändern, als im Sommer 1951 Pfarrer Sepp Scheerer, Generaldechant Dr. Carl Molitoris und Dr. Dr. Eduard Keintzel am österreichischen Attersee erste Überlegungen anstellten, die in Österreich lebenden Siebenbürger Sachsen geschlossen in die Bundesrepublik Deutschland auszusiedeln. Für eine solche Aktion kam nur das Bundesland Nordrhein-Westfalen in Frage, da es nicht nur das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Westdeutschlands war, sondern auch den größten Bedarf an Arbeitskräften hatte. Damit war allerdings die Bedingung verbunden, im Steinkohlebergbau eingesetzt zu werden. Dies bedeutete für die Siebenbürger Sachsen, in einem Bereich zu arbeiten, in dem sie zuletzt vor etwa 400 Jahren „Arbeitserfahrung“ sammeln konnten, sieht man von einigen Bergleuten des Schieltals ab. Da diese Feststellung vor allem für die Nordsiebenbürger galt, die den überwiegenden Teil der Sachsen in Österreich stellten, mussten die Worte des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold „Deutsche Wirtschaft heißt deutsche Kohle“ wie Donner in den Ohren klingen. Weil aber die beruflichen Perspektiven der Siebenbürger Sachsen im Österreich der unmittelbaren Nachkriegszeit denkbar schlecht waren, stellten sich diese der neuen anspruchsvollen Herausforderung und wagten den Neubeginn an Rhein und Ruhr. Attraktiv wirkte dabei die Zusage, an den drei Bergwerksstandorten, an denen die Sachsen als Arbeitskräfte eingesetzt werden sollten, drei geschlossene Siedlungen für die zukünftigen Bergleute und ihre Familien zu errichten. Mit Hilfe der drei beteiligten Bergwerksgesellschaften kam es daraufhin zur Gründung der Siedlungen in Herten-Langenbochum, in Oberhausen-Osterfeld und in Setterich bei Aachen. Diese entstanden schließlich 1953–1954. Der Ansiedlungsprozess konnte mit der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft und der Etablierung der ersten Nachbarschaften nach heimatlichem Vorbild 1955 weitgehend abgeschlossen werden. Dabei kam es den Siebenbürger Sachsen darauf an, nicht als Bittsteller aufzutreten, sondern sich mit ihren Fachkenntnissen, ihrer Tatkraft und Einsatzbereitschaft in den Dienst des Aufbaus Deutschlands, in unserem Falle Nordrhein-Westfalens, zu stellen. Für sie war es ein überaus wichtiges Signal, das vom diesem Land ausging: Ihr seid hier willkommen, wir akzeptieren Euch als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, ihr habt die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen Rheinländer und Westfalen.

Die gelungene Eingliederung der Siebenbürger Sachsen in Nordrhein-Westfalen und die Erkenntnis, dass große Teile ihrer mutmaßlichen „Urheimat“ auf dem Gebiet dieses Bundeslandes liegen – gemeint ist vor allem der niederrheinische Raum – bewog sie am 10. November 1955, bei der Düsseldorfer Regierung den Antrag zu stellen, die Patenschaft für die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland zu übernehmen. Nach eingehender Prüfung, die etwa ein Jahr lang dauerte, beschloss die Landesregierung am 17. Januar 1957, dies zu tun. Die feierliche Verkündung der Patenschaft erfolgte im Rahmen einer Feierstunde: Sie fand vor fast genau 60 Jahren, am 26. Mai 1957 in Düsseldorf statt.

Der Tag begann mit der Festpredigt des Generaldechanten Carl Molitoris in der Düsseldorfer Christkirche, und wurde mit mehreren Festreden im Plenarsaal des nordrhein-westfälischen Landtags fortgesetzt. Dort hatten die Vertreter der Landesregierung, die Mitglieder des Bundesvorstandes der Landsmannschaft, die Repräsentanten der Landesverbände sowie die Ehrengäste Platz genommen. Etwa 1500 Siebenbürger Sachsen reisten zu diesem Anlass nach Düsseldorf und verfolgten außerhalb des Landtagsgebäudes die Festlichkeiten, die durch Lautsprecher dorthin übertragen wurden, da die Räumlichkeiten nicht für diese große Menschenmenge ausgelegt waren. Der Landesvorsitzende Eduard Keintzel gab in der Begrüßungsrede seiner Hoffnung Ausdruck, dass künftige Landesregierungen über die Siebenbürger Sachsen feststellen mögen: „Wir haben die Patenschaft für Menschen übernommen, die sich dieses schönen Zeichens edelmütiger Freundschaft und brüderlicher Hilfsbereitschaft würdig erwiesen haben.“ Anschließend übergab Arbeits- und Sozialminister Heinrich Hemsath dem Bundesvorsitzenden der Landsmannschaft, Heinrich Zillich, die Patenschaftsurkunde. Ihren Wortlaut möchte ich nun wiedergeben:

Das Land Nordrhein-Westfalen übernimmt die Patenschaft für die „Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland“. Dieser Erklärung liegt ein einstimmiger Beschluss der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen vom 7. Januar 1957 zugrunde. Mit diesem Akt bekundet das Land Nordrhein-Westfalen seine Verbundenheit mit der Volksgruppe der Siebenbürger Sachsen, deren Urheimat weite Gebiete Nordrhein-Westfalens sind, und seinen Willen, die Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in ihren Aufgaben zu unterstützen.

In seiner Ansprache betonte Arbeits- und Sozialminister Heinrich Hemsath: „Ich überbringe Ihnen heute kein großes Patengeschenk. Aber ein Versprechen: dass das Land Nordrhein-Westfalen die Patenschaft über Ihre Landsmannschaft getreulich wahrnehmen wird. Das bedeutet auch, dass wir Ihnen in allen Ihren Anliegen helfen wollen, soweit es nur irgend möglich und zu vertreten ist.“

Bundesvorsitzender Heinrich Zillich antwortete darauf mit den Worten: „Dass Sie uns eine ideelle neue Heimat bereitet haben, dafür danken wir Ihnen, Herr Minister.“

Die Patenschaft, personifiziert durch den sogenannten „Patenminister“, äußerte sich in den folgenden Jahrzehnten durch politische aber auch materielle Unterstützung. In Form einer Jahreszuwendung wurde der Verband vor allem mit Mitteln zur Kulturförderung und zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ausgestattet, das Siebenbürgen-Institut in Gundelsheim am Neckar erhielt – zumindest bis 2004 – eine institutionelle Förderung. Die politische Unterstützung äußerte sich zum Beispiel daran, dass die Patenminister regelmäßig an den Heimattagen der Siebenbürger Sachsen in Dinkelsbühl teilnahmen, manchmal auch die Ministerpräsidenten, z.B. Johannes Rau, der sich 1997, anlässlich des 40-jährigen Jubiläums der Patenschaft, vor der Dinkelsbühler Schranne zu ihr bekannte.

Überregionale Bedeutung gewann die Anlage der Siedlung Drabenderhöhe östlich von Köln, die am 18. Juni 1966 feierlich eröffnet wurde. Sie stellt heute mit über 3.000 Siebenbürgern, die aus fast allen sächsischen Ortschaften Siebenbürgens stammen, die größte geschlossene sächsische Siedlung weltweit dar. Auf der Festveranstaltung drückte der „Vater der Siedlung“, Robert Gassner, seine Gefühle mit dem Satz aus: „Es ist soweit. Wir sind daheim!“. Dieser Satz hat nach gut fünfzig Jahren immer noch die gleiche Bedeutung. Er markiert den Unterschied zu den Worten, die vor genau 60 Jahren von Heinrich Zillich gefunden wurden, mit denen er sich für die „ideelle neue Heimat“ beim Patenminister bedankt hatte. Daheim, das heißt, sich nicht nur „ideell“, sondern auch reell, mit Herz und Verstand, zu Hause zu fühlen. Ich bin zuversichtlich, dass dieses so bleiben wird. Seit 60 Jahren besteht nun die Paten- und Partnerschaft zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland. De facto existiert diese Beziehung aber schon seit 1951, seit der Gründung der nordrhein-westfälischen Landesgruppe, also seit 66 Jahren, und da bekanntlich mit 66 das Leben erst beginnt, wünsche ich der Patenschaft und Partnerschaft zwischen den Siebenbürger Sachsen und Nordrhein-Westfalen ein langes und glückliches Leben.

Dr. Dr. Gerald Volkmer

Schlagwörter: Heimattag 2017, Festveranstaltung, Reformation, Reformationsjubiläum, Patenschaft, Nordrhein-Westfalen, Luther, Honterus, Volkmer

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