9. November 2015

Vielstimmigkeit als Herausforderung

Neuer Lyrikband von Ilse Hehn zur Frankfurter Buchmesse erschienen: „Tage Ost – West“, Gedichte und Überschreibungen, Pop Verlag, Ludwigsburg, 2015, 107 Seiten, 17,80 Euro, ISBN 978-3-86356-104-8
Wer Bilder mit Texten überschreibt, sie mit grafischen Signalen und malerischen wie auch Collage-Feldern versieht, wer bereits im Titel des vorliegenden Gedichtbandes signalisiert, dass seine „Tage Ost – West“ gleitend ineinander fließen, der geht mit seinen poetischen Visionen nicht auf Reisen, für den sind die Bilder stets an Ort und Stelle in sich gebrochen. Und aus diesen Splittern formen sich andere Visionen, in denen die geografischen Topoi nur Versatzstücke bilden. Dieses poetologische Verfahren setzt die Autorin in mehrfacher Hinsicht ein. In dem in drei große Abschnitte aufgeteilten Band operiert sie mit Zitaten, literarischen Subtexten und der formalen Benennung von Orten und Gemälden, spielt sie mit der Dynamik von Worten und Zahlen und bewirkt auf diese Weise eine Interferenz von Schrift und Wort wie auch von Farbe und Raum. Doch damit nicht genug: Gemeinsam mit den rhetorischen Verfahren, die den vorgelegten poetischen Texten einen anziehenden und zugleich sperrigen Reiz verleihen, entsteht damit für Leser/In und Betrachter/In eine besondere Herausforderung. Sie geraten in die Versuchung, Wortgebilde getrennt von kunstvollen Abbildungen wahrzunehmen, mehr noch: sie klammern sich an die Nennung von Orten und Ländern und leiten davon den Begriff „Reiseliteratur“ ab. Sicherlich ist die Autorin gereist, zweifellos ist die aus dem rumänischen Banat stammende Dichterin in verschiedenen europäischen Ländern und in Ägypten gewesen, unbestritten gibt es Passagen, in denen sie fremdsprachliche Termini benutzt, um ihre kulturelle und sprachliche Vertrautheit mit den jeweiligen Landschaften zu signalisieren. Doch die komplexe Verarbeitung ihrer Eindrücke erzeugt eine in sich gebrochene Wahrnehmung von Welt, die sie mit mehrfachen Zitaten aus T. S. Eliots „The Waste Land“ belegt. Diese Welt sei, so T. S. Eliot, ein Haufen zerbrochener Bilder, in der selbst der tote Baum kein Obdach mehr bilde. Unter Verweis auf diese Vision streift sie jegliche Idylle wie lästige Gedanken ab, bemüht sich um diskursiv aufgeladene visuelle Eindrücke, die sie in Texten verarbeitet. Sie sind in unterschiedliche Rhythmen gestaltet und bedienen sich eigenwilliger poetischer Metaphern.

Im ersten thematischen Abschnitt „DIE HEIMAT, DIE ZUNGE“ ist ein gleichnamiges Gedicht dem Mitbegründer der Aktionsgruppe Banat, Werner Kremm, gewidmet. Er lebt und arbeitet als einziger der aus diesem Kreis stammenden Intellektuellen weiterhin als Journalist in Rumänien. Kennzeichnend für den mit sarkastischen und ironisch gebrochenen Aussagen verdichteten Text ist das fehlende poetische Ich, das durch ein „Ach, du lieber Augustin“ nach dem Canetti-Zitat „Heimat, gerettete Zunge …“ zu Beginn des Gedichts ersetzt wird. Die dem Zirkuskasperl-Motiv folgende Zeile „Alles ist hin“ fehlt und wird durch die Aussage „die Kunst am Rande/ des Nichts zu leben als sei alles in Ordnung.“ (S. 25) ergänzt. Und die Nennung des Ortes, in dem sich die folgenden Visionen verdichten? Temeswar oder eine andere rumänische Stadt oder „ein Ort jenseits der Wand“? Auf jeden Fall ein Ort, an dem sich ein undurchsichtiger gesellschaftlicher Wandel abzeichnet, wo der „demokratische(n) Schlamm/ … sich langsam über das Roma-Gold (schiebt)“, wo „die Pampa … an den Westen (verloren)“ geht. Sind solche gebrochenen Wortbilder die typischen Reisebilder, in denen Gedichte-Leser (gibt es die noch?) ihre lackierten Urlaubserinnerungen wiederfinden?

Auch „Am Rande von Kairo“ – in dem mit der Losung „ZIEH LEINE, POESIE“ beginnenden zweiten Abschnitt – sind die poetisch aufgeladenen Bilder nichts als „zerkratzte Traumschlacke im/ Gelächter der Sprache“ (S. 37). Beabsichtigt die Autorin etwa, ihren Lesern/Hörern mit solchen Gegenbildern den Spaß am Reisen und der Lust am Schauen zu nehmen? Auf keinen Fall! Vielmehr kratzt sie am Lack der Oberflächen, öffnet den Blick auf die düstere politische Gegenwart, gräbt sich in die Untiefen der Geschichte, verbindet die historischen Linien mit den noch vorhandenen Spuren. So wie in „SAQQARA“, einer Anlage mit vielen Felsengräbern, „wo Stein nicht rostet – Gedächtnis“ (sei). Oder die „FAHRT NACH ABU SIMBEL“ mit bewaffnetem Geleit, dem Ort in Nubien, wo der bekannte Tempel des Ramses II. stehen geblieben ist, wo die Angst vor einem terroristischen Überfall ständig präsent ist. Oder die Nahaufnahmen vom „ÄGYPTISCHEN FRÜHLING“, wo „ein Volk aus dem Schweigen gehoben“ wird und der Westen zuschaut und „sagt ein Frühling ist ein Frühling ist ein Frühling“ (S. 46).

Noch eine bittere Kostprobe? Bitte sehr! „IM WINTER MOSKAU“ und kursiv „In memoriam Marc Chagall“. Ein auf den ersten Blick leicht zu dekodierender Text. Roter Platz, Basilius-Kathedrale, Spasskij-Turm – ja, das sind die Merkzeichen der anheimelnden touristischen Erinnerungen an Moskau. Noch etwas mehr? Kathedrale, Ikone, aha, sie steht jetzt vor einem Ikonostas, der Bilderwand mit den vielen Heiligen, auf unterschiedlichen Höhen platziert. Jetzt noch eine dunkel vibrierende Stimme eines Popen? Nein, ihr poetisierter Blick flüchtet urplötzlich in die Bilder von Marc Chagall, in die „sanften Augen der Pferde“ (S. 67), an einen Ort, dort in Witebsk, „wo der Samowar als vollendete Sonne“ (leuchtet). Hmm, da fehlt leider der bittere Verweis darauf, dass der arme Chagall von den Kommissaren der roten Wahrheit vertrieben wurde und von Witebsk aus im Spätherbst 1941 die verbliebenen Juden von den SS-Schergen in die Gaskammern deportiert wurden. Oder ist es das grenzenlose Gefühl der Dichterin, die durch den Chagallschen Bildraum fliegen und alles vergessen will?

Besonders hervorzuheben sind die Gedichte „AMNESIE DER SCHRIFT“ und „SCHRIFT“, mit den Zusätzen Interferenzen versehen, wie auch „VÀRVINTER“ und „AUS DER VERTÄUUNG“ mit den Zusätzen Palimpseste (vgl. S. 93 ff.). Sie korrespondieren mit den jeweils auf der Seite gegenüber abgedruckten Bildmontagen, übermalter Malerei und übermalter bzw. überschriebener Fotografie. In diesen mit verschiedenen künstlerisch gestalteten Bild-Texten vibriert das Wechselverhältnis von Schrift und Sprache, von taktilen, auditiven und visuellen Schichten solange, bis die Überschreibungen in den Bildräumen eine neue Lautschrift signalisieren. Sie gräbt sich in diese Bilder ein und verleiht ihnen eine in den deutschsprachigen Poesielandschaften ungewöhnliche Aussagekraft. Und sie könnte lauten: Reise in die tieferen Schriften anderer Kulturen, grabe deren Subtrakte aus und beginne einen Dialog, in welchem du deine Vielstimmigkeit nicht in der Erinnerung an lackierte Fotos verschwendest, sondern sie als ständige Herausforderung in dir spürst.

W. Schlott

Schlagwörter: Lyrik, Gedichtband, Banaterin

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