24. März 2015

Kein Heimatroman: Ursula Ackrill beleuchtet ein wenig bekanntes Stück siebenbürgischer Geschichte

Winter 1941 in Zeiden: „Heim ins Reich“ – was bedeutet das für die Siebenbürger Sachsen, die seit Jahrhunderten als Deutsche in Siebenbürgen leben und nun von den Nationalsozialisten vereinnahmt werden? Leontine Philippi, studierte Historikerin und scharfsinnige Chronistin von Zeiden, beobachtet die Veränderungen im Gefüge der Stadt, bricht mit ihrem Vertrauten aus Kindertagen, einem Arzt, der jetzt SS-Rekruten untersucht, und lässt sich den Mund nicht verbieten. Das Romandebüt von Ursula Ackrill, „Zeiden, im Januar“, war kaum erschienen und wurde schon für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Belletristik nominiert. Gewonnen hat am 12. März zwar Jan Wagner mit seinem Lyrikband „Regentonnenvariationen“, aber der Bekanntheitsgrad der Debütantin Ackrill hatte da bereits einen gewaltigen Schub erfahren.
Es ist der 21. Januar 1941, ein Dienstag, wie wir erfahren, an dem die Geschichte einsetzt. Leontine Philippi, Kronstädter Patriziertochter, hat ihrer Heimatstadt viele Jahre zuvor den Rücken gekehrt und ist nach Zeiden gezogen, wo sie das Haus des „Aviatikers“ Albert Ziegler mit allem Hausrat, Möbeln, ja sogar Kleidung gekauft hat. Obwohl die gebildete, frauenbewegte Leontine offen ihre Meinung sagt, die oft genug nicht der gängigen entspricht, wird sie respektiert und hat einen festen Platz in der Zeidner Gesellschaft. „Zigarette im Mundwinkel, rechte Hüfte gereckt, darauf stützen sich der Ellbogen und darüber die Zeitung im Gleichgewicht“ – so steht sie in der Küche, Zigarette und Zeitung als Zeichen ihrer Unabhängigkeit und Bildung; gescheit ist sie und durchschaut die Menschen – „Sie wechselte ihre Miene unvermittelt und wusste, verflixt und zugenäht, sie wusste Bescheid“ – und mähen mit der Sense kann sie auch, schlüpft dafür aus praktischen Gründen in Zieglers Kleider, die ja ohnehin im Haus sind und sonst nicht gebraucht würden. Diese gleich zu Beginn eingeführte starke Frauenfigur verliert im Verlauf des Romans leider an Kontur und teilt sich einem inneren Monolog gleich fast nur noch durch ihre Gedanken mit, die einen großen Teil der 250 Seiten einnehmen.

Ihr Gegenüber ist Franz Herfurth, ein Freund Leontines aus Kronstädter Kindertagen, der in Zeiden als Schularzt wirkt und im Gegensatz zu ihr mit den Nationalsozialisten sympathisiert. „Ich wette, die Deutschen geben uns die Drecksarbeit!“, hat Leontine ihm bei ihrem letzten Treffen wütend entgegengeschleudert; seitdem gehen sie einander aus dem Weg. Vorbei ist es mit den fruchtbaren Streitgesprächen – selten genug in diesen Zeiten zwischen Mann und Frau – und beiden tut es nicht leid. Ihr nicht, weil sie mit dem „Rassenschmarrn“ nichts anfangen kann und der Meinung ist, dass sich die Siebenbürger Sachsen mit den Rumänen, zu denen sie schließlich seit 1918 gehören, zusammentun und nicht gemeinsame Sache mit den verräterischen Deutschen machen sollten, und ihm nicht, weil er sich im hierarchischen nationalsozialistischen Gefüge aufgehoben fühlt, nachdem seine Bemühungen um eine eigene Praxis erfolglos geblieben sind, und sich als „Volksdeutscher“ in der Gloriole des Reiches sonnt. Auch Herfurth bleibt als Figur unscharf; was ihn antreibt, lässt sich während seiner Wanderung zum Zeidner Waldbad am 21. Januar 1941 nur erahnen. Der Konflikt zwischen diesen beiden zentralen Figuren aber spiegelt wider, was sich wie ein Riss durch die ganze Gemeinde zieht.

Ursula Ackrill erzählt nicht linear, sondern springt vom Ausgangspunkt ihres Romans, diesem 21. Januar 1941, immer wieder zurück in die nahe und ferne Vergangenheit. Diese ständigen Wechsel der Erzählperspektive, des Schauplatzes und der Zeitebene – obwohl akkurat überschrieben mit Wochentag, Datum, Uhrzeit und Ort – verwirren den Leser, irritieren ihn geradezu, weil er der Geschichte nur mit äußerster Konzentration folgen kann. Die Sprache ist genauso wenig dazu geeignet, sich mit Genuss in den Roman zu versenken. Die Eigenheiten der siebenbürgischen Mundart („alleseins“; „nicht geh weg“) tragen zum Lokalkolorit bei und mögen für einen Siebenbürger verständlich sein; für andere Leser sind sie befremdlich, ebenso wie die vielen altmodischen Wörter (torpid, Karner, Koterie), die man nachschlagen muss, was wiederum den Lesefluss stört. Metaphern, Bilder und Vergleiche haben es der Autorin ebenfalls angetan („Ihre hohen Wangenknochen brannten im Frost wie Hagebutten im Dorngebüsch.“), was an sich löblich ist, den Leser in der dargebotenen Fülle aber regelrecht erschlägt. In sich gedreht wie ein Schneckenhaus präsentiert sich der Roman mit seiner archaischen Sprache und den verschachtelten Erzählebenen, und man tut gut daran, konzentriert und vor allem am Stück zu lesen, sonst verliert man den Faden.

Fesselnd ist das Thema. Wie standen die Siebenbürger Sachsen zu den Nationalsozialisten? Wie reagiert der Einzelne auf die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen im privaten und öffentlichen Bereich? Durch den Kunstgriff, den Mikrokosmos einer siebenbürgischen Kleinstadt gleichsam als Folie für das historische Gesamtgeschehen zu nutzen, gelingt Ursula Ackrill ein sehr tiefer, vielschichtiger Einblick in dieses wenig bekannte Stück deutscher und siebenbürgischer Geschichte. „Wie kommt es, dass die ­Zuneigung zum Gleichartigen stärker ist, als der Ins­tinkt zu überleben?“, fragt sich Leontine. Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und das Verschwinden in der Masse sind für viele wichtiger und auch bequemer als das Auflehnen gegen eine übergestülpte Ideologie und die neue Ordnung, die manche sehr geschickt zu ihrem Vorteil nutzen. Den „Stadtoberen“ (Pfarrer, Lehrer, Richter, ferner auch Apotheker, Bankdirektor und Arzt), die in einer der Schlüsselszenen des Romans, einem Gemeinderatstreffen, zusammen auftreten, kommt wegen ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen Position eine besondere Rolle zu. Auf dünnem Eis bewegt sich die Autorin, weil sie reale Personen in ihr Figurenensemble aufgenommen hat – einige Zeidner und Kronstädter Familien werden sich in ihrem Roman wiederfinden – und so die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt. Beim Lesen fragt man sich: Ist es wirklich so gewesen? Haben dieser und jener das eine oder das andere tatsächlich getan oder gesagt?

Thematisch interessant, aber sprachlich überfrachtet ist Ursula Ackrills Debüt. Keine leichte Lektüre also, kein Buch, das man mal an einem Nachmittag „runterlesen“ kann. Wer es dennoch tut, hat Stoff zum Nachdenken.

Doris Roth


Ursula Ackrill: „Zeiden, im Januar“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2015, 256 Seiten, 19,90 Euro, IBSN 978-3-8031-3268-0

Lesungen mit Ursula Ackrill

Montag, 20. April, 19.00 Uhr: Donauschwäbisches Zentralmuseum, Schillerstraße 1, 89077 Ulm
Dienstag, 21. April, 20.00 Uhr: Buchhandlung Ravensbuch, Marienplatz 34, 88212 Ravensburg
Mittwoch, 22. April: Literaturhaus, Großer Griechenmarkt 39, 50676 Köln
Donnerstag, 23. April, 20.00 Uhr: Buchhandlung Dombrowsky, St.-Kassians-Platz 6, 93047 Regensburg
Dienstag, 2. Juni: Literaturhaus, Schöne Aussicht 2, 60311 Frankfurt am Main
Donnerstag, 4. Juni: Literaturhaus, Schwanenwik 38, 22087 Hamburg
Samstag, 13. Juni, 17.00 Uhr: Gerhart-Hauptmann-Haus, Bismarckstraße 90, 40210 Düsseldorf
Zeiden, im Januar (Quartbuch)
Ursula Ackrill
Zeiden, im Januar (Quartbuch)

Wagenbach, K
Gebundene Ausgabe
EUR 15,50
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Schlagwörter: Rezension, Roman, Zeiden

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