24. Januar 2020

Pionier der Sonderpädagogik und ideologiekritischer Historiker: Nachruf auf Andreas Möckel

Dr. Andreas Möckel, eine Pioniergestalt der Sonderpädagogik in Deutschland und ideologiekritischer Historiker des Nationalsozialismus in Siebenbürgen, ist am 11. Dezember 2019 im Alter von 92 Jahren in Würzburg gestorben. Dr. Ulrich A. Wien, Vorsitzender des Arbeitskreises für Siebenbürgischen Landeskunde, würdigt ihn im Folgenden als prägende geistige Persönlichkeit mit einem wachen politischen, christlichen Gewissen, die sich durch eine breite Bildung, anhaltenden Forschungsdrang und Weltoffenheit auszeichnete.
Am 30. Januar 1927 wurde Andreas Möckel in Großpold in Siebenbürgen geboren. Er war der dritte Sohn des Ehepaars Dr. Konrad und Dr. Dora Möckel (geb. Schullerus) und Enkel des Polyhistors und Hermannstädter Stadtpfarrers und Bischofsvikars Dr. Adolf Schullerus (1864-1928). Er wuchs in der Pfarrfamilie und zunächst im dörflichen Kontext auf. Er erlebte prägende Jahre ab 1933 in Kronstadt, wohin sein Vater zum Stadtpfarrer berufen worden war – als Nachfolger des zum Bischof gewählten Dr. Viktor Glondys (1882-1949). Diese Zeit und ihre politischen und sozialen Herausforderungen, zu denen er auch (aufgrund des Geburtsjahrganges nur eingeschränkt) als Zeitzeuge Auskunft gab, gehörten – je älter er wurde – zu den immer stärker reflektierten und selbstkritisch durchdrungenen Erfahrungen und Lebenskontexten, zu deren Aufklärung er mit wachem Selbstbewusstsein und unbestechlicher, messerscharfer Analyse auf der Basis einer biblisch-christlichen Anthropologie und einem theologisch fundierten Christsein nachhaltige Impulse setzen und beitragen wollte. Bis zuletzt hat er selbstbewusst und eigenständig sein Leben gestaltet und noch die Summe seines Denkens und Lebenswerkes zu Beginn des vorigen Jahres in einer eindrücklichen Publikation „Das Paradigma der Heilpädagogik“ (Würzburg 2019) niedergelegt.
Pionier der Sonderpädagogik in Deutschland: Dr. ...
Pionier der Sonderpädagogik in Deutschland: Dr. Andreas Möckel (2014). Foto: Konrad Klein
Noch vor seinem 18. Geburtstag wurde er im Januar 1945 zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert, krankheitshalber im Februar 1947 in die Sowjetische Besatzungszone entlassen und fand familiäre Aufnahme im Haushalt des mit den Eltern befreundeten Pfarrers Herbert Krimm. Dieser gründete das Diakoniewissenschaftliche Institut der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg.

Andreas Möckel besuchte bis 1949 die Evangelisch-Kirchliche Heimschule in Michelbach an der Bilz. Am Pädagogischen Institut in Stuttgart wurde er zum Volksschullehrer ausgebildet und unterrichtete zwei Schuljahre an Volksschulen. Von 1953-1958 studierte er Pädagogik, Philosophie und Geschichte in Tübingen, Westberlin und München. Nach verschiedenen Zwischenstationen (1961 über das Thema „Schulpolitik und Einheitsschule Gedanke im Deutschen Lehrerverein 1900-1920“ promoviert, an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen, wo er seit 1969 eine Professur bekleidete,) wurde er 1976 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Sonderpädagogik (Lernbehindertenpädagogik) der Universität Würzburg berufen und hat dort Pionierarbeit geleistet und das akademische Renomee des Faches begründet. Bereits 1969-1973 war er Mitglied im Deutschen Bildungsrat/Ausschuss Sonderpädagogik. Auch nach seiner Emeritierung 1992 blieb er bis zu seinem Tode wissenschaftlich aktiv. Seine einschlägigen Forschungen, Veröffentlichungen und besonders die eindrücklichen Lehrveranstaltungen haben zur Etablierung des Faches beigetragen sowie ihm einen ausgezeichneten Ruf in Fachkreisen eingetragen. Mit seinem großen Geist, seiner analytischen Kraft und sprachlichen Sensibilität gehört er zu den Pioniergestalten der Sonderpädagogik in Deutschland. Mit seiner gewinnenden Warmherzigkeit, intellektuellen Redlichkeit, aber auch verlässlichen Beständigkeit war er vielen ein Vorbild. Schwerpunktmäßig behandelten seine Veröffentlichungen die Geschichte der Heilpädagogik, Grundfragen der Erziehung behinderter Kinder und theoretische und praktische Hilfen zum Lesenlernen unter erschwerten Bedingungen.
Eigene Verflochtenheit als Zeitzeugen der NS-Zeit ...
Eigene Verflochtenheit als Zeitzeugen der NS-Zeit selbstkritisch analysiert: Paul Philippi (links) mit Andreas Möckel beim Internationalen Workshop zur Geschichte des Nationalsozialismus in Siebenbürgen/Rumänien im November 2016 in Annweiler. Foto: Ulrich Wien
Mit Anneliese Fröhlich ging er den Bund für das Leben ein, sechzig Jahre waren sie glücklich verheiratet. Ihnen wurden drei Töchter geschenkt.

Vielfältig hat er sich ehrenamtlich engagiert und Ideen für eine vitale Entwicklung der von ihm oft mitbegründeten Vereine geliefert. Er engagierte sich im Hilfskomitee der Siebenbürger Sachsen und evangelischen Banater Schwaben, im Evangelischen Freundeskreis Siebenbürgen, im Johannes Honterus-Verein, der Evangelischen Akademie Siebenbürgen (Neppendorf). Aber auch für reformpädagogische Ansätze setzte er sich ein, ebenso für die Rezeption von Eugen Rosenstock-Huessy – unter anderem von 1986-1994 als Präsident der Eugen-Rosenstock-Huessy-Gesellschaft – und förderte die Gedenkstätte Kreisau (poln. Krzyżowa), unter anderem als Mitglied des Vorstands des Stiftungsrates der „Stiftung Kreisau für europäische Verständigung“.

Neben seiner akademischen Karriere begründete Andreas Möckel mit den Gesinnungsgenossen aus dem „Arbeitskreis junger Siebenbürger Sachsen“ 1962 den „Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde“. Diesem stellte er sich als akademischer Historiker auch als zweiter Vorsitzender bis 1972 zur Verfügung und leitete lange Jahre die Sektion Zeitgeschichte. Bis zum Schluss hat er solidarisch dem Arbeitskreis mit seinem Rat, seinem beharrlichen Erkenntnisstreben, kontinuierlicher finanzieller Unterstützung und wichtigen publizierten Beiträgen zur Seite gestanden. Hervorzuheben sind sein Vorwort von 1983 zum Reprint der großen Sachsengeschichte (Georg Daniel Teutsch, Friedrich Teutsch), aber auch die ideologiekritischen Beiträge über „Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein bei den Siebenbürger Sachsen“ (Archiv 7), „Kleinsächsisch oder Alldeutsch?“ (Archiv 28) bzw. über „Kirchenschulen und Entkirchlichung“ (Archiv 32), schließlich auch zu Georg Kenstler. Über Bischof Dr. Georg Daniel Teutsch hielt er fest, dass diesem ungewollt auch ethnische Führungsaufgaben zugefallen waren, die zwar seine Popularität steigerten, „allerdings auch geeignet waren, den Blick für sein eigentliches Amt zu verstellen“ (IX). Zur Geschichtsschreibung Friedrich Teutschs meinte er: Sie „erleichterte ein nationales Missverstehen der Kirche, auch wenn Teutsch selbst ihm nicht erlegen war“ (XV).
Dr. Andreas Möckel im Wohnzimmer seines ...
Dr. Andreas Möckel im Wohnzimmer seines Würzburger Hauses (2014). Im Hintergrund ein Stillleben seiner geliebten „Trudchen“-Tante Trude Schullerus von 1971. Zusammen mit seinem Bruder Gerhard Möckel brachte Andreas Möckel 2005 einen aufwendig gestalteten Bildband über die Malerin heraus. Foto: Konrad Klein
Mit zunehmendem Alter sah er sich noch stärker als früher herausgefordert, die für die eigene Biografie einschneidende Phase des Nationalsozialismus in Siebenbürgen und Rumänien ideologiekritisch zu analysieren und den nachfolgenden Generationen zu erläutern. Dies geschah zunächst in der umfangreichen Biografie über seinen Vater, Dr. Konrad Möckel. In der Diskussion mit mir über den von ihm zunächst gewählten, historiographisch ungebräuchlichen Titel „Volkskirchenkampf“ ließ er sich aber doch rasch von der anderen Variante überzeugen, ihn in „Umkämpfte Volkskirche“ zu ändern. Mit dieser Monographie hat er einen wesentlichen Schlüssel zu Erläuterung der damaligen geistigen und politischen Auseinandersetzungen vorgelegt. Er war ein sprachsensibler Historiker, der aber auch selbstkritisch die eigene Verflochtenheit als Schüler in den Zeitgeist zu thematisieren verstand. So hat er immer wieder darauf bestanden, dass der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde diesbezügliche zeitgeschichtliche Forschung vorantrieb und zu entsprechenden Tagungen und Publikationen schritt. Auch wenn es äußerste psychische Anstrengung erforderlich machte, war er auch selbst bereit, als Zeitzeuge Auskunft zu geben. Und dabei trat ihm durchaus belastend vor die Seele, in welch intensiver Weise er und seine Jugendgenossen der Nazi-Propaganda nicht nur ausgesetzt gewesen, sondern auch gefolgt waren. Und er hat über diese Verführung als Jugendlicher seine eigene „Scham“ ausgedrückt. Nicht nur sein letzter, noch unveröffentlichter Zeitzeugen-Beitrag hat dies eindrücklich festgehalten. Im Gespräch im vergangenen Mai über seine für die Enkel gedachten Erinnerungen formulierte er selbst in der ihm eigenen Direktheit ein holzschnittartiges Resümee möglicherweise undifferenzierte Wahrnehmung: „Opa war ein Nazi“. Diese vereinfacht zugespitze, verzerrende Formulierung drückte pointiert seine selbstkritische Haltung aus, entsprach aber nie seinem christlich-humanistischen Wesen. Gerade aus dieser Erfahrung der – durchaus auch distanzierten – Verführbarkeit und der daraus resultierenden irritierten Nachfrage, warum im Elternhaus doch auch Vorsicht und Zurückhaltung geherrscht hatten und wie dies zu erklären wäre, folgte seine in vielfältigen Lebenskontexten immer den Menschen aktiv zugewandte, für die Benachteiligten, die Marginalisierten und Hilfebedürftigen engagierte Zuwendung, uneingeschränkte Empathie und auch sein politisches Engagement. Wer, wenn nicht er, hätte den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis verdient gehabt!
Dr. Andreas Möckel mit seiner Frau Anneliese geb. ...
Dr. Andreas Möckel mit seiner Frau Anneliese geb. Fröhlich (gest. 2019) beim Betrachten alter Familienfotos (2014). Foto: Konrad Klein
Der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde, sein Vorstand und seine Mitglieder behalten Professor Dr. Andreas Möckel in bester Erinnerung, danken ihm für seine wissenschaftliche Dignität, seine selbst- und ideologiekritische, menschenfreundliche und humorvolle Begleitung und werden sein Andenken stets in hohen Ehren halten. Den Angehörigen sprechen wir unser tief gefühltes Beileid und unsere herzliche Anteilnahme aus.

Dr. Ulrich A. Wien

Schlagwörter: Wissenschaft, Kultur, Historiker, Pädagoge, Nationalsozialismus, Kronstadt, Großpold, Würzburg

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  • 24.01.2020, 09:28 Uhr von Äschilos: "Integrität" wäre treffender als "Dignität" [weiter]

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