28. März 2018

Herausragender Forscher der siebenbürgisch-deutschen Literatur: Interview mit Stefan Sienerth

Den Vergleich mit einem Sportler scheut er. Doch Dr. Stefan Sienerth hat etwas von der Beharrlichkeit eines Langstreckenläufers. Seit Jahrzehnten erforscht der Germanist, ehemalige Hochschullehrer und Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) die deutschen Regionalliteraturen Ostmittel- und Südosteuropas, veröffentlicht Beiträge zur siebenbürgisch-sächsischen Mundartlexikografie und widmet sich der Aufklärung der Securitate-Vergangenheit. Mit Herz und scharfem Verstand hat er ein beeindruckendes und vielseitiges Werk geschaffen, das er auch als Rentner unermüdlich fortsetzt. So entwickelt sich das folgende Interview, das Siegbert Bruss mit ihm führte, zu einem Arbeitsgespräch. Am 28. März begeht Stefan Sienerth seinen 70. Geburtstag, zu dem unsere Redaktion ihm herzlich gratuliert.
Dein langjähriger Freund und Wegbegleiter Peter Motzan nannte dich schon vor zehn Jahren den „produktivsten siebenbürgisch-deutschen Literaturwissenschaftler der Nachkriegszeit“. Die beeindruckende Zahl deiner Veröffentlichungen bestätigt diese Einschätzung. Warum und wieso bist du auch als Rentner so aktiv geblieben?

Nun, ob ich tatsächlich bereits 2008 oder jetzt immer noch der „fruchtbarste“ siebenbürgisch-deutsche Literaturhistoriker bin, sei mal dahingestellt. In unserem Tätigkeitsbereich geht es – im Unterschied zum Sport – nicht darum, der Erste, Beste oder Erfolgreichste zu sein, sondern qualitativ hochstehende und gehaltvolle Texte zu produzieren, die auf eingehenden Recherchen basieren und von großem Erkenntnis-, Informations- und Neuigkeitswert sind. Seit dem Ende meiner regulären Dienstzeit vor knapp fünf Jahren konnte ich, neben mehreren, verstreut erschienenen Studien und Aufsätzen, fünf Bücher zum Teil im Alleingang, zum Teil in Zusammenarbeit redigieren und herausgeben, an denen ich bereits in meiner aktiven Berufszeit zu arbeiten begonnen hatte. Es spielt für mich dabei kaum eine Rolle, dass ich dies nicht mehr im Rahmen meiner Dienstpflicht tue. Während meines gesamten Berufslebens habe ich mich infolge einer mehrfachen Belastung als Forscher und Hochschullehrer – und in den letzten acht Arbeitsjahren auch als Institutsdirektor – eher in meiner Freizeit und an Wochenenden diesem Teil meiner Tätigkeit ungestörter widmen können, und kann dies nun umso mehr. Mich wissenschaftlich mit südosteuropäischen, vor allem siebenbürgisch-deutschen Themen zu befassen, war und ist mir auch jetzt als Rentner, wenn ich das ein wenig hochtrabend formulieren darf, immer auch eine Herzensangelegenheit. Sollte mein Gesundheitszustand auch weiterhin halbwegs stabil bleiben, hoffe ich zumindest noch eine Weile mit von der Partie zu sein.
Dr. Stefan Sienerth (Mitte) nach einer Lesung mit ...
Dr. Stefan Sienerth (Mitte) nach einer Lesung mit dem Ehepaar Julia und Franz Hodjak auf dem Heimattag in Dinkelsbühl 2013. Foto: Konrad Klein
Schon in deiner Diplomarbeit (1971), danach in deiner Promotion (1979) und vor allem als Hochschullehrer an der Universität in Hermannstadt (1974-1986) hast du dich intensiv mit der Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Rumänien befasst. Weshalb hast du dich diesem Forschungsgegenstand gewidmet?

Während meiner Studienzeit (1966-1971), die ich in den vergleichsweise liberalen Jahren nach Ceaușescus Machtantritt in Klausenburg verbringen und mit Peter Motzan und Franz Hodjak eine langjährige Freundschaft schließen durfte, die immer noch hält und mich beruflich sehr geprägt hat, fühlte ich mich wie fast alle meine Kommilitonen zunächst vorwiegend zu den herausragenden Gestalten der deutschsprachigen Literatur, zum sogenannten Kanon, hingezogen. Ich las mich kreuz und quer durch die deutsche, die rumänische und die Geschichte der Weltliteratur, die damals – was wir sehr gut fanden – als Lehr- und Pflichtfach an den philologischen Fakultäten Rumäniens angeboten und geprüft wurde. Doch meinen Wunsch, über einen der großen deutschen Autoren meine Diplomarbeit zu schreiben, konnte ich nicht verwirklichen, dafür waren die rumänischen Bibliotheken nicht genügend ausgestattet und ins Ausland zu Dokumentationszwecken zu reisen, wurde unsereins nicht genehmigt, die Welt außerhalb Rumäniens habe ich erst nach meinem 40. Lebensjahr kennenlernen dürfen. Und so ist meine ­Hinwendung zur siebenbürgisch-deutschen Literatur aus dieser Notsituation und aus pragmatischen Erwägungen geboren.
Intensivieren konnte ich meine Auseinandersetzung mit diesem Forschungsgegenstand, vor allem nachdem ich an der Universität in Hermannstadt die Vorlesung und das ­Seminar zur Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Rumänien übernommen hatte und das Fach rund ein Jahrzehnt in seiner ganzen Breite vertrat. Auf diese Weise sind u.a. vier Anthologien siebenbürgisch-deutscher Lyrik zustande gekommen und von meiner auf mehrere Bände veranschlagten Literaturgeschichte immerhin drei Buchveröffentlichungen entstanden, die die Zeit von den Anfängen dieser Literatur bis zum Ende des 18. Jahrhunderts umfassen. Sie alle sind im Klausenburger Dacia Verlag erschienen, wo der Schriftsteller, Verlagslektor und Freund Franz Hodjak das Erscheinen deutscher Bücher verantwortete und es ausgezeichnet verstand, die Bestimmungen der Zensur trickreich zu umgehen. Die Beschäftigung mit dieser Literatur in jenen Jahren, als sich die ­Lebensverhältnisse in Rumänien dramatisch verschlechterten, die nationalkommunistische Ideologie in schwülstiger Rhetorik die geschichtliche Auflösung der Minderheiten voraussagte und sich das Ende unserer historischen Existenz in Siebenbürgen immer deutlicher abzuzeichnen begann, bedeutete mir sehr viel. Zugute kam mir auch, dass ich in Hermannstadt den Schriftsteller und Literaturhistoriker Joachim Wittstock kennenlernen durfte, dessen wissenschaftliche Interessen ähnlich wie meine gelagert waren und sind. Mit ihm verbindet mich ebenfalls eine lange Freundschaft, von ihm habe ich anfänglich viel gelernt, später haben wir zusammen, sowohl in Bukarest bei Kriterion als auch im Münchner IKGS Verlag, mehrere Bücher herausgegeben und redigiert.

Nach Auflösung der Fremdsprachenabteilung an der Hermannstädter Universität im Jahre 1986 hast du am Hermannstädter Forschungsinstitut der Rumänischen Akademie bis zu deiner Ausreise (Sommer 1990) für das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch gearbeitet. Dem Mundartlexikon bist du aber auch als Angestellter des IKGS und später als Rentner treu geblieben. Worauf lässt sich deine langjährige Beziehung zu diesem bedeutenden Projekt der Sprachwissenschaft zurückführen?

Nachdem die Fremdsprachenfakultät des Hermannstädter Hochschulinstituts in den düstersten Jahren der Ceaușescu-Diktatur aufgelöst worden war und es keine vakanten Stellen in meinem Fachgebiet gab, musste ich mich beruflich neu orientieren. Da Anneliese Thudt, die verdienstvolle, vor kurzem verstorbene Lexikografin, in Rente gegangen war, wechselte ich zur Hermannstädter Zweigstelle der Rumänischen Akademie und war über vier Jahre im sogenannten „Kollektiv“ des Siebenbürgisch-Sächsischen Wörterbuches tätig. Neben der Ausarbeitung einzelner Lemmata im Rahmen der Buchstaben P, Q und R, die damals anstanden, habe ich mich in jenen Jahren auch mit der Geschichte dieses Wörterbuches befasst und Beiträge über Andreas Scheiner, Gustav Kisch, Adolf Schullerus, Friedrich Krauss, später auch über Bernhard Capesius, Karl Kurt Klein und Fritz Holzträger verfasst. Im Nachhinein bin ich froh darüber, dass ich eine Zeitlang an diesem „größten Desiderat“ der siebenbürgisch-deutschen Sprachwissenschaft (Adolf Schullerus) bescheiden mitwirken konnte. Auch freue ich mich, dass wir vom IKGS aus die Drucklegung weiterer Bände unterstützen konnten und ich die Kontakte zu meiner fleißigen und zuverlässigen Ex-Kollegin Sigrid Haldenwang, der Leiterin der Wörterbuchstelle in Hermannstadt, nicht habe abreißen lassen. Ich beliefere sie auch zurzeit gelegentlich mit Mundartbelegen und unterstütze sie gern beim Endlektorat. Vielleicht gelingt es ihr, dieses bedeutende Nachschlagewerk, das das mundartliche Sprachgut der „sächsischen Gemeinschaft“ in ihren eigentümlichsten Lebensformen und -äußerungen dokumentiert, zu Ende zu führen. Dann ginge der Wunsch von Adolf Schullerus, dem maßgeblichsten und einflussreichsten Anreger und Bearbeiter dieses Großprojekts, in Erfüllung: mit dem Sprachlexikon ein Buch für die „Ewigkeit“ vorzulegen, eine Art „memoria“ oder „Gedächtnis“ dieser Menschengruppe, womit künftige Generationen, selbst wenn es die Siebenbürger Sachsen einmal nicht mehr geben sollte, über deren historische Existenz anschaulich, detailgetreu und unverfälscht informiert werden könnten.
Dr. Stefan Sienerth bei einem Vortrag über den ...
Dr. Stefan Sienerth bei einem Vortrag über den Dichter Georg Hoprich auf dem Heimattag in Dinkelsbühl 2011. Foto: Konrad Klein
Von 1991 bis 2013 hast du am Südostdeutschen Kulturwerk, dem heutigen Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) gearbeitet. Wie hast du das Institut vorgefunden und wie wurde es – dank der Zusammenarbeit mit Vorstandsmitgliedern und Kollegen wie Anton Schwob, Hans Bergel, Peter Motzan, Eduard Schneider u.v.a. – über die Jahre ausgebaut?

Nach dem Sturz der kommunistischen Diktatur in Rumänien kam ich Anfang September 1990 mit meiner Familie, ein paar Habseligkeiten, paar Büchern und einer Menge von Zetteln und Exzerpten, mit zwei ausgearbeiteten Anthologien, die in Rumänien nicht mehr erscheinen konnten, weil das Verlagswesen zusammengebrochen war, illusionslos, was meine beruflichen Perspektiven betraf, doch guten Mutes in die Bundesrepublik Deutschland. Nach etwa einem Jahr konnte ich beim Südostdeutschen Kulturwerk als Projekt- bzw. ab Frühjahr 1992 als fest angestellter Wissenschaftlicher Mitarbeiter einsteigen. Ich habe in diesem Institut bis zum 31. Mai 2013, als meine reguläre Dienstzeit zu Ende ging, fast 22 Jahre lang ununterbrochen arbeiten können. Was in dieser Zeit geleistet worden ist, ist das Gemeinschaftswerk vieler Mitarbeiter, Vorstands- und Kuratoriums- und anderen Gremiumsmitglieder. Das Institut hat sich von seinen bescheidenen Anfängen vor der politischen Wende 1989/90 im Laufe der beiden Jahrzehnte, als ich mitwirken durfte, zu einer profilierten und international anerkannten wissenschaftlichen Institution entwickelt. Dazu haben vor allem sein Verlag, in dem sechs bis acht Bücher pro Jahr erschienen sind sowie die Südostdeutschen Vierteljahresblätter/Spiegelungen, aber auch seine zahlreichen Tagungen, von denen einige wie jene zum Themenkreis „Rumäniendeutsche Autoren im Sichtfeld der Securitate“ auch in den überregionalen Medien erhöhte Aufmerksamkeit erfuhren, beigetragen. Die universitäre Lehre der Wissenschaftlichen Mitarbeiter sowohl an der Münchner Universität als auch an rumänischen und ungarischen Hochschuleinrichtungen, die zahlreichen Autorenlesungen, Ausstellungen und sonstigen Veranstaltungen, und nicht zuletzt die beiden vom IKGS über jeweils fünf Jahre lang betreuten und begleiteten Stiftungsprofessuren der Bundesrepublik Deutschland an den Universitäten Klausenburg und Fünfkirchen haben den Bekanntheitsgrad des Instituts wesentlich erhöht. Die Bibliothek des Instituts, deren Bestände in diesen Jahren erheblich angewachsen sind, und vor allem das Archiv, in dem zahlreiche Nach- und Vorlässe südostdeutscher Autoren sowie eine große Materialienmenge an Kopien aus den von der Securitate seinerzeit angelegten, heute vom CNSAS, der rumänischen Gauck-Behörde, in Bukarest betreuten Akten Aufnahme fanden, trugen dazu bei, dass das IKGS als Informations- und Dokumentationsstelle von vielen Studenten, Stipendiaten und Doktoranden aus dem In- und Ausland besucht wurde. Ein weit verzweigtes Netzwerk wurde zu Germanisten, Kulturhistorikern, Historikern, Schriftstellern und Journalisten aufgebaut. Die Mitarbeiter leisteten dabei eine vielseitige und beeindruckende wissenschaftliche Arbeit, die das Herzstück der Institutstätigkeit ausmachte.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Daten zu Stefan Sienerth

Stefan Sienerth wurde am 28. März 1948 in Durles geboren, das Gymnasium besuchte er in Mediasch. Nach dem Studium der Germanistik und Rumänistik an der Universität Klausenburg (1966-1971) war er Hochschullehrer am Pädagogischen Institut in Neumarkt (1971-1974) und an der Universität Hermannstadt (1974-1986) sowie – bis zu seiner Ausreise nach Deutschland (1990) – Forscher im Bereich der Dialektologie am Sozialwissenschaftlichen Institut der Rumänischen Akademie in Hermannstadt. Er promovierte 1979 an der Universität Bukarest zum Dr. phil. Von 1991 bis 2013 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Südostdeutschen Kulturwerks (ab 2001 Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas) und in seinen letzten acht Arbeitsjahren auch dessen Direktor. Ab dem Jahre 2001 nahm er regelmäßig Lehraufträge im Bereich der Germanistik und Rumänistik an den Universitäten München und Bukarest wahr. Sienerth ist seit 2002 Professor honoris causa der Universität Bukarest. Er erhielt 2011 (zusammen mit Peter Motzan) den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis und war von 2012 bis 2016 Vorsitzender des Kulturpreisgerichts, das jährlich diesen Preis vergibt. Er lebt im oberbayerischen Pfaffenhofen an der Ilm. Sie­nerth hat zahlreiche Beiträge zur Geschichte der deutschen Regionalliteraturen Ostmittel- und Südosteuropas sowie zur siebenbürgisch-sächsischen Mundartlexikografie verfasst. Er ist Autor von Monografien, Studien, Lexikonartikeln wie von Vor- und Nachworten, Koautor von Wörterbüchern und literaturgeschichtlichen Werken sowie Herausgeber bzw. Mitherausgeber mehrerer Sammelbände, Autoreneditionen und Anthologien siebenbürgisch-deutscher Literatur.

Schlagwörter: Kultur, Sienerth, Literaturgeschichte, Literaturwissenschaftler, Mundart, Germanistik

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