16. Oktober 2015

Liebeserklärung an Bukarest: Dana Grigorceas Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“

Sommer in Bukarest: Die junge Bankangestellte Victoria wird nach einem Überfall „wegen der laufenden Ermittlungen und des mir zugeschriebenen Schockzustands“ auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Kurz zuvor erst aus Zürich zurückgekehrt, entdeckt sie, die sich keineswegs in einem Schockzustand befindet, ihre Heimatstadt wieder: das Bukarest ihrer Kindheit und Jugend, vor und nach der Revolution 1989. Die vom Arbeitgeber „zur besseren Verarbeitung des Bankraubs“ verordnete Therapie findet bei Madame Miclescu statt, einer alten Bekannten, die Victoria von klein auf kennt. Die dadurch „doch sehr angenehmen Therapiesitzungen, die Plauderstündchen gleichkommen“, sorgen für immer neue Beurlaubungsscheine und reichlich Zeit für lange Streifzüge durch die rumänische Hauptstadt.
„Meine Wege führen durchs Cotroceni-Quartier, vom Botanischen Garten zu den Tennis-Arenen, an der Heiliger-Elefterie-Kirche vorbei zur Oper und zum Heldenplatz, und dann zum Universitätsplatz und zur Chaussee, gelegentlich auch durch den Cismigiu-Park und das alte Zentrum, wo sich Bars und Tanzlokale in kosmetisch renovierten, noch immer baufälligen Häuschen eingerichtet haben.“ In Dana Grigorceas Roman schlendert die Ich-Erzählerin Victoria durch ihre Heimatstadt, erinnert sich an Straßenecken, auf Plätzen, vor Gebäuden an Begebenheiten aus ihrer Kindheit und Jugend oder an Geschichten aus noch fernerer Vergangenheit, die sie von ihrer Großmutter Mémé gehört hat, zu der die Enkelin schon als kleines Kind sagt: „Zum Glück erzählst du mir alles, denn meine Eltern erzählen mir gar nichts.“

Mit Hilfe dieser Erinnerungen wird jüngere und jüngste rumänische Geschichte lebendig. Sehr anschaulich kann der Leser miterleben, wie die Erzählerin zur Pionierin und sogar ganz ohne Ambitionen dazu auserwählt wird, Elena Ceaușescu, der „obersten Mutter, der Mutter des ganzen Volkes“, einen Blumenstrauß zu überreichen. Diese idealisierte Mutter, „jung und schön wie eine Fee“ (zumindest auf dem Bild, das in Victorias Zimmer hängt), entpuppt sich als „alte Frau mit Kartoffelnase“, was zu einigen Verwicklungen führt, die die „Genossin Kinderführerin“ verzweifeln lassen, ansonsten aber für Erheiterung sorgen. Auch Anti-Kommunismus-Demos besucht der Leser mit der jungen Victoria und erfährt wie sie, dass Klassenkampf „der Kampf der Leute mit weniger Schulklassen gegen die mit mehreren; oder zumindest mit mehr Klasse!“ ist – eine absolut einleuchtende Erklärung, wenn man es noch nicht besser wissen kann. Der lang ersehnte, spektakulär inszenierte Besuch von Michael Jackson Anfang der 1990er Jahre in Bukarest gerät zum Fiasko („Hello, Budapest!“) – der Westen ist endlich im Osten angekommen, wird von jenem aber nicht zur Kenntnis genommen. Eine Ernüchterung auch für die Erzählerin Victoria, die natürlich in der jubelnden Menschenmenge steht, über die sich urplötzlich „Todesstille“ senkt.

Dana Grigorcea erzählt im Präsens und wechselt für die Erinnerungen ins Präteritum – eine einfache Technik, die aber nötig ist, um die bisweilen sehr plötzlichen Perspektivwechsel nachvollziehen zu können. Ihre klare Sprache und der staubtrockene Humor stehlen den vielen ohnehin abstrusen Begebenheiten nicht die Schau, sondern illustrieren gekonnt die Mentalitätsunterschiede zwischen West und Ost, die auch die Erzählerin, die nach einem längeren Aufenthalt in Zürich nach Bukarest zurückkehrt, bemerkt. „Ich habe den Hang, alles kontrollieren zu wollen, (…) das macht mich wohl hierzulande eher lebensuntüchtig“, stellt sie ganz sachlich und ohne eine Spur von Ironie fest. Dennoch ist sie ihrer Heimatstadt mit dem chaotischen Verkehr, den quälend langsam mahlenden Amtsmühlen und den allgegenwärtigen Linden, die ihren „trauen Lindenblütenduft“ verbreiten und alles mit einem klebrig-gelben Film überziehen, zutiefst verbunden.

Die Autorin Dana Grigorcea konnte für ihren Roman auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Sie wurde 1979 in Bukarest geboren, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel und lebt nach Stationen in Belgien, Österreich und Deutschland seit 2007 mit Mann, Tochter und Sohn in Zürich. Für einen Auszug aus ihrem vorliegenden zweiten Roman, „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, wurde sie beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis ausgezeichnet. Ihr wunderbar satirisches und zugleich authentisches Buch stellt sie am 29. Oktober um 18.00 Uhr im Rumänischen Kulturinstitut, Reinhardtstraße 14, 10117 Berlin, vor. Infos auf www.rki-berlin.de.

Doris Roth


Dana Grigorcea, „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, Dörlemann Verlag, Zürich, 2015, 264 Seiten, 22,00 Euro, ISBN 978-3-03820-021-5
Das primäre Gefühl der Schuldl
Dana Grigorcea
Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit

Dörlemann
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Schlagwörter: Roman, Bukarest, Rumänien, Schriftstellerin, Schweiz

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