19. Januar 2016

Erwin Neustädter: "Nichts ist erfunden, alles ist erlebt ..."

Aus dem Nachlass Erwin Neustädters (1897-1992) hat dessen Enkel Klaus-Ortwin Galter die Erinnerungen des Schriftstellers an seine Haftjahre zwischen 1961 bis zur Begnadigung 1963 unter dem Titel „Mensch in der Zelle. Ein Erlebnisbericht“, bearbeitet vom Publizisten Georg Aescht, herausgebracht. Das Buch ist ein weiteres Zeitdokument für die Geschichte des Kommunismus in Rumänien und dessen Umgang mit bestimmten Menschengruppen, besonders mit seinen Intellektuellen.
Mit dem oben zitiertem Titelsatz bürgt der 1897 in Tartlau geborene Schriftsteller Neustädter in einer „Vorbemerkung“ für die Wahrhaftigkeit und Authentizität seines Berichtes über die während der Jahre 1961-1963 unter kommunistischer Diktatur in Rumänien erlittene Untersuchungshaft in Kronstadt, seine Verurteilung 1962 durch den Kronstädter Militärgerichtshof mit anschließender Gefängnisstrafe in Zeiden. Begründung für den richterlichen Schuldspruch waren „die Aufbewahrung verbotener Publikationen und das Vergehen der strafbaren Unterwühlung der öffentlichen Ordnung durch Agitation“, beides willkürlich fingierte Anklagepunkte, die ja auch in Prozessen der 50er Jahre (z.B. Schriftstellerprozess 1957, „Schwarze-Kirche Prozess“ u.a.) geltend gemacht worden waren.

Im Urteil enthalten war – folgerichtig – auch die Beschlagnahmung des gesamten Vermögens, der Bücher und Manuskripte des Angeklagten. Zu Lasten Neustädters führte das Gericht noch seine während des Nationalsozialismus in Deutschland veröffentlichten Werke an: die beiden Romane „Der Jüngling im Panzer“ (Stuttgart 1938) und „Mohn im Ährenfeld“ (Stuttgart 1943), in denen deutsch-nationalistisches und chauvinistisches Ideengut enthalten sei, sowie Gedichte „feindlichen Inhalts“ gegen das neue Regime. Besonders sein 1946 entstandenes Gedicht „Letzte Zuflucht“, das Heinrich Zillich in seine Anthologie „Wir Siebenbürger“ 1949 in Deutschland unter dem Pseudonym Egon Rosenauer aufgenommen hatte, brachte den Schriftsteller nicht nur politisch, sondern auch privat in Bedrängnis. Dass Erwin Neustädter 1941 von der Deutschen Volksgruppe in Rumänien zum Amtsleiter der „Schrifttumskammer“ eingesetzt worden war, scheint bei seiner Verurteilung im diesem Prozess keine Rolle gespielt zu haben, wie der Literaturforscher Horst Schuller in seinem Aufsatz „Erwin Neustädter und die Schrifttumskammer der Deutschen Volksgruppe in Rumänien“ (Deutsche Literatur in Rumänien und das „Dritte Reich“, München 2003) schlussfolgert.

Erwin Neustädter, Porträtzeichnung von Hans Eder, ...
Erwin Neustädter, Porträtzeichnung von Hans Eder, 1949
Neustädters damalige Rolle, seine Vorträge, Leseabende im Land und Lesereisen durch Deutschland werden Anlass für seine Inhaftierungen zwischen 1944 und 1946 in Târgu Jiu, Turnu Măgurele und Slobozia gewesen sein, für sein Berufsverbot als Deutschlehrer am Honterusgymnasium, für seinen Zwangsaufenthalt in Elisabethstadt und andere Verfolgungsmaßnahmen des Regimes. 1965 gelang durch Intervention des Internationalen Roten Kreuzes (IRK) seine Ausreise mit der Familie in die Bundesrepublik, wo er 1992 in Kaufbeuren verstarb. An seine schriftstellerischen Erfolge von vor 1944 konnte er nicht mehr anschließen. Die Besprechung des nun vorliegenden Buches ist nicht der Platz für Kommentare zur politischen Sozialisation und den politischen Haltungen des Schriftstellers im Laufe seines Lebens, sondern will sich, wie dieser bei der Schilderung des Erlebten vorgeht, sachlich zu dessen Inhalt und Stil verhalten.
Im Vorwort schreibt Neustädter: „In meinem Bericht geht es weniger um das, was dem Individuum E. N. widerfahren ist, als um die Art und Weise, wie er dem begegnet ist, ohne zugrunde zu gehen. Die Erlebnisse mussten dabei natürlich bis in alle Einzelheiten geschildert werden, um das System und sein Ziel, die Zermürbung des Einzelnen, sichtbar zu machen. Meine Person ist dabei nur ein Beispiel für diesen Einzelnen, an dessen Erfahrungen gezeigt werden soll, welche Möglichkeiten er hat, seine innere Freiheit auch in einer abgekapselten Welt zu bewahren, in der er täglichen Demütigungen ausgeliefert ist.“ Letztere schildert Neustädter als Teil eines ausgeklügelten Systems von psychischem Terror durch schockartige Überraschungsmanöver und unterschiedlichen Verhörmethoden, die zwischen scheinheilig sachlichem Erkundungsgespräch, arglistigem Fallenstellen und aggressiven Drohgebärden, Implantation von Misstrauen gegen Freunde und Bekannte pendeln und die begleitet sind von Aushungerung, Schlafentzug und Kälte, Verweigerung minimalster Hygiene und Verdonnerung zu entwürdigenden Tätigkeiten im Tagesablauf, von verbalen Kränkungen und Spott.
Wie jemand überlebt angesichts der allgegenwärtigen Unberechenbarkeit und vermittelten Aussichtslosigkeit nicht nur in der Zelle selbst, sondern auch im Hinblick auf Haftgründe, Haftdauer, Urteilsbegründung, Prozesstermin, während jahrelanger Kontaktferne zu nächsten Angehörigen, zu Vorgängen in der Außenwelt, bei täglicher Kraftanstrengung im Umgang mit den unterschiedlichen Menschentypen des Wachpersonals, auch der Zellengenossen, auftretender Krankheit und körperlichen Beschwerden in der Folge all dieser Maßnahmen und Umstände, ­beschreibt der Verfasser – wiewohl aus der ­Retrospektive! – auffallend und beeindruckend sachlich, ohne Larmoyanz und ohne jedes Selbstmitleid, in einer präzisen aber gleichzeitig bildhaft suggestiven Sprache. Auch die vier Skizzen des begabten Zeichners Neustädter zu den Zellen im Kronstädter Untersuchungsgefängnis und der Zeidner Haftanstalt stellen bloß eine karge Illustration dar. Dem verhängten Zwang zu Tatenlosigkeit und Leerlauf, zum Leben auf Sparflamme kann der Häftling nur mit Selbstdisziplin trotzen: Körper- und Denktraining sind Fäden, die ihn bis zu seiner überraschenden Begnadigung am Leben erhalten.
Die Sorge um das schriftstellerisches Werk, das Schicksal seines möglicherweise belastenden Tagebuches, seiner Werkausgaben und Manuskripte, seines Schicksals als Künstler sind freilich Teil bedrückender Gedanken. Folgerichtig ist aber auch, dass sich um eine Zeit der schöpferische Impetus des Künstlers zurückmeldet: Er entwirft auf der glatten Fläche der Zellentüre, dann auf der Zellenwand Bilder, ganze Gemälde entstehen vor dem geistigen Auge, stunden-, tagelange intensive Beschäftigung, die niemand zu stören vermag, eigene Gedichttexte werden heraufbeschworen, neue entstehen. Zwei davon hat der Herausgeber aus der Gedichtsammlung „Nur dem Dunkel erblühen Sterne“ als Anhang in den Band aufgenommen, der Achtzeiler „Zellenwandern“ ist Teil des Erlebnisberichtes. Des Weiteren findet der Leser den von der Securitate inkriminierten Text „Letzte Zuflucht“ und Textteile von Gedichten, die in einem Konzentrationslager für politisch Internierte entstanden waren und mangels Sprachkenntnissen des Dolmetschers beim Verhör als „Verherrlichung des Militarismus“ ausgelegt wurden.
Im Nachwort berichtet der Autor, wie es dazu kam, dass 1969 ein juristisches Wiederaufnahmeverfahren in Abwesenheit des ehemals Verurteilten stattfand, in dem der Oberste Militärgerichtshof der Sozialistischen Republik Rumänien das Urteil als „illegal und unbegründet“ aufgehoben, die völlige Rehabilitation ausgesprochen und die Rückerstattung seiner Schriften genehmigt hat. Dies wertet er als „Zeugnis für das Bemühen der heutigen rumänischen Rechtsprechung, die Fehler der Vergangenheit […] gutzumachen und Gerechtigkeit walten zu lassen [...]“. Das offizielle Dokument in deutscher Übersetzung ist seinem Nachwort beigegeben.
Neustädters Bericht ist ein authentisches Dokument über den Umgang der neuen politischen Klasse nach 1945 mit ihren „bürgerlichen Feinden“, mit Minderheiten, mit Andersdenkenden, besonders Intellektuellen, mit dem Ziel ihrer Vernichtung. Dass dabei der Rechtsbruch ein probates Mittel war, haben zahlreiche Menschen in Rumänien nach 1945 erleben müssen, viele sind dabei zugrunde gegangen. Nach dem „kleinen Prager Frühling“ der Endsechziger Jahre in Rumänien setzte sehr bald eine neue Welle massiver juristischer Übergriffe ein, die schließlich den Diktator Ceaușescu selbst weggefegt hat; das aber ist ein anderes Kapitel der Geschichte.

Gudrun Schuster

Erwin Neustädter: „Mensch in der Zelle. Ein Erlebnisbericht“. Herausgeber: Mag. Klaus- Ortwin Galter. Herstellung und Verlag BoD (Books on Demand), Norderstedt, 267 Seiten, gebundene Ausgabe, ISBN 9783738643305, 20,00 Euro, Taschenbuch, ISBN 9783739218625, 8,99 Euro, E-Book, z.B. bei Amazon, ASIN: B018R1QVWY, Preis 7,99 Euro

Mensch in der Zelle: Ein Erleb
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Schlagwörter: Rezension, Erfahrungsbericht, Erinnerungsliteratur, Kommunismus, Gefängnis

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  • 19.01.2016, 21:04 Uhr von archiv: Sehr geehrte Redaktion, ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass die führende Rolle ... [weiter]

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