21. Oktober 2011

Eine bewegende Lebensgeschichte: "Unter Roten Wolken"

Kurt Binder sieht rot. Wie viele der gebürtigen Siebenbürger Sachsen erlebt er nach dem Zweiten Weltkrieg den Einzug des Sozialismus in Rumänien. Im heutigen Zeitalter erscheint dies weit entfernt, ein unterdrückendes System mit dem Ziel einer klassenlosen Gesellschaft entspricht nur in wenigen Ländern der Realität. Was es bedeutet, „Unter Roten Wolken“ zu leben, erfasst Kurt Binder in seinem autobiographischen Roman, mit dem er 29 Jahre seiner Lebensgeschichte in den gesellschaftspolitischen Zusammenhang einordnet.
„Tata geht spazieren“. Am 23. August 1944 macht sich Kurt Binders Vater, Soldat in der SS, auf den Weg. Es wird das letzte Mal sein. Binder wächst unter der Obhut seiner Mutter mit zwei jüngeren Geschwistern in Hermannstadt auf. Mit der pandemischen Ausbreitung des Sozialismus macht seine Familie schon früh Bekanntschaft, Einschränkungen beginnen. Unter immer deutlicher auftretenden politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen beginnt für ihn die Zeit der Bildung, die sich auch in späteren Episoden niederschlägt. Harter Gangart der Pädagogen wird mit zum Teil leichtsinnigen Späßen begegnet. Während Binder intellektuell aufsteigt, schreitet sozial ein fortwährender Abstieg voran. Neben mehreren Umzügen leidet die Familie unter dem Versorgungsmangel. Essen dient in Zeiten von Enteignung und Einkommensengpässen nur dem Überleben. Obendrein herrscht ein bürokratisches Chaos.

An Binders Schulabschluss schließt sich die Ausbildung zum Elektriker an, die er mit den anderen „Deutschen da hinten“ bestreitet. Zunehmenden Demütigungen durch den Lehrmeister werden kleine Rebellionen entgegengesetzt, die den Unmut unter den jungen Sachsen zum Ausdruck bringen. Der schöne Schein des aufkommenden Sozialismus verwandelt sich in Skepsis, die Wahrheit fördert erkennbare Nachteile für weite Teile der Bevölkerung zu Tage. Die Partei durchlöchert Öffentlichkeit und Privatsphäre. Vertrauen ist ein seltenes Gut, zu groß ist die Angst, ins Netz regimetreuer Genossen zu gelangen. Binders Weg ins Arbeitsleben wird zum Sprung in die Selbstständigkeit. Die Familie muss er hinter sich lassen, als er in der rumänischen Provinz eine Anstellung bekommt. Immer wieder gerät er dabei mit seinen Vorgesetzten aneinander und durchlebt Versuche, die „Abtrünnigen“ in parteigerechte Bahnen zu lenken. Neben der Indoktrination der Lehre der Urkommunisten bietet die „unerschöpfliche Rote Wundertüte“ Säuberungsaktionen, um den Wandel zu „guten sozialistischen Bürgern“ voranzutreiben. Korruption erscheint unvermeidlich. Zum Schutz vor Bestrafung durch die politische Führung bleibt Menschen wie Kurt Binder in einigen Fällen nur die Unterordnung. Nichtsdestotrotz hat er den Mut zur Gegenwehr. Während seiner Militärdienstzeit kommen die Schwierigkeiten hinter der Fassade einer vermeintlichen sozialistischen Hochkonjunktur zum Vorschein. Arbeiter werden selten klassifiziert, so dass Kurt Binder mit nur einer Ausbildung als Elektriker, Schlosser, Fräser, Zeichner und Modellierer arbeitet. Nach dem Beginn der Ära Ceaușescu durchlebt er ein letztes Mal den beschwerlichen Bildungsweg für Siebenbürger Sachsen im sozialistischen Rumänien. Mit Verspätung holt Binder sein Abitur nach und beginnt ein Studium zum Lehrer für Physik und Chemie. Später wird sich ihm jedoch keine Möglichkeit bieten, diesem Beruf nachzugehen. Privat hat Kurt Binder sein Glück schon lange gefunden, als er, seine Frau und vier Töchter zurücklassend, am 23. August 1973 in die Bundesrepublik Deutschland ausreist.

Es ist dies eine Geschichte von persönlicher und gesellschaftlicher Veränderung. Freunde werden zu Gegnern, Feinde entpuppen sich als angenehme Zeitgenossen inmitten von deutsch-rumänisch-ungarischen Beziehungen. Es ist sowohl eine Autobiographie, die es erlaubt, tief in die Gedanken- und Gefühlswelt der Person Kurt Binder einzutauchen, als auch die Beschreibung der Entwicklung Rumäniens im Sozialismus. Persönlich bedeutsame Ereignisse werden durch das Festhalten politischer Verlaufsprozesse ergänzt, was dazu beiträgt, dass auch nicht historisch versierte Leser die Handlungen nachvollziehen können. Daneben versteht es Binder, sowohl musiktheoretische und physikalische als auch Geschichts-, Geografie- und Kochkenntnisse zu vermitteln. Präzise Beschreibungen seiner Tätigkeiten bringen eine positive Wirkung mit sich: Wo bekommt man sonst schon Anleitungen zur Fertigung von Schultaschen, Sandalen, Gesellschaftsspielen, Puppen und dem Aufbau einer Hochspannungsleitung, zusammengefasst in einem Buch?

Durch themenbezogene Erläuterungen und das Aufgreifen vorausgegangener Entwicklungen sind die einzelnen Abschnitte in sich schlüssig. Sowohl aus der familiären als auch aus der autonomen Perspektive Binders ergeben sich überraschende Wendungen, die ein hohes Maß an Spannung im Verlauf des Buches aufrecht erhalten. Sarkasmus und Sprichwort-Kombinationen dienen dem Autor als rhetorische Mittel, die durch Gedicht- und Liedgut ergänzt werden. Die genaue Beschreibung der Familienhistorie und jeweiliger Handlungsorte werden besonders jene interessieren, die einmal vor Ort gelebt haben oder mit den beteiligten Personen in Kontakt standen. Die große Vielfalt des autobiographischen Romans lässt die Gegebenheiten farbenfroh erscheinen. Kurt Binder sieht rot, aber seine Umwelt ist bunt. Während der wirtschaftliche Fortschritt systembedingt stagniert, lernt Binder von Tag zu Tag Neues dazu. Erkenntnisse und Ereignisse, Erfahrungen auch abseits der Roten Wolken. Alles in allem eine bewegende, authentisch vermittelte Lebensgeschichte.

Lea Knopf

Kurt H. Binder: „Unter Roten Wolken. Autobiographischer Roman. Episoden eines Siebenbürgers im sozialistischen Rumänien“, Selbstverlag Kurt H. Binder, Herrenberg 2011, 680 Seiten, ISBN: 978-3-00-016949-6, zu bestellen zum Preis von 23,00 Euro (zzgl. 1,80 Euro Versandkosten) bei Kurt H. Binder, Burgstraße 13, 71083 ­Herrenberg, Telefon: (07032) 71148, E-Mail: kurt-erika-binder [ät] t-online.de.
Unter Roten Wolken !
Kurt H. Binder
Unter Roten Wolken !

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Schlagwörter: Buch, Rezension, Kommunismus

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